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Wut tut selten gut: Hunsrück-Krimi-Reihe Band XII
Wut tut selten gut: Hunsrück-Krimi-Reihe Band XII
Wut tut selten gut: Hunsrück-Krimi-Reihe Band XII
eBook378 Seiten5 Stunden

Wut tut selten gut: Hunsrück-Krimi-Reihe Band XII

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Über dieses E-Book

Innerhalb kürzester Zeit werden ein pensionierter Lehrer, ein Bankfilialleiter, ein Schlagersänger und ein Bauunternehmer auf gleiche Art und Weise ermordet. Getötet durch zwei gezielte Schüsse zwischen Nase und Mund und ins Herz – regelrecht hingerichtet.
Hauptkommissar Fuß und die Soko jagen ein Phantom, das gnadenlos Rache für sein subjektiv empfundenes Unrecht nimmt. Die Kripo kann die Zahl der Verdächtigen zwar einkreisen. Anfangsverdachte erhärten sich nicht, übrig bleiben traurige Schicksale und zerstörte Lebensentwürfe … und ein Täter, der erneut mordet.

SpracheDeutsch
HerausgeberPandion Verlag
Erscheinungsdatum9. Okt. 2015
ISBN9783869115160
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    Buchvorschau

    Wut tut selten gut - Heinz-Peter Baecker

    Tag

    1.

    Bereits seit geraumer Zeit war draußen auf dem Flur geschäftiges Treiben zu hören, auch ohne Hörgerät. Die Pflegerinnen und Pfleger gingen wohl davon aus, dass sämtliche Bewohner wegen ihres fortgeschrittenen Alters schwerhörig waren. Er war es aber nicht! Und darauf war er stolz. Selbst wenn es einmal von Nachteil war wie jetzt in den frühen Morgenstunden, als erst diffuses Tageslicht durch die noch zugezogenen Vorhänge fiel. Auch vieles andere erfüllte ihn mit Stolz: seine unumstößlichen Prinzipien und die damit verbundenen, für ihn oft schmerzlichen Konsequenzen, und seine Strenge gegen sich selbst und anderen gegenüber.

    Energisch drehte er sich zum Nachttisch hin und tastete nach dem kleinen Schalter der Lampe. Nur langsam wurde die Energiesparbirne, die man vor einiger Zeit gegen seinen Willen eingeschraubt hatte, hell. Dann griffen seine von Gicht leicht gekrümmten Finger nach der billigen Armbanduhr, die nachts immer am gleichen Platz auf seinem Nachttisch lag. Er wischte sich kurz über die schläfrigen Augen, um die Ziffern besser ablesen zu können. Noch eine gute Viertelstunde, dann würde die Tür des gemütlich eingerichteten Einzelzimmers aufgerissen werden und Angelika oder Marie-Luise, beides junge Lernschwestern, würden hineingestürmt kommen, ungefragt das grelle Hauptlicht an der Decke einschalten und mit einem lauten „Guten Morgen, Opa Klessmann! den Tag beginnen lassen. Schon oft hatte er sich das plump-vertrauliche „Opa Klessmann verbeten. Trotz lautstarker Proteste aber bisher vergebens. Den beiden neuen Lernschwestern war es noch zu verzeihen, sie hatten es gedankenlos von dem übrigen Pflegepersonal übernommen. Besonders ärgerte es ihn, wenn dann auch noch ein „Wie geht es uns denn heute Morgen? folgte. Auch wenn er jedes Mal bewusst und deutlich antwortete: „Mir geht es gut, wie geht es Ihnen?, reichte der Wink nicht aus, um diese Unart abzustellen. Vielleicht lag es daran, dass andere Heimbewohner diese vermeintliche Nähe und Fürsorge schätzten. Er mochte sie nicht! Distanz und Würde mussten auch alten Menschen gegenüber sein. Früher hatte er es als Lehrer selbst bei den Erstklässlern nicht geduldet, wenn diese ihn noch in Kindergartenart duzten. Er hatte sie von Anfang an immer, deutlich betont, mit dem Familiennamen angeredet und in den oberen Klassen der Volksschule den Schülern gegenüber das Sie eingeführt.

    Mit einem leichten Stöhnen schaltete er das Licht wieder aus und drehte sich auf die Seite zur Tür hin. Er wollte sofort sehen, wer an diesem Morgen Weckdienst hatte. Manchmal konnte er es schon an den Schritten erkennen, die auf seine Tür zukamen. Aber die beiden Lernschwestern waren neu hier und der Unterschied in ihrem Gang hatte sich noch nicht zuverlässig bei ihm eingeprägt.

    Für heute hatte er sich einiges vorgenommen. Nach dem Frühstück würde er in die nahe gelegene Kastorkirche gehen. Elisabeth, seine Frau, war heute genau vor sieben Jahren gestorben. Plötzlich und unerwartet. Ein Schlaganfall hatte sie von seiner Seite gerissen, mitten in der Stadt, auf der Löhr beim Einkaufen. Da sie keine Kinder hatten, zu denen er hätte ziehen können, und er vom Haushalt und Kochen wenig Ahnung hatte, entschloss er sich spontan, in ein Heim zu ziehen. So war er hier gelandet. Eigentlich eine gute Entscheidung, wenn nur nicht dieses ...

    „Guten Morgen, Opa Klessmann! Marie-Luise stand wie auf ein Stichwort seiner Gedanken in der Tür und schaltete das grelle Deckenlicht ein. „Haben wir gut geschlafen?

    August Klessmann antwortete nur mit einem gereizten Brummen. Er warf das Plumeau zur Seite und stützte sich beim Aufstehen am Bettrand und am Nachttisch ab. Langsam machten sich seine 82 Jahre immer mehr bemerkbar, vor allem im Rücken. Auch seine Kraft hatte in den letzten Jahren stark nachgelassen.

    „Ich komme gleich wieder und helfe Ihnen beim Anziehen der Strümpfe und Schuhe." Schon hatte Marie-Luise die Tür wieder hinter sich geschlossen. Klessmann tastete mit den nackten Füßen nach den Pantoffeln, die halb unter das Bett gerutscht waren, schlüpfte hinein und schlurfte zu dem Becken in der Nasszelle. Wie jeden Morgen betrachtete er als Erstes sein Spiegelbild. Heute würde er sich rasieren müssen, nicht nur wegen des Kirchgangs. Er würde sich auch noch von einem Taxi zum Friedhof fahren lassen und auf dem Rückweg in der Buchhandlung Reuffel endlich das Buch von Thilo Sarrazin kaufen. Lesen war immer seine Leidenschaft gewesen und bis heute geblieben. Zum Glück machten seine Augen noch mit, wenn auch nur mit Brille, aber die trug er schon damals, als er seine Frau kennengelernt hatte. Er nahm den Elektrorasierer aus seiner Halterung, und rückte dem weißen Stoppelbart zu Leibe. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich mit der freien Hand übers Kinn, um sich von dem Erfolg der Rasur zu überzeugen. Erst als nichts mehr von einem Bartwuchs zu spüren war, legte er zufrieden den Apparat beiseite, verteilte ein paar Tropfen Rasierwasser über die rasierte Fläche und griff zum Zahnputzbecher und Mundwasser. Hygiene war ihm ein Leben lang wichtig gewesen. Er bedauerte es, dass das Zimmer keine eigene Dusche hatte. Nur einmal in der Woche wurde er, meist mit Hilfe von Schwester Klara, gebadet. Es hatte lange gedauert, bis er sich daran gewöhnt hatte. Aber was blieb ihm anderes übrig? Außerdem musste man sich in seinem Alter für nichts mehr schämen. Er war schon lange kein Adonis mehr. Früher, als er noch aktiv Sport getrieben hatte, da war er stolz auf seinen Körper. Auch seinen Schülern hatte er immer gepredigt, Sport zu treiben. Sport stählt den Körper und schärft den Verstand, hatte er immer gesagt. Waschlappen hatte er sein Leben lang verabscheut, heute sagte man wohl Weicheier oder Warmduscher. Das hatte er verschiedenen Büchern entnommen, so wie er aus dem Langenscheidt-Büchlein Jugendsprache unplugged, das er sich vor einiger Zeit gekauft hatte, wusste, dass er jetzt in einem „Friedhofsgemüseladen" wohnte.

    Als die blondgelockte und etwas dralle Marie-Luise wenig später in das Zimmer zurückkehrte, saß August Klessmann bereits ungeduldig auf der Bettkante und wartete. Neben ihm auf dem Bett lag ein Paar frische Socken und vor ihm auf dem Boden standen seine blitzblank geputzten schwarzen Schuhe. Beides anzuziehen war das Einzige, was er nicht mehr alleine schaffte. Das Vorbeugen und Bücken fiel ihm seit zwei oder drei Jahren schwer. Vielleicht lag es auch an dem kleinen Bäuchlein, das ihm zunehmend im Wege war. So ungern er anfänglich diese Hilfe angenommen hatte, so zwingend notwendig war sie inzwischen geworden. Abgesehen von dieser Bewegungseinschränkung fühlte er sich aber noch äußerst fit im Vergleich zu vielen anderen Heimbewohnern. Während Marie-Luise vor ihm kniete und ihm die Schuhe zuband, betrat auch die etwas begriffsstutzige Angelika sein Zimmer. Zum Glück beließ sie es heute bei einem einfachen „Guten Morgen!", bevor sie das Fenster öffnete, um frische Morgenluft hereinzulassen und zusammen mit ihrer Kollegin das Bett zu machen. Klessmann beobachtete beide jeden Morgen eine Weile und amüsierte sich immer wieder aufs Neue wie umständlich sie dabei vorgingen. Aber wie in jedem Beruf war die Ausbildung wohl nicht mehr das, was sie früher einmal war.

    Auf dem Weg zum Kleiderschrank hüstelte Klessmann unüberhörbar und nahm seinen schwarzen Wollmantel vom Bügel. Er hasste es, wenn man ungefragt das Fenster öffnete. Das sah er als Bevormundung an. Er hatte ja nichts gegen die Frischluft, überhaupt nichts, aber man konnte das Fenster auch öffnen, während er beim Frühstück saß.

    „Was ist mit Frühstücken?", erkundigte sich Marie-Luise erstaunt, als sie ihn mit dem Mantel über dem Arm sah.

    „Erstens hole ich mir eine Erkältung, wenn das Fenster offen ist, außerdem werde ich nach dem Frühstück sofort das Haus verlassen und will nicht nochmals in das eiskalte Zimmer zurückkehren müssen", antwortete Klessmann, der sich sofort wieder kontrolliert fühlte. Er war nicht gewillt, jungen Lernschwestern gegenüber Rechenschaft abzugeben, was er tat oder wann er warum das Heim verließ. Es reichte seiner Meinung nach, wenn er sich bei der Schwester abmeldete.

    „Opa Klessmann, Telefon!", rief Marie-Luise und klopfte das Kopfkissen zurecht.

    „Ich höre noch gut!", reagierte Klessmann unwirsch, legte den Mantel sorgfältig über eine Stuhllehne und ging zum Telefon, das auf einer kleinen Wandkonsole stand.

    „Klessmann", krächzte er in die Sprechmuschel.

    Am anderen Ende meldete sich eine betont freundlich wirkende Männerstimme. „Spreche ich mit August Klessmann, geboren am siebzehnten Juli 1928 in Koblenz?"

    „Ja, aber mit wem habe ich das Vergnügen?"

    „Mein Name ist Schmitt, ganz einfach Schmitt. Ich bin Mitarbeiter im Planungsteam der Bundesgartenschau im kommenden Jahr. Wir bereiten im Schlossgarten einen Seniorentag für rüstige Koblenzer Bürger vor und deshalb würde ich gerne heute einmal kurz bei Ihnen vorbeikommen."

    „Was habe ich auf einem Seniorentag der Bundesgartenschau zu suchen?", wollte Klessmann wissen und machte schon Anstalten, den Hörer wieder aufzulegen.

    „Sie haben vor einigen Jahren eine Abhandlung über die Gestaltung Koblenzer Grünflächen geschrieben, als Lehrer glaube ich ..."

    „Das ist dreißig oder vierzig Jahre her, unterbrach ihn Klessmann ungehalten. „Was hat diese Broschüre mit nächstem Jahr zu tun? Inzwischen hat sich doch vieles, um nicht zu sagen alles in Koblenz geändert.

    „Aber genau deswegen würden wir Sie gerne für einen kurzen Vortrag gewinnen. Sie wurden uns als noch sehr rüstig, redegewandt und immer noch sachkundig empfohlen."

    Die Worte entlockten August Klessmann ein leichtes Lächeln, er fühlte sich geschmeichelt, dass man sich nach all den Jahren immer noch an diese Ausarbeitung und seine Person erinnerte. Wahrscheinlich hatte einer seiner ehemaligen Schüler diese Anregung gegeben. Er hatte mit ihnen damals die Grünflächen erwandert und sie die Fakten zusammentragen lassen. Zu der Zeit waren viele Eltern froh, wenn ihre Kinder ab und zu auch mal nachmittags beschäftigt wurden. Die Stadt hatte ihm sogar für diese Exkursionen Freifahrtkarten für das kleine Motorbötchen zum Überqueren des Rheins von Pfaffendorf, wo er Lehrer war, rüber zur Kaiserin-Augusta-Anlage gestiftet.

    Ein leises Räuspern drang aus dem Hörer an sein Ohr und holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. „Heute geht das nicht!, reagierte er abweisend und barsch. „Ich werde in einer knappen halben Stunde das Heim verlassen und den größten Teil des Tages unterwegs sein. Anschließend werde ich mich etwas hinlegen. Vergessen Sie mein Alter nicht. Aber morgen ... morgen Vormittag können Sie vorbeikommen. Wie war noch einmal Ihr Name?

    „Ganz einfach Schmitt. Das werde ich machen. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag."

    Klessmann wollte noch etwas sagen, aber dieser Schmitt hatte bereits aufgelegt. Nachdenklich blickte der alte Mann vor sich auf den Boden. Dass sich noch heute jemand an diese Broschüre erinnerte ... Er würde nach seiner Rückkehr einmal suchen müssen, wo diese nach seinem Umzug ins Heim unter all den Erinnerungsstücken vergangener Jahre geblieben war. Rasch notierte er sich den Namen des Mannes und fügte das Kürzel BUGA hinzu.

    Die beiden Lernschwestern hatten zwischenzeitlich das Zimmer verlassen, aber das Fenster nicht geschlossen. Klessmann ging energischen Schrittes auf dieses zu und schloss es. Er würde sich wohl doch bei einer der diensthabenden Schwestern beschweren müssen. Dann ergriff er wieder seinen Mantel und machte sich auf den Weg zum Frühstücksraum.

    Draußen herrschte ein für die Jahreszeit recht kühler Wind. Klessmann schlug rasch den Mantelkragen hoch, bevor er ins Freie trat, und blickte zum Himmel hinauf. Er war zwar wolkenverhangen, aber es sah nicht nach Regen aus. Er steckte die Hände tief in die Manteltaschen und machte sich auf den Weg zur Kastorkirche, die nur wenige hundert Meter entfernt lag. Dabei schaute er wie immer vor sich auf den Bürgersteig. Er wollte Hindernisse rechtzeitig entdecken, denn er hatte schreckliche Angst, zu stürzen. Kurz nach seinem Umzug ins Heim war sein Nachbar, der noch deutlich jünger war als er, bei einem Stadtgang gestürzt und seither bettlägerig. Und das wollte er auf keinen Fall werden. Also schaute er weder rechts noch links, solange er keine Straße überqueren musste. Deshalb beachtete er auch nicht den Mann, der auf der anderen Straßenseite gestanden hatte, als er das Seniorenheim verließ, und ihm jetzt gut zwanzig Meter vorauseilte.

    August Klessmann hatte lange überlegt, ob er heute für Elisabeth eine Messe lesen lassen solle, dann aber davon Abstand genommen. Sie hatte außer ihm keine Verwandten mehr und sein einziger Bruder lebte irgendwo in Südamerika. Seit vielen Jahren hatten sie keinen Kontakt mehr. Gemeinsame Freunde gab es auch nur ganz wenige. Er und seine Frau hatten die letzten Jahre sehr zurückgezogen gelebt. Deshalb hatte er mit Helmut Kusche, dem Pfarrer, vereinbart, die reguläre Messe am kommenden Sonntag für Elisabeth zu lesen. Zu dem Gottesdienst würde er gehen und heute, an ihrem Todestag für sie in der Kirche eine Kerze aufstellen und am Grab beten. Das war auch ganz in ihrem Sinne, dessen war er sich sicher.

    Etwas irritiert von den Absperrungen, die für die Baumaßnahmen zur Bundesgartenschau notwendig geworden waren, überquerte er die Kastorpfaffengasse und ging, wieder auf den Boden schauend, im Schutz der Bäume den Weg vom Kastorhof zur Kirche über den kleinen, wie immer völlig zugeparkten Parkplatz, da er glaubte, dass der Wind auf dem großen Vorplatz des Gotteshauses besonders unangenehm sein würde. Von der gegenüberliegenden Straßenseite drangen fröhliche Kinderstimmen aus dem Kindergarten an sein Ohr.

    Das erinnerte ihn wieder an die vielen Schulpausen in seinem Leben. Wie oft hatte er an einem der Fenster gestanden und das laute Treiben beobachtet. Ab und zu hatte er eingegriffen, wenn es zu arg wurde. Heute war das alles anders. Die jungen Kolleginnen und Kollegen hatten ihre Schüler überhaupt nicht mehr im Griff. Kein Wunder, dass man immer häufiger von Gewalt an Schulen las, von Rauschgift bis hin zu Amokläufen. Das hatte es früher nie gegeben. Etwas mehr Zucht und Ordnung würde auch heute niemandem schaden. Erziehung und Lernen hatten für ihn immer im Vordergrund gestanden und nicht die Frage, ob die Schüler noch genügend Freizeit hatten oder das Lernpensum des Jahres zu umfangreich war. Klessmann hielt einen Moment inne und atmete tief durch. Er würde nichts mehr daran ändern können, seine Zeit war vorbei.

    Als er weiterging und sich zwischen zwei geparkten Fahrzeugen hindurchschlängelte, kam ihm aus dem kleinen Durchgang zum Kirchenvorplatz ein Mann in einem beigen Trenchcoat entgegen und geradewegs auf ihn zu. Klessmann blieb kurz stehen, denn für zwei Personen reichte der Platz zwischen den dichten Büschen und einem silbergrauen BMW nicht, um aneinander vorbeizugehen. Doch auch der Mann blieb stehen und machte eine einladende Handbewegung, die Klessmann signalisierte, dass er beabsichtigte, dem Senioren den Vortritt zu lassen. Klessmann bedankte sich mit einem kurzen Kopfnicken und setzte seinen Weg fort. Doch im gleichen Moment machte der Mann einen Schritt zur Seite und versperrte ihm somit den Weg.

    Der Pensionär schaute erstaunt in das blasse, hagere und schlecht rasierte Gesicht des Mannes, der sich, kaum einen Meter entfernt, vor ihm aufgebaut hatte.

    „August Klessmann?", fragte sein Gegenüber. Die Stimme war hart und wirkte unpersönlich.

    „Was soll das, woher wissen Sie, wer ich bin?", fragte Klessmann ebenso erstaunt wie missmutig und streckte seinen Arm aus, um den Mann beiseitezuschieben. Doch der machte keine Anstalten ihm den Weg freizugeben, und Klessmann war zu schwach.

    „Wir Wahrschauer haben uns wohl beide in fünfundvierzig Jahren etwas verändert", stellte der Fremde nüchtern fest.

    Der Mann, den er auf gut fünfzig Jahre schätzte, musste wohl ein ehemaliger Schüler von ihm sein. Die Bezeichnung ,Wahrschauer‘ hatten sich damals die Schüler der Volksschule an der Emser Straße in Pfaffendorf zugelegt. Denn von ihren Klassenraumfenstern beobachten sie ebenso die Schiffe wie der sogenannte Wahrschauer, der noch vor 50 Jahren von seiner 500 Meter rheinaufwärts von der Schule stehenden Station die Rheinschiffe zur damaligen Schiffsbrücke steuerte. Aber das Gesicht sagte Klessmann nichts, gar nichts. Kein Wunder, nach all den Jahren. Aber offenbar hatte ihn sein Schüler erkannt.

    „Sie waren einmal ein Schüler von mir?, fragte Klessmann und versuchte ein Lächeln. „Allerdings sagt mir Ihr Gesicht nichts. Wann waren Sie denn in meiner Klasse?

    „Pfaffendorf, 1965, lange her, nicht wahr ...?"

    Klessmann nickte und atmete tief durch. „Tja, lange her, bestätigte er und seine Gedanken wanderten blitzartig in jene Jahre zurück, in denen er an der Volksschule an der Emser Straße unterrichtet hatte. „Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, vielleicht ...

    „Mein Name wird dir nach all den Jahren kaum noch etwas sagen. Aber du nanntest mich ,Schisser‘."

    Klessmann lachte kurz auf und zog die Mundwinkel nach unten. „Schisser, wieso nannte ich Sie so?"

    „Und du hast mir vor allen Schülern in der Turnstunde auf dem Schulhof eine schallende Ohrfeige verabreicht. Dämmert es langsam? Oder waren solche Züchtigungen üblich bei dir?"

    „Ohrfeige?, Klessmann wurde die Unterhaltung langsam unangenehm. Was wollte dieser Kerl von ihm? „Wahrscheinlich einen Klaps oder so. Aber warum?

    „Wenn ich Ohrfeige sage, dann meine ich Ohrfeige. Meine ganze Gesichtshälfte war anschließend feuerrot und brannte. Und von da an nannten mich auch alle Mitschüler immer nur ‘Schisser’."

    „Und warum hätte ich Sie so nennen sollen?" Klessmann betrachtete das Gesicht des Mannes und versuchte es mit Erinnerungen an ehemalige Schüler in Einklang zu bringen. Doch es misslang.

    „Erinnerst du dich wirklich nicht mehr? Man sagt dir doch ein gutes Gedächtnis nach. An deine dämliche Grünflächenbroschüre hast du dich doch auch sofort erinnert. Die Stimme des Mannes klang plötzlich kalt und hasserfüllt. „Ich war damals recht schmächtig und wir hatten Turnstunde, im Freien, auf dem Schulhof. Erst hast du uns im Entenmarsch laufen lassen. ‚Im Gleichschritt, Marsch!‘ Du hast mit einer kleinen Handtrommel den Takt militärisch vorgegeben, wie immer.

    Der Mann hatte recht. Diese Turnstunden waren Klessmann längst entfallen. Er sah sie aber plötzlich wieder vor sich, wie sie liefen, die Schüler, und er hatte mit einem alten, ausgedienten Holzlöffel getrommelt, weil ihm nichts anderes zur Verfügung gestanden hatte. Aber, was hatte das alles mit dem Jetzt zu tun, wieso sprach ihn dieser Mann ausgerechnet heute, nach fast fünfzig Jahren, darauf an?

    „Irgendwer hatte am Rand des Schulhofs Bretter, Balken und Holzböcke gelagert. Wahrscheinlich sollte etwas am Schulgebäude umgebaut oder repariert werden. Du bist auf die Idee gekommen, diese für Springübungen zu nutzen."

    „Duzen Sie mich nicht dauernd!", entfuhr es Klessmann mit erregter Stimme.

    Doch der Fremde fuhr ungerührt fort. „Wir mussten die Bretter und Balken zwischen die Böcke legen. Zuerst ging es los mit Hüpfen, dann wurden die Bretter und Balken höher gelegt und man musste springen, immer im Takt und immer höher."

    Klessmann konnte sich beim besten Willen nicht an eine solche Situation erinnern. Er wollte es auch gar nicht mehr. Möglich war alles. Außerdem wurde ihm kalt und er wollte in die Kirche gehen und beten. Deshalb wurde ihm der Kerl lästig. „Machen Sie’s kurz. Oder haben Sie vor, mir Ihr ganzes Leben zu erzählen?" Erneut versuchte er an dem Fremden vorbeizugehen, der wich jedoch nicht zur Seite. Also drehte sich Klessmann um und wollte um den BMW herumgehen. Doch der Mann hielt ihn am Mantelärmel fest.

    „Dann lagen die Balken so hoch, dass ich mich weigerte zu springen. Ich war wohl der Erste, der das Gefühl hatte, es nicht zu schaffen. Aber das hatte nichts mit Feigheit oder Angst zu tun. Ich sah keinen Sinn darin und wollte auch nicht stürzen und auf den Asphalt des Schulhofs hinfallen. ‚Spring!‘ hast du geschrien, ‚Spring!‘. Ich habe mich geweigert, ich, ein Erstklässler, der nicht gehorchte. So etwas gab es für dich nicht."

    Das Gesicht des Mannes hatte während der Beschreibung der Turnstunde Farbe bekommen, seine Erregung ließ die Backenmuskeln zucken und die Stirnhaut verlor unter der Anspannung ihre leichten Furchen.

    „,Schisser!‘ hast du gebrüllt. ‚Du Schisser springst jetzt!‘ Hinter mir war auch sofort das Echo meiner Mitschüler zu hören: ‚Schisser, Schisser, Schisser! Spring!‘ Dann hast du ausgeholt und deine flache Hand landete mit voller Wucht auf meiner rechten Backe."

    „Dann nenne ich Sie heute am besten auch noch ,Schisser‘, Herr Schisser!, lachte Klessmann spöttisch. „Und muss ich Ihnen jetzt auch noch eine Ohrfeige geben oder machen Sie bereitwillig den Weg frei? Doch sein leicht hämisches Lachen brach schlagartig ab. Der Mann vor ihm hatte blitzschnell eine Pistole auf ihn gerichtet. Klessmann blickte sich rasch um, niemand war zu sehen, den er zu Hilfe hätte rufen können. Es hätte auch wenig Zweck gehabt, denn der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Er wandte sich wieder dem Fremden zu. Fast gleichzeitig mit einem dumpfen Geräusch verspürte er einen merkwürdigen Schlag unterhalb der Nase. Es war das Letzte, was er noch mitbekam. Schon das Aufschlagen seines Körpers auf dem Boden nahm er nicht mehr wahr.

    Als Kriminalhauptkommissar Fuß und Kriminalhauptmeisterin Liane Esser vom Polizeipräsidium Koblenz am Tatort eintrafen, hatten die Besatzungen von drei Streifenwagen bereits die Umgebung weiträumig mit rotweißen Bändern abgesperrt. Entlang dieser standen inzwischen mehrere Dutzend Neugierige, die meisten wohl Touristen, die sich rein zufällig auf dem Weg zum Deutschen Eck oder Rheinufer eingefunden hatten. Ein ebenfalls herbeigerufener Notarzt und ein Rettungswagen waren noch vor Ort. Der Arzt betreute darin eine ältere Frau, die, wie einer der Uniformierten dem Hauptkommissar erklärte, den Toten entdeckt hatte. „Der Doc hat ihr inzwischen eine Infusion gelegt. Es geht ihr nicht gut, meint er."

    Fuß und Esser streiften ihre Handschuhe über und ließen sich zum Fundort der Leiche bringen.

    „Kümmern Sie sich um die Frau", bat Fuß seine Assistentin und beugte sich über den Toten. Das Gesicht war entstellt, der Schütze hatte genau zwischen Nase und Oberlippe gezielt. Er musste ein Profi und der alte Mann sofort tot gewesen sein. Soviel konnte Fuß bereits mit Sicherheit feststellen. Er öffnete vorsichtig die Knöpfe des Mantels und begann in den Innentaschen nach den Papieren des Ermordeten zu suchen. Dabei entdeckte er einen zweiten Einschuss. Diese Kugel war im mittleren Brustbereich eingedrungen und hatte offensichtlich ihr Ziel, das Herz, genau getroffen. Fuß vermutete, dass es sich hierbei um den zweiten Schuss handelte, den der Täter abgegeben hatte. Erst in der rechten Innentasche des Jacketts fand er eine abgegriffene braune Lederbrieftasche. Neben ein paar Geldscheinen, knapp zweihundert Euro, befanden sich darin ein Allergiepass, ein paar ältere Fotos sowie der Personalausweis und eine Abonnementplatzkarte des Stadttheaters Koblenz.

    „Gibt es irgendwelche Zeugen?", erkundigte sich Fuß bei dem Polizeibeamten, der ihn an den Fundort begleitet hatte.

    „Zwei Kollegen haben sich unter den Neugierigen bereits umgehört. Aber die sind alle erst hinzugekommen, als wir eintrafen und begonnen haben abzusperren."

    Fuß richtete sich wieder auf und blickte sich um. Der Fundort war kaum einzusehen, wenn, dann nur von einigen Fenstern der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

    „Und?", fragte Fuß Liane Esser, die in diesem Moment vom Rettungswagen zurückkehrte.

    Liane zuckte mit den Schultern. „Die Frau ist nicht ansprechbar. Der Notarzt hat ihr ..."

    „... eine Infusion gelegt. Sie wird also wahrscheinlich von der Rettung mitgenommen werden. Wissen Sie wohin?"

    „Ins Stift, antwortete die Kriminalhauptmeisterin und betrachtete die Leiche. „Weiß man schon, wer der Tote ist?

    „August Klessmann, zweiundachtzig Jahre, er wohnt in der Kornpfortstraße vierzehn."

    „Das müsste das Seniorenheim Eltzerhof sein, mischte sich der Polizist ein. „Soll ich das überprüfen?

    Fuß schüttelte den Kopf. „Das ist ja nur ein paar Meter von hier entfernt. Liane, fahren Sie hin und wenn der Tote wirklich dort wohnte, lassen Sie sich die Zimmernummer sagen und versiegeln Sie es sofort ... vorsorglich. Und fragen Sie gleich, ob jemand weiß, wann Klessmann das Heim verlassen hat und wohin er gehen wollte. Dann kommen Sie wieder hierher zurück."

    „Na, alle verwertbaren Spuren schon ordnungsgemäß beseitigt?", hörte Fuß die Stimme seines Kollegen Wilfried Schäfer hinter sich und drehte sich um.

    Neben dem knapp zwei Meter großen Fuß wirkte der normalgroße Hauptkommissar der Spurensicherung eher klein, dafür aber umso drahtiger.

    „Bevor du ihn mit Video aufnimmst und fotografierst, musst du die Mantelknöpfe wieder zumachen. Ansonsten haben wir nichts verändert", antwortete Fuß und streckte seinem Kollegen zur Begrüßung die Hand entgegen. Er zog sie jedoch sofort wieder zurück, als ihm bewusst wurde, dass er Handschuhe trug und diese bereits deutliche Blutspuren aufwiesen.

    Auch Schäfer betrachtete die Leiche. „Der hat von seinem Ableben nicht viel mitbekommen. Die Kugel ist sofort ins Kleinhirn eingedrungen. Da war ein Profi am Abzug, der wusste, wohin er schießen muss."

    „Es sei denn, der erste Schuss ging ins Herz. Fuß freute sich, dass auch Schäfer zunächst den Einschuss im Brustbereich übersehen hatte. „Ich bin mal drüben beim Notarzt.

    Während Schäfer und seine Kollegen begannen, den Tatort nach möglichen Hinweisen und Beweisstücken abzusuchen, machte sich Fuß auf den Weg zum Rettungswagen. Als er seinen Namen rufen hörte, drehte er sich um und entdeckte an der Absperrung Godehard Juraschek, den Fotografen, der auch als Fotoreporter für die Rhein-Zeitung tätig war. Er winkte ihm kurz zu, setzte aber seinen Weg rasch fort.

    Notarzt und Rettungssanitäter waren immer noch mit der Frau beschäftigt, die ihnen offensichtlich größere Probleme bereitete. Als der Notarzt Fuß erblickte winkte er deshalb auch sogleich ab. „Keine Chance! Da werden Sie sich wohl ein paar Stunden oder sogar einen ganzen Tag gedulden müssen."

    Der Hauptkommissar deutete auf eine kleine schwarze Handtasche und den grauen Stoffmantel, die jemand an einen der vielen Haken im Inneren des Rettungswagens gehängt hatte. „Sind das die Sachen der Frau?"

    Nachdem der Sanitäter kurz nickte, stieg Fuß die Stufen hinauf, griff zunächst nach der Tasche und warf einen kurzen Blick hinein. Im hinteren Fach eines Portemonnaies entdeckte er den Ausweis: Annette Kusel, geboren 1937. Dann durchsuchte er die Taschen des Mantels. Die Frau führte offenbar kein Handy mit sich. Sie mochte zwar die Leiche entdeckt haben, wer aber hatte die Polizei verständigt? Fuß blickte sich etwas hilflos um. Dann sprang er wieder aus dem Wagen, eilte auf die Menschen hinter dem Absperrband zu und rief mit seiner kräftigen Stimme, wobei er die Hände zu einem Trichter formte: „Ist derjenige unter Ihnen, der die Polizei verständigt hat?" Nachdem sich niemand meldete, ging er ein paar Schritte weiter und wiederholte die Frage. Doch auch hier erhielt er keine Antwort.

    „Fragen Sie bitte einmal bei der Führungseinsatzzentrale an, wann der Anruf erfolgte und ob man weiß, wer angerufen hat!", bat er einen der Uniformierten, der immer wieder versuchte, die Neugierigen zurückzudrängen. Er selbst ging zu seinem Kollegen Schäfer zurück, der dabei war, kleine Zahlentäfelchen rund um den Tatort aufzustellen, mit Video aufzunehmen, zu fotografieren, auszumessen und exakt zu skizzieren.

    „Der liegt noch keine Stunde hier, meinte Schäfer nachdenklich. „Außerdem ist das hier eindeutig der Tatort. Die Schüsse müssen aus nächster Nähe erfolgt sein, eine der beiden Kugeln hätte bereits gereicht, um den Mann zu töten.

    „Warum dann der zweite Schuss?"

    Schäfer zuckte mit den Schultern. „Offenbar wollte der Täter auf Nummer sicher gehen. Eifersucht darf man in Anbetracht des Alters des Toten wohl vernachlässigen."

    „Raubmord auch!, ergänzte Fuß. „In der Brieftasche sind etwa zweihundert Euro. Aber vielleicht trug er ja eine Tasche bei sich ...

    Der Streifenbeamte, den Fuß beauftragt hatte, bei der Notrufzentrale anzufragen, kam auf die beiden Hauptkommissare zugeeilt.

    „Also, der Anruf erfolgte genau um zehn Uhr zweiunddreißig. Der Anrufer meldete sich mit ‚Dimmler‘, das hier ist seine Handynummer." Er reichte Fuß einen kleinen Zettel. Der zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer. Es dauerte nicht lang bis sich Herr Dimmler meldete. Er saß in einem Reisebus und war auf dem Weg nach Köln.

    „Ich kann Ihnen überhaupt nichts sagen. Meine Frau und ich sind mit einer Reisegruppe auf einer Rheintour. Ich habe vor der Abfahrt des Busses noch allein einen kleinen Spaziergang gemacht und wurde dabei von dieser aufgeregten alten Dame angesprochen und gebeten, die Polizei zu rufen. Sie hat mir nicht einmal gesagt, worum es ging. Nur, die Polizei solle schnell zu dem Pastorenhof ..."

    „Kastorhof!", korrigierte ihn Fuß.

    „Also auch gut, Kastorhof ... Sie

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