Tschernobyl: Die Katastrophe
Von Johannes Grotzky
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Über dieses E-Book
In jener Zeit gab es weder Handy noch Internet, weder Satelliten-TV noch E-Mail, weder Facebook noch Twitter, Snapchat oder Instagram. Nur über Kurzwelle waren im Radio aktuelle Informationen aus dem Ausland zu empfangen. Auslandskorrespondenten in Moskau durften nicht einmal frei telefonieren, weder innerhalb der Sowjetunion noch ins Ausland. Unter diesen Bedingungen sind die hier dokumentierten Texte entstanden. Sie werden ergänzt von einer rückblickenden Einschätzung drei Jahrzehnte nach der Katastrophe.
Johannes Grotzky
Johannes GROTZKY, Dr. phil. (*1949), Studium der Slawistik, Balkanologie und Geschichte Ost- und Südosteuropas in München und Zagreb. Weitere Studienaufenthalte in Belgrad, Sarajewo und Skopje. 1983-1989 ARD-Hörfunkkorrespondent in Moskau. 1989-1994 Balkankorrespondent und Leiter des ARD-Hörfunkstudios Südosteuropa in Wien. Anschließend Chefkorrespondent, Chefredakteur sowie 2002-2014 Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks. Honorarprofessor für Osteuropawissenschaften, Kultur und Medien an der Universität Bamberg.
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Buchvorschau
Tschernobyl - Johannes Grotzky
Johannes GROTZKY, Dr.phil. (*1949)
Studium der Slawistik, Balkanologie und Geschichte Ost- und Südosteuropas in München und Zagreb. 1983-1994 ARD-Korrespondent in Moskau und Wien (Südosteuropa). 2002-2014 Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks. Honorarprofessor für Osteuropawissenschaften, Kultur und Medien an der Universität Bamberg.
Inhalt
Warum dieses Buch?
Zur Chronologie der Katastrophe
Belastungen für die Zukunft
Wie alles begann
1986
In der Presse keine Zeile
Weiterhin Schweigen
Irreführung
Erste Reaktionen
Kritik am Westen
Erste Bilder im Fernsehen
Brief des westdeutschen Botschafters in Moskau (I)
Der Zeitpunkt der Explosion
Mehr Fragen als Antworten
Chef der IAEA korrigiert Moskau
Kritik und Umschwung der Informationspolitik
Was bisher geschah
Beruhigungskampagne der Medien
Brief des westdeutschen Botschafters in Moskau (II)
Erste TV Reportage vor Ort
Wirtschaftliche Folgen
Gorbatschow fordert Konsequenzen
Hilfe aus den USA
Offene Reaktionen
Armand Hammer
Dreißigtausend Quadratmeter entseucht
Mehrfrontenkrieg
Ratschläge gegen Radioaktivität
Akademiemitglied Welichow zum Unglück
Erster Untersuchungsbericht
Ein Rockstar betet um Errettung
Der Kampf wird fortgesetzt
Verantwortliche benannt
Gorbatschows Abrechnung
Mythen und Wirklichkeit
Keine kritische Jugend
Leserdiskussion zur Kernenergie
TV Dokumentation weckt hohe Erwartungen
Immer noch Unklarheiten
Die Folgen von Tschernobyl
Heroischer Kampf auf dem Bildschirm
Jahresrückblick
1987
„Warnung" - Neuer Dokumentarfilm über Tschernobyl
Urteile im Tschernobyl Prozess
Kommentar zum Urteil im Tschernobyl Prozess
1988
Zwei Jahre Tschernobyl
Besuch in Tschernobyl
1989
Gorbatschow in Tschernobyl
Tschernobyl nach drei Jahren
30 Jahren später - Rückblick auf die Katastrophe
Warum dieses Buch?
Die Deutsche Nationalbibliothek verfügt über 800 deutsche Buchtitel zum Themenbereich Tschernobyl.¹ Noch eindrucksvoller ist eine Recherche im internationalen Bereich. Der Hollis-Katalog der Harvard Library, die 79 Bibliotheken umfasst und mit einem Bestand von 16,8 Millionen Bänden zu den größten Bibliotheken der Welt zählt, weist fast 108.000 Publikationen² aller Medienarten (Bücher, Zeitschriftenartikel, Dissertationen, Online basierte Materialien, Videos, Konferenzpapiere, Vorträge)³ in zahlreichen Sprachen - darunter auch Russisch - zur Katastrophe von Tschernobyl aus. Ergänzt um die transkribierte ukrainische Schreibweise „Chornobyl" kommen weitere fast 5.000 Titel hinzu. Im Grunde genommen ist jeder erdenkliche Aspekt der Katastrophe aus jedem Blickwinkel beleuchtet. Fast alle Fakten sind mit wenigen Ausnahmen bekannt⁴. Die Verantwortlichen sind benannt und zur Rechenschaft gezogen. Die Opfer, die der Katastrophe erlegen sind, und jene Opfer, die ein Leben lang an den Folgen der Verseuchungen werden leiden müssen, haben öffentliche Anteilnahme erhalten, wenngleich niemand diese furchtbaren Schäden an Leib und Leben jemals wirklich wiedergutmachen kann.
Warum also jetzt dieser kleine Band zu Tschernobyl, nachdem alles Entscheidende publiziert worden ist?
Alles, was nach der Katastrophe von Tschernobyl veröffentlicht wurde, konnte sich im Rückblick auf viele Informationen und Erkenntnisse berufen. Insofern gilt für diese Bestandsaufnahme dieselbe Regel wie für die Kriegsberichterstattung: Die wirkliche Berichterstattung findet erst nach Abschluss des Krieges statt, wenn alle Quellen zugänglich sind und alle Seiten gehört wurden.
Doch wie in jedem Krieg gab es auch während der Katastrophe von Tschernobyl eine - das Ereignis begleitende - Berichterstattung, die teilweise gekennzeichnet war von Nicht-Wissen, von Informationsdefizit und Informationsunterschlagung, von Spekulationen, Ängsten und Gerüchten. Und genau davon handelt dieses Buch.
Als Korrespondent in Moskau von 1983 bis 1989 konnte ich die Agonie unter den kränkelnden Generalsekretären Andropow und Tschernjenko sowie den Aufbruch zu einer gewagten Reformpolitik unter Michail Gorbatschow erleben. Gerade Gorbatschow versuchte nach seinem Amtsantritt (März 1985) mit der Forderung nach mehr Offenheit (Glasnost) und einem Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft (Perestrojka), die Sowjetunion zu einem konkurrenzfähigen Modell gegenüber der westlichen Welt zu entwickeln. Ausgerechnet in der Aufbruchphase dieser Reformpolitik - zum Ende seines ersten Amtsjahres - hat sich die Katastrophe von Tschernobyl (April 1986) ereignet. Trotz der neuen Offenheit erfuhren wir Korrespondenten in Moskau - wie auch die gesamte Weltöffentlichkeit - fast zwei Tage nichts von den Ereignissen im vierten Reaktorblock von Tschernobyl in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986. Im Westen war bereits erhöhte Radioaktivität gemessen worden, die eindeutig aus der Sowjetunion herrührte. Rundfunksender riefen an und wollten Genaueres wissen. Ich erinnere mich noch, wie ich in meiner ersten Reaktion behauptete, wenn es sich wirklich um eine radioaktive Explosion innerhalb der Sowjetunion handele, dann wäre Gorbatschow der erste, der mit seiner Politik von Glasnost damit an die Öffentlichkeit ginge. Doch nichts passierte und wir Korrespondenten hatten demnach auch nichts zu berichten.
Erst zwei Tage später, am 28. April um 21:02 Uhr Moskauer Zeit veröffentlichte TASS im russischen und englischen Dienst eine lapidare Meldung, die aus vier kurzen Sätzen bestand. Dabei wurde ein Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl zugegeben, bei dem auch ein Reaktor beschädigt worden sei. Man habe Maßnahmen unternommen, um die Folgen des Unglücks zu beseitigen. Den Betroffenen sei Hilfe geleistet worden. Eine Regierungskommission sei eingesetzt worden.
Mit dieser TASS-Meldung beginnt der dokumentarische Teil dieses Buches. Er besteht im Wesentlichen aus Radioberichten, Reportagen und Kommentaren, die ich als Moskauer Korrespondent in der Zeit vom 28. April 1986 bis zum 26. April 1989, also dem dritten Gedenktag der Katastrophe, für die Hörfunksender der ARD, verfasst habe. Die Übermittlung dieser Beiträge lag in der Verantwortung des Westdeutschen Rundfunks, der innerhalb der ARD für das Moskauer Studio zuständig war. Ferner habe ich hier einige Beiträge für die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT⁵ aufgenommen, die damals noch keinen eigenen Korrespondenten in Moskau hatte.
In diesen Zeitraum fällt auch - zwei Jahre nach dem Unglück - meine einzige Reise, die ich zum zerborstenen Reaktorblock und an den verstrahlten Ort Prypjat unternommen habe.
Diese Berichte zeugen anfänglich von der Hilflosigkeit, der wir Journalisten - russische wie ausländische - ausgesetzt waren, weil in der Tat auch viele Verantwortliche am Ort des Geschehens in Tschernobyl Informationen, die für Moskau bestimmt waren, gefälscht oder gar unterschlagen haben. Um so dramatischer setzte sich dann Glasnost durch und es entstand ein neuartiger, investigativer sowjetischer Journalismus, der das Drama von Tschernobyl in all seinen Facetten nachzeichnete. Auch diese Entwicklung lässt sich anhand der zeitgenössischen Berichte nachvollziehen.
Vorgeschaltet ist diesem dokumentarischen Teil des Buches ein kurzgefasster chronologischer Überblick über die Ereignisse, wie man ihn rückblickend und in Kenntnis vieler Quellen schreiben kann, die heute zur Verfügung stehen. Dem folgt ein weiteres kurzes Kapitel über die Belastungen, die den verseuchten Gebieten und ihren Bewohnern auch für die kommenden Jahrzehnte noch bevorstehen. Mit dem Schauer der Ungeheuerlichkeit wird der Leser dabei zur Kenntnis nehmen, dass heute von Kiev aus so genannte „Augen öffnende Erlebnistouren in die „post-apokalyptische Welt
von Tschernobyl und Prypjat angeboten werden.
Den Abschluss des Buches bildet der Abdruck eines fast 45-minütigen Fernsehgespräches, das der Bildungskanal ARD-alpha mit mir aufgezeichnet und zum 30. Jahrestag der Katastrophe ausgestrahlt hat. Im Rückblick kann man dabei sowohl die unsichere Einschätzung der ersten Tage in jenem April 1986 wie auch den monströsen Umfang dieses Unglücks und seiner Folgen, wie er sich heute darstellt, nachvollziehen.
Insgesamt soll dieses Buch damit einen kleinen Beitrag zum realistischen Umgang mit dem Krisenjournalismus leisten wie er zu einer Zeit stattfand, als es weder Internet, noch Handy oder gar E-Mails oder Satellitenfernsehen gab. Die eigene Recherche beschränkte sich wochenlang auf das Bemühen um telefonische Kontakte zur Bevölkerung in den betroffenen Gebieten. Dabei gab es keine freie Telefondurchwahl und die Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung wurden - ebenso wie wir Korrespondenten - von „den Diensten abgehört. Auch so genannte „informierte Kreise
auf sowjetischer Seite erwiesen sich oft als Plaudertaschen, um den Schrecken der Katastrophe kleinzureden.
Von besonderer Spannung war die Lage für unsere Angehörigen und Familien in Moskau. Über westliche Rundfunksender auf Kurzwelle oder aus westlichen Zeitungen, die mit tagelanger Verspätung in Moskau ankamen, erfuhren sie zuweilen dramatische Übertreibungen - vereinzelt sogar von Tausenden von angeblichen Toten, die aufgrund von Messdaten im Westen in der Sowjetunion „vermutet" wurden. In diesem Zusammenhang sind auch die Briefe des deutschen Botschafters in Moskau an seine dort lebenden Landsleute interessante Zeugnisse der Zeitgeschichte, die nun dreissig Jahre später hier ebenfalls dokumentiert werden.
Es sei daran erinnert, dass wir uns als Korrespondenten von Moskau aus gegen die Hysterie in zahlreichen westlichen Boulevardmedien durchsetzen mussten, die wider besseres Wissen von einer angeblichen Todeswolke über Europa sprachen und Zahlen von zweitausend und mehr Toten als so genannte gesicherte Tatsache verbreiteten.⁶
Das Gegenteil zu beweisen, war uns als Korrespondenten ebenso unmöglich, wie wir umgekehrt auch solche Behauptungen nicht bestätigen konnten. Die Schlagzeilen von damals belegen bis heute diese unverantwortlichen Spekulationen, aber auch die Herausforderung, darauf als Journalisten verantwortungsvoll zu reagieren.
¹ https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=Tschernobyl
² https://hollis.harvard.edu/primo-explore/search?query=contains,con-tains,Chernobyl&vid=HVD2&search_scope=everything&sortby=rank&tab=everything&lang=en_US&mode=simple&fromRedirect Filter=true (Aufruf 10.01.2018).
³ Unter dem Schlagwort „Chernobyl" finden sich unter anderem 6.537 Bücher, 5.390 Dissertationen, 54.645 Zeitschriftenartikel, 30.697 Zeitungsartikel, 2.605 Rezensionen, 1.203 Konferenzdokumente, 434 Webseiten, 194 Technische Berichte sowie über 139 audiviosuelle Medien einschließlich Videos und Filme. Ebd. (Aufruf 20.01.2018).
⁴ So ist bis heute unklar, was sich unter der Ruine des vierten Reaktorblocks, der als Sarkophag versiegelt ist, wirklich an verseuchtem Material befindet, welche Wirkung langfristig davon ausgeht und wie nachfolgende Generationen dieses gefährliche, radioaktive Erbe werden handhaben können.
⁵ Diese Beiträge sind als Anmerkungen mit Quellenbeleg als Fußnote ausgewiesen.
⁶ Quelle der Zeitunsgabbildungen: https://www.registerciti-zen.com/news/article/Photos-On-this-day-in-1986-world-s-worst-12025603.php
Zur Chronologie der Katastrophe
Minuten-, ja sogar sekundengenau ist die Katastrophe von Tschernobyl inzwischen von Befürwortern⁷, Gegnern⁸ und neutralen Beobachtern⁹ der Kernenergie aufgearbeitet worden.
Daher wissen wir, dass am 26. April 1986 nachts um ein Uhr, dreiundzwanzig Minuten und vier Sekunden ein Leistungstest im vierten Reaktorblock vorgenommen wurde, über den die anwesenden Fachleute die Kontrolle verloren haben. Nachdem auch die Notabschaltung versagt hatte, brach ein Brand im radioaktiven Kern des Reaktors aus. Genau um 01:23:48 Uhr explodierte der Reaktor, also nicht einmal eine Minute nach dem Beginn des Testlaufs. Allein daraus wird klar, wie überfordert die Verantwortlichen im Reaktor waren, die nicht nur zahlreiche Fehlentscheidungen getroffen hatten, sondern auch die Informationen über die beginnende Katastrophe nicht rechtzeitig und vollständig weitergegeben haben.
Auf diese hereinbrechende Katastrophe¹⁰, bis dahin die größte, die sich in einem Kernkraftwerk ereignet hatte, war die Sowjetunion in keiner Weise vorbereitet. Nachdem in Schweden, Dänemark und Finnland stark erhöhte radioaktive Messungen registriert worden waren, ließ die sowjetische Führung eine nur vierzeilige Meldung durch die amtliche Nachrichtenagentur TASS verbreiten, in der das Unglück lapidar bestätigt wurde.
Der damalige sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow, Begründer der Politik von Glasnost und Perestrojka, ließ fast drei Wochen verstreichen, bevor er selbst im Fernsehen zu dem Unglück Stellung nahm. Doch die Sowjetunion - und nach dem Zerfall der UdSSR später dann die Ukraine sowie Weißrussland - sollten noch Jahrzehnte an der Bewältigung dieser Katastrophe zu arbeiten haben.
Ein bemerkenswertes Dokument wurde viele Jahre später in den Stasi-Unterlagen der DDR gefunden. Offiziell hatte die Regierung der DDR – ebenso wie westlich Staaten – zunächst keine zuverlässigen Informationen über das Unglück und seine Folgen erhalten. Doch der IMS „Werner Lorenz" hat am 14. Juni 1986, also gut sechs Wochen nach der Katastrophe, einem Major der Staatssicherheit der DDR namens Wohleben in Moskau zwischen 20 und 22 Uhr abends einen vertraulichen, sehr detaillierten Bericht protokolliert, der einer stenographischen Mitschrift gleichkommt.
Es geht darin um ein Treffen des DDR-Enegieministers Mitzinger mit seinem sowjetischen Kollegen Majorez und dem Vorsitzenden des sowjetischen Komitees für die Atomenergie, Petrosjanz (Petrossjanz). Mit erstaunlicher Offenheit, für die später Andronik Petrosjanz auch im Westen bekannt wurde, wird in diesem Bericht bereits der genaue