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Politik der Angst: 9/11 und die Folgen
Politik der Angst: 9/11 und die Folgen
Politik der Angst: 9/11 und die Folgen
eBook292 Seiten3 Stunden

Politik der Angst: 9/11 und die Folgen

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Der "Krieg gegen den Terror" und seine falschen Ziele

Es waren Stunden, die den Lauf der Welt veränderten. Als ORF-Korrespondent in Washington erlebte Peter Fritz am 11. September 2001, wie eine Nation auf dem Höhepunkt ihrer weltweiten Macht gedemütigt wurde. Die Reaktion der USA war eine Politik der Angst, mit Auswirkungen für die ganze Welt. Auf erste scheinbare Erfolge in Afghanistan und Irak folgte die ernüchternde Erkenntnis, dass der Preis die Menschenrechte waren, dass nun Kriegsrecht statt Rechtsstaat galt. Im Sicherheitswahn gefangen, haben die USA ihre wirtschaftliche Vormachtstellung ebenso wie ihre moralische Integrität verloren. Im globalen Rennen um geistigen Einfluss und kulturelle Dominanz befinden sie sich in einer prekären Situation. Kann Amerika seinen Abstieg als Weltmacht verhindern?

In seinem neuen Buch zieht Peter Fritz zehn Jahre nach den Terroranschlägen von New York Bilanz und macht deutlich: Der "Krieg gegen den Terror" hat auf falsche Ziele gesetzt.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum6. Sept. 2011
ISBN9783701742363
Politik der Angst: 9/11 und die Folgen

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    Buchvorschau

    Politik der Angst - Peter Fritz

    Fritz

    Teil I

    IM ZEICHEN DES TERRORS

    Der lange Tag

    Blau, ein endloses, tiefes Blau, von keiner Wolke getrübt. So hat der Himmel über Washington und New York ausgesehen an diesem Tag. Wenn Sie mit Amerikanern über den 11. September 2001 reden, dann werden sie über kurz oder lang immer wieder auch davon sprechen. Was für ein prächtiger Spätsommertag das doch gewesen sei. Ein Tag, an dem das Alltagsleben gerade wieder begonnen hatte, an dem die Schulen wieder den Unterricht aufnahmen nach den langen Ferienmonaten, an dem die Leute wieder an die Arbeitsplätze strömten statt an den Strand. Einer von ihnen hieß George W. Bush, war Präsident der Vereinigten Staaten und ließ die Amtsgeschäfte nach einem langen Ranch-Urlaub in Texas recht gemütlich wieder angehen.

    Er war in eine kleine Schule in Florida gefahren, um Schülern der zweiten Schulstufe die Freuden des Lesens beizubringen. Ein Präsident, der weit weg war, beschäftigt mit einem nur mäßig aufregenden Pensum, das schien auch für uns Journalisten ein paar ziemlich ruhige Tage zu verheißen.

    »Peter!« Der Ton kommt ziemlich schrill und stark gepresst durchs Handy. »Peter, schalte deinen Fernseher ein!« Am Telefon ist Irene Gangel, die Hauptsekretärin der Fernsehauslandsredaktion, eine Dame, der man nicht widerspricht. »Ein Flugzeug ist ins World Trade Center in New York geflogen!« Der von mir schnell angeworfene Fernseher zeigt – ein Basketballmatch. »Na, so groß kann die Story aber nicht sein«, brumme ich ins Telefon, nach Handtuch, Gewand und Fernbedienung angelnd, während ich zugleich das Handy am Ohr belassen muss. Ich bin nämlich gerade aus der Dusche gestiegen, und das Handy ist das Einzige, was ich am Leibe trage. »Doch, doch, das ist groß!«, belehrt mich Irene ungerührt. Wie gesagt, man sollte ihr nicht widersprechen. Aber erst nach einer längeren Schrecksekunde fällt mir ein, dass die Kabelgesellschaft bei mir vor Kurzem die Abfolge der Fernsehkanäle umgestellt hat. Auf dem Kanal, den ich für CNN gehalten hatte, läuft weiter Basketball, aber nach und nach beginnt auf jedem anderen Kanal die Silhouette der New Yorker Zwillingstürme aufzutauchen. Die Kameras, die das Geschehen festhalten, sind eigentlich für den Wetterbericht gedacht, bringen normalerweise den üblichen morgendlichen Liveblick über die Skyline in Amerikas Haushalte. Nun werden sie hastig auf den rauchenden Nordturm des World Trade Center fokussiert. Dicker Rauch dringt hervor, und ratlose Fernsehkommentatoren versuchen, dem, was da zu sehen ist, einen Sinn abzugewinnen. War es ein Kleinflugzeug, das sich verirrt hat? Es scheint die plausibelste Erklärung zu sein. Aber wer verirrt sich im Luftraum über New York an so einem prachtvollen Schönwettertag, mit klarer Sicht über Dutzende Kilometer?

    Mit vollem Schub, aber trotz des Tempos deutlich eingefangen von den adaptierten Wetterkameras, rast des Rätsels grauenhafte Lösung heran. Der Einschlag des zweiten Flugzeugs in den Südturm, live miterlebt von Millionen Menschen. »Now it’s clear. That’s an attack«, sagt eine Stimme im Fernsehen. Ja, in diesem Moment ist es allen klar. Ein Angriff auf Amerika hat begonnen, ein Angriff mitten hinein in die stolz emporragenden Türme und damit auch mitten hinein ins Selbstbewusstsein der Nation.

    Ich sitze noch immer in meinem Schlaf- und Ankleidezimmer in Washington, habe zwischen dem einhändigen Überziehen von Socken und Hemd rund fünf Telefonate absolviert und fasse einen ersten Plan. Mit Graham Scott, unserem Kameramann, den alle Welt nur Scotty nennt, habe ich schon telefoniert. Er wohnt mitten in der Stadt, könnte in kürzester Zeit zum Flughafen kommen. Wir verabreden, uns dort zu treffen. Alles weitere werde sich dann ergeben. »Schätzchen, ich muss nach New York!«, rufe ich meiner Frau Bea zu, die herbeigeeilt ist und mit mir fassungslos den zweiten Angriff verfolgt hat. »Okay«, ruft mir Bea zu. »Ich kann dich zum Flughafen bringen.« Sie schwingt sich auf den Fahrersitz unseres Minivans und wir sausen los. Ich drehe am Autoradio herum. Das sonst so zuverlässige und souveräne NPR (National Public Radio) ist vollkommen von der Rolle, spielt nichtssagende Beiträge aus aller Welt und schaltet zwischendurch kurz über Telefon Augenzeugen aus New York ins Programm, die nur wenig mehr zu berichten wissen als das, was ohnehin jeder Fernsehzuschauer sieht. Später wird NPR einen Medienpreis für seine ausgezeichnete Berichterstattung am 11. September bekommen. Die chaotischen ersten zwei Stunden des Programms dürften die Juroren überhört haben.

    Wir rollen über den MacArthur Boulevard, die wichtigste Verbindungsstraße zwischen unserem Vorort und Washington. Der National Airport ist unser Ziel, der Flughafen, von dem jede halbe Stunde der »Shuttle« startet, die meistfrequentierte Flugverbindung zwischen der Hauptstadt und New York. Das Rollen wird zum Stehen, der Verkehr in Richtung Hauptstadt stockt. Mein Handy läutet. Scotty ist am Telefon. Er ist schon am Flughafen, aber er hat erfahren, dass es mit dem Fliegen nichts mehr werden dürfte. »Da ist nämlich auch hier etwas passiert, beim Pentagon«, meint er. Näheres wisse auch am Flughafen noch keiner. Das Pentagon, das gigantische Hauptgebäude des US-Verteidigungsministeriums, liegt genau zwischen unserer Autokolonne und dem Flughafen, und als wir einen Hügel hinter uns bringen, der den Blick verstellt hat, sehen wir auch schon den nächsten Boten des Unheils an diesem Tag: Eine riesige Rauchsäule steigt über dem Pentagon auf. Bea bleibt völlig ruhig, hält ihren Kurs in Richtung Flughafen. Aber als wir uns dem Pentagon auf einen halben Kilometer nähern, ist Schluss: Feuerwehrautos rasen in Richtung Rauchsäule, aber uns beiden versperrt die Polizei den Weg. New York scheidet als Flugreiseziel aus, so viel ist sicher.

    Immer wieder habe ich vom Beifahrersitz aus versucht, mit meinem Handy eine Verbindung nach Wien zu bekommen. Immer wieder Besetztzeichen. Kein Wunder, denn ganz Amerika will telefonieren in diesem Moment. Aber dann gelingt es doch. Ich habe die geheime Durchwahl gewählt, über die man sich direkt in die Sendung schalten lassen kann. Redaktion und Regie zögern etwas, ich höre die aufgeregten Rufe, die durch den Wiener Newsroom hallen. »Der Peter Fritz ist beim Pentagon!« – »Gibt’s nicht!« – »Doch, er sieht den Rauch!« – »Na gut, schaltet’s ihn rein.« Auf ORF 2 ist die Sondersendung zu den Anschlägen in vollem Gang. Noch weiß keiner, dass es die längste Sendung in der Geschichte des ORF werden wird, länger als die vielen Stunden, die mein Sender seinerzeit für die Mondlandung aufgewendet hat. Eugen Freund, mein langjähriger Chef und Vorgänger in Washington, sitzt am Wiener Moderatorentisch, zusammen mit Hannelore Veit. Ich schildere meine Eindrücke, berichte vom Rauch über der Szene und vom Großeinsatz der Feuerwehr. Was die Ursache betrifft, so bin ich auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Ich habe im Autoradio Aussagen gehört, wonach es auch in diesem Fall ein großes Passagierflugzeug gewesen sein dürfte, das vom Westen her ins Pentagon gerast ist. Ich gebe die Aussagen, live auf Sendung in Wien, mit aller Vorsicht weiter. Noch kann niemand mit irgendwelchen gesicherten Informationen aufwarten.

    Der Hauptschauplatz ist New York, auch in unserer Sondersendung. Die Bilder der Livekameras von der Skyline spielen die Hauptrolle, so wie überall auf der Welt. Aber als klar wird, dass sich auch rund um Washington etwas abspielt, da weitet sich das Bild, und aus einer gezielten Attacke auf ein US-Symbol mit zwei Türmen und Tausenden von Menschen wird ein viel breiter angelegter Angriff auf das Herz des amerikanischen Systems.

    Es ist dieser Moment, in dem auf einmal alles möglich zu sein scheint. Gerüchte mutieren in kürzester Zeit zu angeblichen Neuigkeiten. Selbst das einigermaßen seriöse CNN berichtet aufgeregt von einer Autobombe, die beim US-Außenministerium explodiert sein soll. Es dauert ziemlich lange, bis sich diese Information als falsch und grundlos erweist. Noch bunter geht es auf diversen Lokalsendern zu, durch die ich mich im Autoradio durchschalte. Das Washington Monument, der riesige Obelisk im Zentrum der Stadt, sei gesprengt worden, heißt es da.

    Es gibt in Washington keine Hochhäuser, weil nichts in der Stadt höher aufragen soll als das Washington Monument. Aber es gibt ein paar hohe Bürotürme gleich außerhalb der Stadtgrenzen, in Rosslyn, nahe dem Pentagon, dort, wo wir gerade unterwegs sind. Wir sehen Ströme von Tausenden von Menschen, die jetzt aus diesen Gebäuden flüchten, hinaus ins Freie, auf die breiten, aber sonst sehr wenig genutzten Gehsteige, die sich nun bis zum Bersten füllen. Die meisten tragen das übliche, konservative Outfit der Washingtoner Büromenschen aus Politik und Verwaltung, also Anzüge für die Herren in Grau, Schwarz oder Blau und Kostüme für die Damen, die ein wenig bunter ausfallen können, aber ebenso unaufgeregt wirken sollen. Im üblichen Bürobetrieb soll das geschäftsmäßige Solidität verkörpern, jetzt, im Angesicht des Chaos, wirkt es nur noch deplatziert. Der Blick der Massen wandert ständig, von der Straße zu den Gebäuden, von den Gebäuden in die Luft. Da könnte etwas direkt auf uns zukommen, scheint der Blick zu verheißen, und es ist das erste Mal, dass ich hinüber zum Fahrersitz schaue und mir denke, was für ein Leichtsinn das ist, dass Bea und ich jetzt gemeinsam im selben Auto sitzen, mitten in einer möglichen Zielscheibe, weit weg von unseren Kindern.

    Wir sind an der Polizeisperre vor dem Pentagon umgekehrt, rollen langsam zurück in die Stadt, über die Key Bridge, die den Hauptstadtfluss Potomac überspannt. Von dort bietet sich ein prächtiger Blick – über das vollkommen intakte Washington Monument. Na, wenigstens etwas, denke ich mir, und als ich wenig später wieder live auf Sendung bin, kann ich zumindest ein Stück absolut sicherer Information beitragen. Das Washington Monument, es steht noch.

    Kurz vor zehn Uhr wirft mich Bea vor dem ORF-Büro ab. Seit den Achtzigerjahren besitzt der ORF dieses Haus, ein typisches »townhouse«, eine Art Reihenhaus also in (nachgemacht) altenglischer Manier, mit roter Ziegelfassade, drei Stockwerken übereinander, ganz engen Verbindungstreppchen dazwischen und winzigen Zimmern. Es befindet sich außerhalb des Stadtzentrums, im traditionsreichen und gediegenen Ausgehviertel Georgetown. Oft habe ich gelästert über die Wahl des Standortes, hätte es für besser gehalten, näher dem Zentrum zu sitzen, wo die Schauplätze der Macht bequem zu Fuß erreichbar wären. Aber an diesem Tag bin ich recht froh darüber, dass wir hier etwas weiter weg von den heißen Zentren sind, noch dazu in einem sehr niedrigen Gebäude.

    Das ORF-Korrespondententeam in Washington besteht in diesen Tagen aus drei Personen. Neben mir als frisch ernanntem Leiter ist Hartmut Fiedler dabei, ein alter Freund und Profi, der aus dem Radio kommt und die dortigen Mechanismen und Strukturen im kleinen Finger hat. Er wohnt gleich nebenan, war als Erster im Büro und hat sich sofort in das Abenteuer gestürzt, drei ORF-Radiokanäle praktisch gleichzeitig mit aktuellen Informationen zu versorgen. Direkt neben ihm sitzt unsere jüngste Kollegin, die ebenfalls sofort aus ihrer Wohnung in der Nähe herbeigeeilte Barbara Wolschek. Sie ist erst seit einem Monat in Washington. Bis zu diesem 11. September hatte es für sie bei uns nicht allzu viel zu tun gegeben. Erst vor Kurzem hatte sie sich bei mir über den doch recht faden Büroalltag beklagt. Nur zu einer größeren Fernsehgeschichte war sie in den ersten Wochen eingeteilt worden. Die hatte mit der Angst vor einem neuartigen Stechmücken-Virus zu tun. Sowohl Scotty, der Kameramann, als auch ich hatten ihr versichert, so ruhig werde es im Büro nicht bleiben. Wie recht wir hatten, wussten wir bald darauf. Und Barbara Wolschek hat seither nie wieder über Arbeitsmangel geklagt. Sie musste praktisch aus dem Stand von einer jungen, zur Ausbildung entsandten Nachwuchskorrespondentin zur Kriegs- und Krisenberichterstatterin werden und hat die Herausforderung mit Bravour gemeistert.

    Hartmut und Barbara hängen unter ihren Kopfhörern und geben stoisch und professionell einen Radiobericht nach dem anderen durch. Die Sendeleitungen, über die unsere Tonsignale nach Wien gehen, sind ziemlich stabil. Handy- und Festnetztelefon dagegen werden immer öfter zur Glückssache. Und E-Mails kann man zwar verschicken und mit Glück auch empfangen, aber es kann einen halben Tag oder länger dauern, bis die Botschaften ans Ziel kommen. Keine Frage, da wird jetzt von interessierter Seite schon um vieles intensiver mitgelesen bei allem, was über amerikanische Drähte ins Ausland geht.

    Fassungslos verfolgen wir, wie die beiden Türme des World Trade Center in sich zusammensinken. Ich will zunächst nicht glauben, dass das so einfach passieren kann. Ich vermute, da wären vielleicht zusätzliche Sprengladungen in den unteren Stockwerken der Türme versteckt gewesen. Es will mir zunächst nicht in den Kopf, dass eine Konstruktion so zusammensacken kann, wenn doch eigentlich nur ihr oberster Teil schwer beschädigt ist. Aber bald bestätigen Experten, dass der Einsturz eine völlig logische Folge der Attacken sein musste. Wenn die schweren Massen eines Gebäudes einmal ins Rutschen kommen, dann gibt es von ganz oben bis ganz unten kein Halten mehr. Die Entführer hatten ganz bewusst Flugzeuge ausgewählt, die zu Langstreckenflügen an die US-Westküste abgehoben hatten. Denn deren Kerosintanks waren voll, die verheerende Wirkung ihrer Explosion auf die Stahlträger des World Trade Center war damit garantiert. Und Osama bin Laden hatte als gelernter Bauingenieur auch gewusst, dass eine derartige strukturelle Beschädigung den Einsturz praktisch zwingend zur Folge hat.

    Im Obergeschoss des Washingtoner Büros steht unser Fernsehstudio. Es ist nur ein winziger Raum, dekoriert mit einer Fototapete, die das Weiße Haus bei Schönwetter zeigt. Zwei Zimmer weiter gibt es mir einen Ruck: Ich sehe direkt von unserem Bürofenster aus, wie über dem Pentagon eine riesige Rauchsäule aufsteigt. »Doug, Scotty!« Unsere Techniker sind an Bord. Beide sind als Meister im Improvisieren bekannt. »Wie lang ist unser Kamerakabel?«, frage ich. »Das kriegen wir hin«, ist die Antwort, und wenig später steht unsere Studiokamera vor dem Bürofenster Richtung Pentagon. Als wir wenig später live auf Sendung gehen, kann ich ganz unmittelbar darstellen, was den Himmel über Washington jetzt dominiert. Der dicke, dunkle Rauch, der vom Pentagon aus hochsteigt, erscheint jetzt im Bild der Livekamera direkt über meinen Schultern, nur rund zwei Kilometer Luftlinie von uns entfernt.

    Zu den üblichen Klischees gehört es, dass in einem Nachrichtenbetrieb stets große Hektik herrscht, vor allem dann, wenn sich die Meldungen überstürzen und überschlagen, wie an diesem denkwürdigen Vormittag im Washingtoner Büro. Das Wort Hektik trifft die Sache aber nicht wirklich. Denn gerade in solchen Situationen macht jeder Journalist nur noch das, was unmittelbar für den jeweiligen Zweck, für den nächsten Liveeinstieg, für die nächste Geschichte, nötig ist. Alles, was der Alltag sonst an Störeinflüssen bieten kann, ist ausgeblendet, man arbeitet viel zielorientierter, ruhiger und konzentrierter. An Hektik kann ich mich nicht erinnern, wenn ich an diesen Tag zurückdenke, sehr wohl aber an ein äußerst diszipliniert arbeitendes Team. Und an einen Moment des Aufatmens. Als nämlich klar wurde, dass das vierte entführte Flugzeug, das Kurs auf Washington gehalten hatte, nicht mehr auf uns zuflog, sondern auf einem freien Feld in Pennsylvania zerschellt war. Auch das war eine Tragödie, das wussten wir natürlich im selben Moment und berichteten auch entsprechend. Aber das Gefühl, dass uns hier in Washington nicht gleich unmittelbar der nächste Einschlag bedrohen würde, war uns, subjektiv gesehen, doch ein kurzes Aufatmen wert.

    Drei Stunden arbeiten wir vor uns hin, geben den jeweils letzten Stand der Schrecknisse weiter für Hörfunk und Fernsehen, die in Österreich, wie überall auf der Welt, permanent auf Sendung bleiben. Dann rufe ich das Miniteam zu einer kurzen Besprechung zusammen. Sie besteht im Kern aus einem Satz: »Einer von uns muss nach New York. Und ich finde, der solltest du sein.« Ich blicke Hartmut Fiedler an. Er ist nicht sofort Feuer und Flamme, was ich verstehe. Denn er müsste jetzt, in dieser Situation, seine Frau Petra und seinen kleinen Sohn Arthur in der zur Zielscheibe gewordenen Stadt Washington allein lassen, um selbst in die noch größere Zielscheibe New York zu eilen. Aber dann macht er sich mit Scotty und einem Mietwagenchauffeur auf einen abenteuerlichen Weg, der ihn mit viel Glück und Geschick noch am selben Abend nach Manhattan bringen wird. Für den Erfolg sorgt vor allem Scotty, der an der Polizeisperre vor Manhattan schon von Weitem seine Pressekarte fürs Weiße Haus zückt, den Beamten ganz laut das Wort »White House« und ganz leise das Wort »Press« zuruft und damit rasch freie Fahrt erntet. »That’s cool, man!«, ruft befriedigt der überraschte Chauffeur.

    Bei Petra Fiedler zuhause in Washington versucht indes noch am selben Abend ein Einbrecher, sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Petra stürzt aus dem Haus, läuft brüllend auf den Mann los, der sich in sein Auto rettet. Petra schnappt sich eine Mineralwasserflasche, schlägt eine Autoscheibe ein und treibt den Einbrecher damit endgültig in eine panische Flucht. Was man als Korrespondentenfrau halt so können muss. That’s cool, woman.

    Augenzeugen

    Der Tag hatte mit Ärger begonnen für Thomas Suppanz, einen gebürtigen Steirer und Wahl-New-Yorker. Er hatte die U-Bahn versäumt, würde zu spät zur Arbeit kommen an eine der besten Adressen der Stadt. Ja, wenn man es in New York schafft, dann schafft man es überall, wie Sinatra zu singen pflegte. Und Thomas Suppanz hatte es geschafft. Ein schöner Posten in der Finanzwelt, und das in einem Büro mit schöner Aussicht, Südturm des World Trade Center, 29. Stock.

    Nur ein paar Kilometer Luftlinie, aber ziemlich viele Lebenswelten davon entfernt, hatte der junge Schriftsteller John Wray seinen Tag begonnen. Zwei Jahre hatte er in einem fensterlosen Kellerraum in Brooklyn gehaust, der eigentlich einer Rockband als Proberaum diente. Ohne finanzielle Mittel, ohne Tageslicht, aber mit viel kreativer Energie hatte er, buchstäblich im Untergrund, seinen Roman The Right Hand of Sleep verfasst. Ein erster Erfolg für ihn. Er konnte es sich leisten, nach Park Slope zu ziehen, in einen hoch gelegenen Teil von Brooklyn, der einen prachtvollen Blick auf die Skyline von Manhattan bietet.

    John Wrays Mutter stammt aus Friesach in Kärnten. Wenn er deutsch spricht, dann mischen sich amerikanischer und kärntnerischer Akzent zu völlig neuer, sanfter Harmonie. Wenn er englisch spricht, dann tut er das langsam, bedächtig und so, dass man jeden seiner Sätze unverändert drucken könnte.

    In Washington versuchte am frühen Morgen ein Mann, zunächst einmal alles an seinen Platz zu rücken, bevor er mit der Büroarbeit beginnen konnte. Es war sein erster offizieller Arbeitstag auf diesem Posten. Wolfgang Ischinger war der neue deutsche Botschafter in Washington. Er stellte sich auf einen Tag des gemächlichen Einarbeitens ein, wollte sich zunächst

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