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Leonie: die Reise ans Meer
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eBook292 Seiten3 Stunden

Leonie: die Reise ans Meer

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Über dieses E-Book

Eine Reise als Weg aus der Sprachlosigkeit. Eine Reise auch in die Vergangenheit, um das Jetzt zu begreifen für eine gute Zukunft.
Eine gute, sichere, unbeschwerte Zukunft nicht zuletzt für Leonie.
Hans verbringt mit seiner siebenjährigen Tochter einen Urlaub in Holland am Meer. Nur alle vierzehn Tage übers Wochenende sieht er Leonie im Regelfall, sie, die doch so sehr sein Leben füllt. Hans ist geschieden. Dem Kind ein guter Vater sein, ihm ein sicheres Fundament bieten, trotz allem.
Driften mit dem Zug der Wolken, Eintauchen in das sanfte Fließen der Wellen, Schweben im wogenden Gras.
Hans ist der elfjährige Junge, mit den Eltern und Schwester Andrea lebend am Rand einer Kleinstadtsiedlung im Westfälischen.
In einem warmen Sommer der Entscheidungen. Angefüllt die Ferientage mit Fug und Unfug, mit Zuneigung zu Natur und Kreatur. Dabei ein guter Beobachter, besorgt, ängstlich, zerrissen. Zu greifen die wachsende Entfremdung zwischen Mutter und Vater. Sprachlosigkeit und Leid füllen alle Räume, fluten sie.
Der unsichtbare, schwer greifbare Zwang der Wiederholung, wo man doch alles anders machen will.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Nov. 2018
ISBN9783937507781
Leonie: die Reise ans Meer
Autor

Hendrik de Boer

Hendrik de Boer (1958-2012) ist geboren und aufgewachsen in Gronau, Westfalen. Studium der Architektur in Münster. Zuletzt wohnhaft in Düsseldorf. Schriftstellerisch tätig mit Romanen, Kurzgeschichten, Kinderbüchern. Im Heiner Labonde Verlag ist bereits erschienen der Roman »Norden«.

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    Buchvorschau

    Leonie - Hendrik de Boer

    Kapitel

    1. Kapitel

    Licht. Eine Scherbe Licht, die mich durch die Windschutzscheibe meines Wagens blendet. Aufprallende Insektenkörper, die das Glas sprenkeln, manchmal der streifende Schatten eines Astes, eine wehende Girlande, und dann wieder schnelles, grelles Licht. Auf der Rücksitzbank meine Tochter, Leonie, sieben Jahre alt. Ich sehe sie im Innen spiegel. Blonde, halblange Locken, hellblaue Augen, ein wenig Ungeduld im Blick, schon seit zwei Stunden sind wir unterwegs. Wenn sie früher losheulte, hörte es sich an wie ein stotternder Motor, der langsam auf Touren kam und dann auf ohrenbetäubende Lautstärke. Wenn ihr jetzt etwas nicht gefällt, ist eher Quengeln ihre Sache, aber das ist selten der Fall. Gerade kratzt sie sich am Ohr, stochert mit dem Finger in ihrer Nase herum, dass der Finger aussieht, als wäre seine Kuppe amputiert.

    Von draußen dringt der schüchterne Duft morgenfrischer Erde ins Auto, vermischt mit dem Geruch von Gras und durchsichtig schimmernden Ähren, über die die Sonne flutet. Die Welt ist jung, und du, Leonie, bist es auch. Lichtstrahlen zerteilen die Straße, streifen – aufgelöst in viele kleine Finger – durch das Fenster über dein Gesicht.

    Am Straßenrand wachsen kugelartige Büsche, die vorbeirollen, dann wieder Bäume, ab und zu das Wippen von Vogelschwänzen in den Zwei gen. Die Blätter flatternd, in einem Windzug silberfarben. Wir halten vor einer Ampel, ihr oberstes Auge ist rot, dahinter eine Baustelle. Ein kleiner Graben, der gerade kreuzt, über dem Wasser völlig durchsichtige Libellenflügel. Grünes Licht, und ich lasse den Wagen anrollen.

    Unsere Reise ans Meer, Leonie.

    Im Innenspiegel wieder dein Kindergesicht, gerade so groß, dass meine Handflächen es vollkommen umschließen können.

    »Ich hab Durst, Papa.«

    Auf dem Beifahrersitz der Proviantrucksack, den ich heute früh gepackt habe. Ich reiche ein Trinkpäckchen nach hinten, halte den Griff deiner schmalen Hand, den flüchtigen Hauch deines Atems in meinem Nacken.

    Das Licht des Morgens ist jetzt weniger weich, kein Glanz mehr, erloschen die Strahlenfächer, nur noch die Einfachheit der asphaltierten Geraden. Diese Straße bin ich auch mit deiner Mutter gefahren, Leonie, vor ein paar Jahren, als wir zu dritt reisten und noch eine Familie waren. Manch mal wird Erinnerung massiv wie ein Klumpen, legt sich auf den Herz schlag. Der nächste Blick durch das Seitenfenster wischt die Beklemmung fort ich fahre weiter, erleichtert über das Vorhandensein der Allee. Bäume. Bäume und ihre Formen und Maserungen, ihre Zähigkeit und Farbe. Oft, wenn ich sie sehe, denke ich an meinen Vater, deinen Großvater, Leonie. Er war Schreiner, hatte Sätze über ihr Holz parat, über ihre Widerstandskraft oder die Art und Weise, wie man es verarbeiten und einsetzen kann für den täglichen Gebrauch. Er hat das Land geliebt, auf dem er ging, im Sommer manchmal barfuss, mit Zehen dick wie Wurzeln, mehr als sechs Jahrzehnte, bis man ihn schließlich begrub. Sein Grab, ein Rechteck, eingepfercht zwischen zahllosen anderen Recht ecken. Die Geometrie menschlicher Endlichkeit. Er liegt neben meiner Mutter, deiner Großmutter, die vor über drei Jahrzehnten gestorben ist, an Herzversagen, noch keine fünfundvierzig Jahre alt. Immer noch dieselbe Allee. Immer noch dieses Gefühl von Verlust in mir, nach all der Zeit.

    Die Staatsgrenze naht, kein Schlagbaum mehr, keine Zollgebäude mit wachsamen Fenstern, keine glatt gebügelten Uniformen, so wie vor dem Schengen-Abkommen. Nur ein paar Blechschilder: Geschwindigkeitsbegrenzung.

    Ein Rascheln hinter mir im Auto. Leonie mit einem Buch, sie blättert. Im Innenspiegel manchmal ein Stirnrunzeln, ein kurzes Lachen. Die Zeit des Kindergartens hat sie hinter sich gebracht. Vor knapp einem Jahr ihre Einschulung, erste Schreibversuche, blaue Buchstaben wie winzige Flüsschen auf einer Landkarte, stolzes Hochheben des Schulheftes, sie fügte zusammen, was längst keinen Bestand mehr hatte: »Guck mal, Papa. Dies hier heißt: Papa und Mama.«

    Ich schaute auf das Heft. Na ja, fast. Ziemlich starke Mäanderung. Aber mit ein bisschen Großzügigkeit.

    Sie hob ihren Blick, wollte ein Lob hören, ich sagte: »Das sieht gut aus, Leonie. Wirklich. Weiter so.«

    Ich lächelte sie an, streichelte über ihre kleine Hand, die wer weiß was alles schon zerkrümelt hatte. Zerdrückt und zerquetscht. Kurz darauf, wie so oft, ihr Finger in der Nase.

    Jetzt schon das dritte Trinkpäckchen. Eine Perle Kakao, die an ihrem Mundwinkel klebt, eine zweite, eine dritte sickern nach. Ihr Mund wie ein kleines Leck. Sie hat meinen Blick bemerkt. Ihre hellblauen wachen Augen heften sich auf den Innenspiegel, beobachten mich.

    Ich sehe wieder auf die Straße. Die Landschaft flach, ganz fern Bäume, eine Art Begrenzung, wie Streichhölzer so hoch. Das plötzliche Gefühl von Leere, von Alleinsein auch. Was mir fehlt, wage ich nicht zu beschreiben. Eine Frau, die zu mir passt. Wer weiß von ihr? Der Anfang einer Vermisstenmeldung. Wer hat sie gesehen? Ich stelle mir vor, wie das sein würde: Eine Frau lieben, solange, bis ihre Stimme dunkel wird vor Lust, und ihre Worte zurückverfolgen, jedes einzelne, bis an den hell glänzenden Rand ihrer Lippen.

    Stattdessen morgens im Spiegel die Augen eines Einsiedlers. Lächeln probieren. Der Blick auf die Kacheln: Kalkflecken, Spritzer von Zahnpasta, die aussehen wie Tropfen. Gluckern und Plätschern in den Rohren, wenn in der Wohnung nebenan jemand duscht, dessen Name ich auch nach drei Jahren Nachbarschaft nicht kenne.

    »Ist was, Papa?«

    »Pass auf«, sage ich. »Der Kakao, gleich hast du ihn auf dem T-Shirt.« Es ist ein neues, rotes, mit zwei kleinen Katzenbabys drauf. Sie mag Katzen, Hunde noch viel lieber. Hamster auch und Meerschweinchen, Igel und Mäuse.

    »Ich will auch ein Haustier haben, Papa, bitte!«

    Setzte wieder ihr liebstes Lächeln auf, dem kaum zu widerstehen war.

    Doch es geht nicht, die Wohnung ist zu klein; ich versuchte es ihr erklären. Leonie zog die Nase hoch, schniefte. Aber sie weinte nicht, vielleicht, so hoffte ich, verstand sie es sogar.

    Der Kakao. Ihre rosafarbene Löschpapierzunge fängt die Tropfen unterhalb der Oberlippe ab, gerade noch rechtzeitig. Breites Grinsen. Ich grinse zurück, freue mich, sie sagt: »Du hast gelbe Zähne, Papa.«

    »Wie bitte?«

    »Deine Zähne, sie sind gelb.«

    »Nein, sind sie nicht.«

    »Doch!«

    Das Grinsen ist vollständig aus ihrem Gesicht gewichen. Sie sieht ernst aus, guckt mich an. Was, wenn sie recht hat? Ich muss mal nachschauen. Kümmere mich zu wenig um Details. Immer noch allein. Gerade deshalb vielleicht.

    Momente später meldet sich ihre Stimme erneut von der Rücksitzbank.

    Diesmal jedoch ist es kein Durst: »Ich muss Püpi, Papa.«

    Die Trinkpäckchen.

    Fünf oder zehn Sekunden später, dann erneut ihre Feststellung: »Ich muss Pipü, Papa.«

    Und als darauf noch immer kein Blinkergeräusch zu hören ist: »Pipi, Papa, ich muss Pipi.«

    Kurz vor dem nächsten Parkplatz, die schmale Zufahrt im Schatten dick taillierter Baumstämme, wahre Schiffsmasten, derweil Leonies ausgestreckter Zeigefinger in eine Richtung deutet: »Da, Papa, da!«

    Langsames Bremsen. Ausrollen. Schließlich halte ich den Wagen an.

    Meine Ehe. Vor knapp vier Jahren das Ende der Liebe. Im darauf folgenden Jahr, jener Tag im Mai, an dem ich auszog. Weg von dieser Frau mit den vor der Brust verriegelten Armen. Seitdem gab es viele Ankünfte und Abschiede. Das Einzige, so glaube ich manchmal, was wirklich Bestand hatte, waren die Ankünfte und Abschiede.

    Die Wochenenden mit Kinderlachen, Leonies Locken so weich, ihre wohltuende Wärme. Ich liebe ihre Art, die Dinge zu betasten, zu begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich liebe es, sie anzusehen, ihre Stimme liebe ich, ihre Lebendigkeit, die Art, wie sie mir ihre kurzen, schmalen Arme um meinen Nacken legt, sobald sie auf meinen Schoß gehopst ist. Ein Kind. Meines. Und wie der Wochenenden, Urlaube und Kofferpacken. Den Deckel drücken. Passte nicht. Noch mehr drücken, und dann ging es los, Richtung Meer, ihre Fröhlichkeit nahm das Zusammenspiel von Wasser und Land vorweg. So wie jetzt, in diesem Moment. Ihre blonden Locken von rechts nach links, in die Richtung, in die ihr Blick gerade gerichtet ist.

    Wir steigen aus dem Wagen, stehen hinter einer niedrigen Sand auf schüttung, spärlich bewachsen mit Grashalmen, einigen Kräutern, während Leonie besorgt die scheuen Halme mustert: »Sieht uns auch niemand?«

    Meine Arme und Hände bilden eine Öffnung, in die sie sich rücklings hineinrutschen lässt, derweil ihre Unterhose wie ein Band ihre Knie umspannt, eine aufmerksame Locke, die von rechts nach links pendelt: »Kommt auch keiner, Papa? Ich will nicht, dass mich einer sieht.«

    Ich halte Leonie in die Höhe, und während sie tut, was sie tun muss, denke ich flüchtig an eine Wolke, die fernab im letzten Sommer über der Insel Rhodos schwebte. Wir saßen am Rand des Swimmingpools, unsere Füße baumelten im Wasser. Ich sagte Leonie, ich müsse kurz auf die Toilette, käme gleich zurück, sie solle keinen Unsinn machen. Ich eilte los in meiner Badehose, kehrte, erfüllt von stetiger Unruhe, genauso eilig wieder zurück, während sie mir, die aufgedrehte Kindermusik des Kopfhörers auf den Locken, vom Rand des Pools aus lautstark fröhlich zurief: »Papa, bist du schon fertig mit Kacka?«

    Diese Leonie, die ich auf diesem Rastplatz in Holland, kaum verdeckt von dem kleinen Sandhügel, eingehüllt in aufbrausendem Krach und Lärm in die Höhe halte. Laster mit ihren Anhängern. Sattelschlepper, die uns ihren stinkenden Auspuffatem in den Rücken blasen. Sich schneller drehende Räder. Stangen, Kolben und Getriebe, die ineinander greifen.

    Die Ehe. Die Konsequenz aus dem Gesagten war die Trennung. Die Konsequenz aus dem Ungesagten war die Trennung. Beides vielleicht zur jeweils falschen Zeit. Ich hatte nie gelernt, das Schweigen, wenn es zu massiv wurde, mit Worten zu durchbrechen.

    Jener Tag im Mai, die Sonne hoch am Himmel, langsam ansteigende Temperaturen, der Winter besiegt, die Natur auf dem Sprung. Der Kasten wagen, den ich gemietet hatte, parkte vor der Haustür, die hinteren beiden Ladeklappen sperrangelweit offen, gestapelte Kartons und Kisten, Mobiliar, ein paar Elektrogeräte.

    »Ich möchte nicht, dass du anwesend bist, wenn ich ausziehe«, hatte ich zwei Tage vorher zu Leonies Mutter gesagt.

    »Doch, ich werde da sein«, hatte sie erwidert.

    Sie stand da, an einen Türrahmen gelehnt mit hängenden Armen, ihre Augen waren so grün wie das Efeu über einem Grab.

    Ich trug meine Kleidung die Stufen hinunter: Schuhe, Hosen, Jacken, Mäntel. Das Oberbett. Geschirr und einiges Besteck aus der Küche. Alles unter ihren unausgesetzten Blicken. Dann war der Wagen vollgeladen. Was würde hier zurückbleiben von mir, fragte ich mich, als ich die Hecktüren schloss. Und wusste keine Antwort. War auf dem Weg von einer vertrauten Welt in eine andere, mir unbekannte. Hatte Angst, irgendwo anzukommen, wo ich nicht hingehörte. Ein Kuss, eine Umarmung für Leonie. Ich fuhr. Und das Herz entzwei.

    Ein holländischer LKW rollt mit ansteigendem Motorengeräusch vorüber, dann noch einer, ein Stück größer und länger noch als der erste. Eine Frau, dunkle Strähnen auf der Stirn, sitzt am Lenkrad, kurbelt mit langen Armen.

    Später, in der neuen Wohnung, habe ich alles wieder ausgepackt: Hausrat, Socken, Schnürsenkel. Und geheult. Albinoaugen. Ich habe mich verkrochen, wollte mit niemandem sprechen, keine Auskünfte geben, die Blicke der neuen Nachbarn nicht ertragen müssen. Ich habe die Nächte allein verbracht. Bin aufgewacht in völliger Dunkelheit, das Gesicht nass, unfähig wieder einzuschlafen. Das Herz zerrissen von Sehnsucht, zittrige Hände, die Welt leer, wie ausgeräumt.

    »Fertig, Papa«, ruft Leonie.

    Mein Blick folgt ihrer Körperkontur, bis hin zur tiefsten Stelle, ihrem Po, unter dem es dunkel geworden ist, ein kleiner See mit einem Bächlein daran. Leonie, die auf ihre Füße springt, flink die Unterhose aus den Kniekehlen fischt, schon unterwegs ist zum Wagen, dem nächsten Trinkpäckchen entgegen, und kaum, dass ich selber eingestiegen bin, den Halm auspackt, die Packung auspackt, saugend fragt, die Worte gurgelnd, gluckernd, zum wiederholten Male fragt:

    »Wann sind wir endlich da, Papa? Das dauert ja schon den halben Tag, ich will endlich da sein, in unserem Haus am Meer.«

    Ich schaue auf mein Handgelenk, der Sekundenzeiger meiner Uhr stolpert in die Runde. »In etwas mehr als einer Stunde, schätze ich.«

    Untertreibe. Blicke sie an, will wissen, ob sie es gemerkt hat.

    Und Leonie, die den Halm aus dem Mund nimmt, ihre wasserblauen Augen in den Innenspiegel fließen lässt, den Halm wie einen Zeigestock auf mich richtet: »Was? Eine Stunde? Das war es doch gerade auch schon.«

    »Nein, das war es nicht, da war es mehr, viel mehr. Ganz sicher.«

    »Nein, stimmt nicht, Papa, das weißt du genau. Ich rechne nämlich mit.« Rechnet also mit, na ja. Kann ihr nichts vormachen, kein X für ein U.

    Wir fahren wieder auf die Autobahn, und keine zehn Minuten später folgt dem Durst der Hunger. Eine Raststätte weiter wieder Blinkergeräusche. Hinter dem Parkstreifen ein kleines Restaurant, auf dem Tresen ein winziger Kaugummiautomat, daneben einer für Erdnüsse, in der Küche eine brodelnde Friteuse. Leonie futtert Pommes, fettglänzende Finger, Mayonaise-Schnäuzer, das Tütenpapier mit einem Knick, über das die Kartoffelstäbchen lugen. Dann wieder ein großer Schluck Kakao, so dass ich schon um das Wohlbefinden ihres Magens fürchte. Dem das alles jedoch nichts ausmacht, auch nicht das Gerüttel der Autobahn, nicht das der Landstraße, nicht das der Gemeindestraße, und auch nicht das der kleinen Straße auf der Halbinsel schließlich.

    2. Kapitel

    Nördliches Zeeland, in der Nähe der Provinzgrenze zu Holland, wo sich das Land in viele kleine Buchten und Landzungen in die See zerfasert. Das Land springt vor, die See zurück und umgekehrt. In manche Buchten hat man Yachthäfen gebaut, meistens bestehen sie einfach nur aus Sand oder einer Wiese, die bis zum Wasser hinunter wächst, plötzlich stoppt, vor einer unruhigen buckeligen Reihe aus Steinen. Die einzelnen Provinzen vereinnahmen nicht nur das ihnen von den Schreibtischen aus zugedachte Stück Land, auch einen Teil der See und des Himmels darüber. Alles zusammen vermengt zu einer Weite, die noch viele Jahre später durch die Adern pulsen wird, nicht aufhören will zu locken. Grevelingenmeer.

    Auf meinen Knien liegt ausgebreitet die Wegbeschreibung der Vermieter. Immer wieder meine Beschwichtigungen in Richtung Rücksitzbank. Leonie, die ungeduldig ist, voller Erwartung, mit ihrem roten Plastikeimer und den kleinen Schaufeln darin klappert. Ein Klappern, das schonungslos meine Nerven reizt. Die Straße wird schmaler, und das kurz nach einer Kurve. Gegenverkehr rollt auf uns zu. Große Wohnwagengespanne und schaukelnde Wohnmobile, an den Stoßstangen sind fast ausschließlich deutsche Nummernschilder montiert. Eine Kreuzung und wie der eine, und endlich sehe ich auf einer Landzunge die Ferienhaussiedlung. Davor eine Verkehrsinsel und ein steil aufragender, nutzlos wirkender Schlagbaum, rechts davon ein Supermarkt. Ein großes Schild hängt über den gläsernen Schiebetüren: Market. Leonies Blick, der zum selben Gebäude gerichtet ist wie meiner.

    »Da gehen wir auch rein, Papa, ja? Ich hab Durst.«

    Schon wieder.

    »Wir gehen später in den Supermarkt und kaufen ein«, schlage ich vor. »Jetzt suchen wir erst mal unser Ferienhaus. Wir haben Taschen und Koffer dabei, das wird ein schönes Stück Arbeit, das alles auszupacken.«

    »Ich will aber nichts auspacken, ich will eine Limo! Eine gelbe Limo, die auf der Zunge prickelt! Und Lakritz will ich auch.«

    Sie brabbelt noch etwas Unverständliches, die Stirn dabei in Falten gelegt.

    Ich jedoch muss jetzt achtgeben. Vor uns Kinder in Kett-Cars, quer über der Straße. Pendelnde Fahrradfahrer und kreuzende Kinderwagen. Bodenschwellen, so hoch, dass beim Überfahren die Hinterachse ächzt. Ich lese in der Wegbeschreibung immer wieder den Namen der Straße, an der unser Ferienhaus steht – und vergesse ihn sofort wieder, weil ich viel zu aufgekratzt bin, jetzt kurz vor dem Ziel.

    »Papa?«

    »Ja, Leonie?«

    Was kommt jetzt, frage ich mich, die nächste Bestellung?

    »Ich weiß was«, sagte Leonie. »Soll ich s dir sagen?«

    »Ja, klar.«

    »Nein, tu ich nicht.«

    »Warum nicht?«

    »Geheimnis!« Plötzliche Fröhlichkeit, ihre Stimme so hoch wie das Flötenlied einer Singdrossel.

    »Na sag schon, Leonie. Also?«

    »Bekomm ich was dafür, wenn ich’s dir verrate?«

    Ich zögere, sage dann aber: »Na gut, abgemacht, die Lakritz.«

    »Wir sind längst da, Papa, gerade eben vorbeigefahren. Guck mal, hinter uns.«

    Ihr Zeigefinger weist durch die Heckscheibe. Ich setze den Wagen zurück. Und tatsächlich, da ist es, das Schild mit der Aufschrift Molenstraat. Ich hatte es übersehen, aber nun biegen wir ab auf einen kleinen gepflasterten Platz mit einigen Parknischen, dahinter ein Teich, ein Schild auf einigen, mitten im Wasser, auf dem in großen LetternVissen verboden! steht. Ich halte den Wagen an, steige aus, öffne die hintere Klappe, befreie Leonie aus ihrem Sicherheitsgurt. Sie läuft auf den Platz, ruft: »Welches ist es denn? Welches ist denn unser Haus?« Der kleine rote Eimer mit den Schüppchen darin baumelt an ihrer Hand, klappert.

    Auf den ersten Blick eintönige Fassaden, ohne jedes Ornament, ohne jeden Schmuck. Ein Haus sieht aus wie das andere, wie eine Tierherde stehen sie zusammen, Schulter an Schulter; unser Haus unterscheidet sich von den anderen nur durch die Nummer. Das Land grimmiger Seefahrer, Deichbauer und Schiffbauer. Dieses Haus sieht mir nicht so aus, als ob es auch nur einem einzigen Sturm trotzen könnte, es erinnert mich eher an ein Vogelhäuschen, eines mit völlig überzogenen Dimensionen.

    Die Wände mager. Viel Backstein, rotbraun, dazu schmale weiße Fensterrahmen, der Holzgiebel grün gestrichen, ebenso die Tür. Ich stelle die beiden Koffer auf den Boden, krame aus der Hosentasche den Schlüssel hervor. Innen abgestandene Luft, ein enges, lang gestrecktes Eingangsräumchen mit Garderobe und einem hellem Fliesenboden. Absolute Verlassenheit wie in einer Tropfsteinhöhle zur Winterzeit. Links das Badezimmer, unter dem Duschkopf eine mit Fliesen ausgelegte Vertiefung, keine Duschtasse, keine Wanne, beides eingespart. In der dämmrigen Küche keine Spülmaschine, keine Waschmaschine, beides eingespart. Aber Strom gibt es. Durch den Druck auf einen Schalter flammt die Deckenbeleuchtung auf, eine einzelne Glühbirne wagt es, zwei andere sind kaputt. Aber der Kühlschrank ist erfüllt von einer Helligkeit, als sei wahrer Sonnenschein darin. Leonie steht neben mir.

    »Leer. Nichts drin. Guck mal.« Sie zieht das Gemüsefach auf. Ein, zwei zum Krümeln neigende Blätter.

    Ich habe das Ferienhaus von einem älteren Ehepaar gemietet. Vor dreißig Jahren etwa, so erzählten sie mir bei einer Tasse Kaffee, hatten sie es gekauft, für sich und ihre Kinder, als diese klein waren und verrückt nach Strand und Meer.

    »Richtig verrückt, verstehen Sie?«

    »Ja, natürlich«, sagte ich. »Richtig verrückt verstehe ich.«

    Die beiden schnauften auf die heiße Oberfläche des Kaffees, dass diese sich wellte und gegen den Porzellanrand schwappte. Schlürften mit zurückzuckenden Lippen in kleinen Schlucken, zogen ihre hellfarbenen Au gen brauen hoch. Wundervolle Tage, sagten sie, ohne Sorge. Es klang, als erzählten sie von einer Zeit, die weit weg war. Fern. Wie eine sich auflösende Wolke am Horizont.

    Und ich dachte an meine Wohnung, in der ich alleine lebe. Allein mit den Missstimmungen eines langsam alternden Kühlschranks, mit der übellaunigen Heizung in der Küche, die in Winternächten unermüdlich ihren Protest vor sich hin gluckert. Dann und wann das Ächzen des Fußbodens, als würde jemand darüber gehen. Eine Wohnung, in der ich manchmal nachts Musik höre, die es, so weiß ich, nur in meinen Gedanken gibt, genauso wie Kirchengeläut, das an meinem inneren Ohr vorbeiweht. Dann wieder höre ich einen Schrotthändler mit seinem Laster die Ringstraße entlangfahren, die Straße, in der ich als Junge wohnte. Der eine Reifen humpelte, und der Mann, ein Bärtiger, hing aus dem Fenster, schüttelte in der Faust eine Glocke, der sich, wenn sie verstummte, eine einschmeichelnde Melodie anschloss, die sich ständig wiederholte. Und langsam leiser wurde, immer leiser, je weiter er fuhr, sich von diesem Haus entfernte, das immer noch in meinem Kopf ist.

    Zeeland, unser Ferienhaus. Neben der Küchenzeile ein Esstisch, vier Stühle. Das Wohnzimmer mit einer Sitzgarnitur und einem altmodischen Schrank mit einem Vitrinenaufsatz, in dem ein paar Tassen und Gläser aufgereiht sind. Das alles steht auf einem Teppich, der die Spuren unzähliger Schritte aufweist, an den Rändern Fransen, so dick wie kleine Finger. Ein Bild hängt an der Wand, eine gerahmte Fotografie, die eine vierköpfige Familie zeigt. In direkter Nachbarschaft eine Uhr, deren Zeiger stehengeblieben sind: Viertel vor drei. Darunter steht eine Blumenvase, sie ist leer. Nichts besonderes, bis auf ein Holzregal im Wohnzimmer. Dort steht ein Radio, eines von der Art, wie ich es aus meiner Kindheit kenne, mit einer länglichen Linse, die grün wird, wenn die Röhren im Innern des Radios sich ausreichend erwärmt haben. Zu empfangen

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