Antoinette
Von Robbert Welagen
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Über dieses E-Book
Ein Mann wartet in einem Budapester Thermalbad auf eine Frau, seine Frau, auf Antoinette. Vor sieben Jahren waren sie schon einmal hier. Ganz am Anfang. Ganz am Anfang ihres Glücks. Dazwischen unzählige erfolglose Kinderwunschbehandlungen, Entfremdung und schließlich eine gescheiterte Ehe. Werden sie sich jetzt wiederbegegnen, wird ihre Liebe eine zweite Chance bekommen?
Robbert Welagen, ein Meister der leisen, wohldosierten Worte, entwirft in diesem Roman das Panorama einer Ehe und das Seelenleben zweier Menschen, die an ihrer Kinderlosigkeit zu zerbrechen drohen. Sehr atmosphärisch, von minimalistischer Schönheit und ungemein tröstlich.
Robbert Welagen
Robbert Welagen, 1981 geboren, studierte an der Kunsthochschule in Den Bosch und Kunstgeschichte in Utrecht. Mit 25 Jahren gab er sein Debüt. Seither sind neun Romane erschienen. Preisgekrönt und in der Presse hymnisch gefeiert. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit publiziert Welagen in mehreren namhaften niederländischen Magazinen und Zeitungen darunter "De Groene Amsterdammer", "Trouw", "HP/De Tijd" und "VPRO Books". Robbert Welagen lebt in den Wäldern von Zeist. robbertwelagen.nl
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Buchvorschau
Antoinette - Robbert Welagen
1
Vor dem Eingang, auf der obersten Stufe der Marmortreppe, sitzt ein Mädchen. Sie trägt ein weißes Kleidchen und hat ein ovales Gesicht. Ihre nassen Haare werden von einem Haarreif zurückgehalten. Ich schätze sie auf ungefähr zehn Jahre; sie wartet darauf, abgeholt zu werden. In einer Tasche neben sich ihre Badesachen: ein feuchtes Handtuch, ein Badeanzug und ein Paar Latschen. Sie hat das Kinn auf die Knie gestützt und schaut die baumbestandene Auffahrt hinunter, als würde sie sich fragen: Wie lange dauert es noch?
Sie sieht ein schwarzes Auto durchs Tor fahren und langsam auf sie zukommen. Wohin sonst in dieser so stilisierten Umgebung sollte sie blicken? Es gibt einen Rasen, die Auffahrt und einen Pavillon unter Bäumen. Das alles umsäumt von den Stäben eines dunkelgrünen Gitterzauns, hinter dem sich die Straßen von Budapest verlieren.
Hätte mein Kind so ausgesehen? Klassisch gekleidet, etwas brav, nicht mehr ganz zeitgemäß? Womöglich. Aber ich hätte meine Tochter nicht so lange warten lassen. Schon als sie herausgelaufen kam, hätte ich rechtzeitig mit offener Wagentür bereitgestanden. Ein solcher Vater wäre ich gewesen – das jedenfalls attestiere ich mir. Tagträume und Wunschdenken vereinfachen die Realität. Was ihnen fehlt, sind die Launen des Alltags: Straßensperren, länger dauernde Termine.
Das Auto hält vor der Treppe, aber es ist nicht das, auf das sie wartet. Eine Frau steigt aus. Sie trägt einen Hut, der ihre Augen verschattet. Sie geht an dem Mädchen vorbei die Stufen hoch. Die beiden grüßen sich mit einem Kopfnicken. Der Wagen, der die Frau gebracht hat, fährt wieder ab. Das Grün der überhängenden Blätter spiegelt sich in dem funkelnden Schwarz. Das Auto rollt an mir vorbei und verschwindet durchs Tor.
Oben an der Treppe dreht sich die Frau kurz um. Prüfend betrachtet sie das Kind, wie angespannte Menschen es tun, als sei es unverantwortlich, es draußen warten zu lassen. Die Frau geht hinein und verschwindet in die Empfangshalle.
In der Halle stehen tiefe Sofas, in denen Menschen sitzen, um sich entspannt zu unterhalten. Manche Lehnen sind so hoch, dass man von hinten nicht sehen kann, ob jemand darin sitzt. Die Empfangshalle wird auch Trinkhalle genannt. Dort gibt es einen Brunnen, aus dem man Thermalwasser trinken kann.
Das Mädchen hat auch kurz in der Trinkhalle auf einem Sofa gesessen, stelle ich mir vor, die Füße über den kalten, dekorierten Fliesen baumelnd. Aber dort herrschte zu viel Betrieb. Die Stimmen der anderen Leute hallten durch den Raum. Sie ist hinausgegangen, wo es still ist. Nichts als das Rauschen der Bäume. Ab und zu ein Auto, das sich über die Auffahrt nähert. Die Ankunft von etwas Neuem kündigt sich hier sehr zeitig an.
Sie schaut vor sich hin, erst die Auffahrt entlang, dann schweifen ihre Augen links und rechts über den Rasen. An mehreren Stellen ragen Röhrchen aus dem Gras. Diesen entsteigen Dampfwölkchen; sie stammen von dem 77 Grad heißen und aus 1 200 Metern Tiefe heraufgepumpten Wasser. An früheren Sommernachmittagen – stelle ich mir wieder vor – saß sie auch auf der Treppe. Diese Umgebung hat sie schon so oft gesehen, ihr Blick streift über die Bäume und Sträucher gleich den letzten Strahlen der Nachmittagssonne.
Ein elf- oder zwölfjähriger Junge scheint ebenfalls auf etwas zu warten. Er liegt bäuchlings im Gras und liest einen Comic. Einen Sohn zu haben, wie wäre das gewesen? Neben ihm ein kleiner Rucksack, darin sein nasses Badezeug. Aus den kurzen Hemdsärmeln schauen knochige Arme hervor. Der Junge ist völlig im Bann der gezeichneten Geschichte, die vor ihm liegt.
Ich muss an die Eltern dieser Kinder denken: Obwohl nicht am selben Ort, bleiben sie doch alle durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden. Diese unendliche Menge an Familienbanden, die sich wie Linien über die Welt spannen.
Das Mädchen verschwindet für einen Augenblick hinter den Beinen eines Ehepaars, das die Treppe hinaufgeht. Sie hat das Paar nicht wie ich mit den Augen verfolgt, denn ein rotes Auto kommt herbeigefahren. Ein Mann steigt aus und öffnet die beiden hinteren Türen. Dienstfertig steht er neben dem Wagen, die Arme eng am Körper, als hätte er das hier vor dieser Treppe schon öfter getan: ein Scherz, er mimt einen Chauffeur in schicker Umgebung. Das Mädchen erhebt sich träge. Der lesende Junge schlägt seinen Comic zu und steht ebenfalls auf. Mit dem Rucksack in der Hand geht er unter den Bäumen zu dem Auto. Etwas an ihrer beider Schritt verrät, dass sie Geschwister sind.
Ich höre den Vater, der sich leicht vorbeugt und sich ihnen gegenüber entschuldigt. Sie klettern auf die Rückbank. Der Mann schließt die Türen, geht um den Wagen herum und steigt ein. Schneckengleich setzt sich das Auto in Bewegung. Mit der Hand kurbelt der Junge das Fenster auf seiner Seite hinunter. Als er an mir vorübergleitet, lächle ich ihm zu und hebe die Hand. Er beantwortet meinen Gruß nicht, sondern rutscht zur Mitte der Rückbank, das Gesicht zwischen den beiden Vordersitzen. Er sagt etwas zu seinem Vater. Ich vermute, er fragt, ob es auch schneller geht, denn sobald das Auto auf die Straße einbiegt, gibt der Mann Gas. Die Reifen quietschen kurz, aber lang genug, um dem Jungen ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Er lässt sich gegen die Rücklehne fallen und liest neben seiner Schwester sitzend weiter in seinem Comic.
2
Die Treppe ist leer und der Rasen auch. Die Sonne bescheint den Marmor; das Licht wird jetzt einen Bruchteil schwächer zurückgeworfen. Ich wende mich ab und betrachte die Röhrchen, die über den Rasen verbreitet kleine Dampfwolken ausstoßen.
Ich sitze auf der Terrasse des Pavillons unter den Bäumen, auf der Hälfte der Auffahrt. Ich bin der Einzige, der noch wartet. Aber nicht auf ein rotes Auto. Ich warte auf Antoinette.
Wir hatten uns für drei Uhr verabredet. Mittlerweile sind zwei Stunden vergangen. Während des Wartens habe ich manchmal den Kopf in den Nacken gelegt und in die Sonne gestarrt, die durch die Baumwolle des Sonnenschirms schien. Das Licht wandelte sich allmählich: Das Hellblau des Himmels wich einem satteren Farbton. Um mich herum blieben immer mehr Tische leer. Der Kellner räumte die leeren Tassen, Flaschen und Kuchenteller ab. Nur ich bin sitzen geblieben und warte geduldig. Um den Kellner zu beruhigen, bestellte ich in gebrochenem Ungarisch dann und wann ein Getränk.
Einmal bin ich aufgestanden und zur Toilette gegangen. Ich betrat den achteckigen Pavillon einzig aus dem Grund, das Warten zu durchbrechen. Ich bildete mir ein, dass Antoinette bei meiner Rückkehr wie durch ein Wunder an meinem Tisch säße. Im Pavillon erklang leise Musik, und hinter dem Tresen standen spiegelblank geputzte Apparate und aufgestapelte Gläser. Ich betrachtete alles eingehend, um die Pause zu intensivieren und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Antoinette bei meiner Rückkehr auf der Terrasse zugegen wäre. In dem kleinen Waschraum hielt ich meine Hände lange unter den Wasserhahn und trocknete jeden Finger einzeln ab. Am Tresen vorbei ging ich zum Ausgang und spürte draußen wieder die staubige, windlose Wärme. Die Terrasse jedoch war leer.
Irgendwann meinte ich sie durch die Gitterstäbe des Zauns auf der anderen Straßenseite zu sehen. Sie saß auf dem Beckenrand eines Brunnens. Es war Antoinette, da war ich mir sicher. Warum saß sie da? Ich hob die Hand. Sie winkte nicht zurück, schaute auch nicht in meine Richtung. Instinktiv erhob ich mich halb aus meinem Stuhl und stützte mich noch mit den Händen auf den Lehnen ab, als mir die Sicht auf den Brunnen plötzlich von einem Autostrom und einem Stadtbus genommen wurde; irgendwo musste eine Ampel auf Grün gesprungen sein, und eine lange Schlange stehender Fahrzeuge wurde wie in einer einzigen Bewegung vorwärts gespien. Die Welle versiegte von selbst wieder. Als ich die andere Straßenseite wieder sehen konnte, war der Brunnen verlassen.
Ich ließ mich in den Stuhl zurückfallen und hoffte, Antoinette würde für mich unsichtbar die Straße überqueren und durch das Eingangstor den Park betreten. Sie trug ein mintgrünes Kleid, die schlichte Eleganz. Am Brunnen hatte sie sich nur die Schnürsenkel gebunden oder die Schnalle ihrer Sandale festgemacht; sie war raschen Schrittes gekommen, hatte sich beeilt. Jeden Augenblick würde ich ihre gebräunten Beine sehen,