Salinger taucht ab
Von Res Strehle
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Über dieses E-Book
Darin wird die Nacht auf einer Wache beschrieben, wo vor den Augen eines Soldaten zahlreiche Flüchtlinge die grüne Grenze überqueren und weiteres Abenteuerliches passiert.
Der Soldat passt nicht richtig in seine Uniform und missachtet Wachreglement und Dienstvorschriften. Der Journalist geht dem Wahrheitsgehalt dieser Geschichte nach und löst auf Umwegen vieles, das erst rätselhaft erschien.
Eine Geschichte über den kleinen Unterschied zwischen Wahrheit und Wahrnehmung und den schmalen Grat zwischen Normalität und Paranoia.
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Buchvorschau
Salinger taucht ab - Res Strehle
Dank
1
«Halt, Militär!», schrie Salinger und hob den Gewehrlauf, um sich Mut zu machen. Diese Gestalt nachts um drei auf dem offenen Feld hatte ihn ganz schön erschreckt. «Solche Scherze können ins Auge gehen, wir haben Schiessbefehl!», sagte Salinger, betont leutselig, als der Fremde näher zu kommen schien, auffällig gebückt, die Schultern hochgezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen, der Hals unsichtbar, in beiden Händen hielt die Gestalt eine Tragtasche: ein Obdachloser vielleicht, der seinen Hausrat mit dabei hatte, darin versteckt womöglich die offene Weinflasche.
Konnte es sein, dass ihm die Nerven einen Streich gespielt hatten und dass ihm gar keiner entgegenkam? Sie hätten nicht kiffen sollen am Nachmittag, aber irgendwie hatten sie die Langeweile am zweitletzten Tag dieses Armeedienstes vertreiben müssen. Die Gestalt antwortete nicht, sie war inzwischen schemenhaft geworden und kein Schlurfen war mehr zu hören. Womöglich hatte sich Salinger diese Erscheinung eingebildet? Er war unendlich müde und dann kann einem die Fantasie schon einen Streich spielen. Inzwischen war er bald 24 Stunden auf den Beinen, die letzten drei davon draussen auf dem Feld, und vermutlich auch überreizt. Lange war hier kein Geräusch zu hören gewesen, ausser zeitweilig ein nerviges Rascheln im Gebüsch, dann plötzlich das Schlurfen dieser Gestalt. In der Luft lag Regen und bei jedem Windstoss war auch der Duft einer nahegelegenen Düngemitteldeponie zu riechen. Das Funkgerät war seit einer Stunde stumm geblieben, seit der letzten Verbindung zum Kommandoposten, nach der er die Uhr hätte stellen können:
«Nummer 2 von KP antworten!»
«Verstanden, antworten!»
«Alles ruhig?»
«Ja», antwortete Salinger und wollte anfügen: «Was soll hier draussen schon los sein?», aber er verkniff sich diese Bemerkung.
Zwar führte in der Nähe eine Erdgasleitung durch, die in einem internen Bericht als mögliches Ziel von Terroranschlägen genannt worden war. Ausserdem hatte die Grenzpolizei vor einem Monat in der Umgebung eine Flüchtlingsgruppe aufgegriffen, die von einem Schlepper an der Grenze abgesetzt worden war und illegal über die Brücke gelangte. Die Tatsache, dass diese Gruppe nur wenige hundert Meter unentdeckt blieb, schien den Grenzübertritt für neue Flüchtlingsgruppen wenig attraktiv gemacht zu haben. Seit vier Wochen hatte sich nichts mehr getan.
Persönliche Bemerkungen über Funk waren den Soldaten unter Strafandrohung verboten, seit sie sich vergangene Woche die Wartezeit mit Geplauder und Sprüchen verkürzt hatten. Ein wachhabender Offizier hatte dies bemerkt und angeordnet, dass die Übermittlung von Funksprüchen so kurz wie möglich zu halten sei. Vielleicht sass dieser Offizier ja wieder im Kommandoraum und hätte ihm jede weitere Bemerkung als Kritik an der Organisation des Wachdienstes ausgelegt. Danach wäre Salinger auf diesem ungeliebtesten aller Aussenposten womöglich nicht wie vorgesehen um fünf Uhr, sondern erst um halb sechs oder sechs abgelöst worden.
Im Grunde hätte dieser Aussenposten ohnehin doppelt besetzt sein müssen, wie es das Reglement vorschrieb und es in den Nächten davor auch der Fall war. Nachdem es aber die ganze Woche über ruhig geblieben war, hatte sich der Wachekommandant zu dieser Lockerung entschieden, um möglichst vielen Soldaten an diesem Abend den Ausgang zu ermöglichen. Dass es ausgerechnet ihn und den Kollegen Lutz für diese einsame Wache in der letzten Nacht getroffen hatte, deutete Salinger nicht als Zufall. Das musste die Quittung dafür sein, dass sie die drei Wochen zuvor ihr Desinteresse an jeglichen Armeebelangen offen gezeigt hatten.
«Ende», quittierte der Kommandoposten, und «Ende» bestätigte auch Salinger, worauf Lutz im Wachposten Nummer 3 beim Forsthaus angerufen wurde.
«Nummer 3 von KP antworten.»
«Verstanden, antworten.»
«Alles ruhig?» «Ja, Ende.» «Ende.»
Hätte Salinger das Auftauchen dieses Fremden melden sollen? Ein Flüchtling war er wohl nicht, ein gegnerischer Soldat auch nicht. Der Gedanke an feindliche Truppen vermochte Salinger vorübergehend zu belustigen, wie der Fremde in diesen Klamotten da auf ihn zuschlurfte. Ein Feind! Ein Spion! Ein Vortrupp bestehend aus 1 (in Worten: einem) Mann in abgewetztem Regenmantel! Ein wandelnder Altkleidersack! Wenn Uniform, dann gute Tarnung! Nein, eine solche Meldung hätte ihm Schwierigkeiten bereiten können. Wäre sie ernst genommen worden, wäre das Alarmdispositiv ausgelöst und ein Pikett losgeschickt worden. Würde sie als Spass gewertet, so würde sie ihm als unzulässige Plauderei ausgelegt.
Was also melden? Ein Landstreicher? Die Bezeichnung war nicht eben freundlich und ausserdem aus der Mode gekommen. Ein Verwahrloster? Das war politisch unkorrekt und ebenfalls wenig freundlich. Der Fremde schien ihm inzwischen doch real auf ihn zuzukommen. Sein Schlurfen war nun deutlicher zu hören, und er war inzwischen so nahe, dass er Salingers Meldung mitbekommen würde. Ein Obdachloser? Das wusste Salinger nicht, ging die Armee auch nichts an. Ein Zivilist? Das schien ihm zu vage, ausserdem war Friedenszeit. Was gingen die Armee Zivilisten überhaupt an? Dass sie hier eine Wache aufgezogen hatten, betraf ausschliesslich Flüchtlinge und supponierte feindliche Truppen.
War es denkbar, dass der wachhabende Unteroffizier das Auftauchen dieses Fremden inszeniert hatte, um zu später Stunde seine Aufmerksamkeit auf diesem einsamen Posten zu testen? Das musste es sein! Es schien ihm schon die ganze Woche, dass er unter besonderer Beobachtung stand. Möglich, dass der Nachrichtendienst seine Fiche ausgegraben hatte und sie ihm nicht trauten auf diesem wichtigen Aussenposten. Wenn er jetzt getestet wurde, war Salinger zur Meldung verpflichtet. Wenn er sie unterliess, dann hatten sie ihn! Dann konnten sie ihm endlich ein Disziplinarverfahren anhängen, wie sie es schon lange planten! Aber nein. Er verwarf den Gedanken, eine solche Perfidie traute er dem Nachrichtendienst nicht zu. Ausserdem würde heute sicher irgendein Reglement den Kontrollorganen solche verdeckten Auftritte und fingierten Überfälle aus Sicherheitsgründen verbieten.
Aber ein ungewöhnlicher Ort war das schon hier draussen, um sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Salinger beschloss abzuwarten, was der Fremde vorhatte. Womöglich war er bloss an den Sternen interessiert, die hier draussen auf dem Feld fernab von der Beleuchtung der umliegenden Dörfer und Strassen besonders hell, aber auch kalt wirkten? Der Grosse Bär tief am Horizont? Dagegen sprach, dass der Mann zwei Säcke mitschleppte, den Blick gesenkt hielt und mehr am Boden denn am Himmel interessiert schien. Selbst das Wetterleuchten am Horizont vermochte seine Aufmerksamkeit nicht zu wecken. In der Nähe würde wohl bald ein lokales Gewitter niedergehen.
Wenn dies der gewohnte nächtliche Rundgang des Mannes gegen Schlaflosigkeit war, dann wäre er hier wohl schon in früheren Nächten aufgetaucht. Die Dienstkameraden hätten Salinger darauf aufmerksam gemacht: Kann sein, dass einer vorbeischleicht mit hochgeschlagenem Mantelkragen, aber kümmere dich nicht um ihn, der ist absolut harmlos. Vielleicht hätte der Kamerad den Fremden am Vorabend schon in ein Gespräch verwickelt und Salinger seinen Besuch angekündigt: Wenn der von gestern wieder kommt, erschreck nicht, sein Aufzug ist zwar seltsam, aber der ist tipptopp, hat einen hausgebrannten Schnaps dabei, mir verging die Zeit wie im Flug. Der war früher bei der Fremdenlegion, was der alles erlebt hat, das glaubst du nicht – ich hätte noch zwei Stunden länger Wache stehen können!
Aber nichts dergleichen war Salinger von den Kameraden übermittelt worden.
Inzwischen war der Fremde so nahegekommen, dass Salinger im fahlen Licht seine Gesichtszüge erkennen konnte. Er erschrak erneut, liess aber den Gewehrlauf jetzt endgültig sinken. Diese Gesichtszüge kannte Salinger: den ernsten, unsicheren Blick aus leicht eingefallenen Augen, die Augenringe, die hohlen Wangen, drei, vier Tage alte Bartstoppeln, die hohe Stirn – das erinnerte ihn an sein eigenes Gesicht! Hätte der Fremde im Mantel nicht deutlich älter und verlebter ausgesehen als Salinger im Kampfanzug, die beiden hätten sich stark geähnelt.
«Sie haben mich ganz schön erschreckt!», sagte Salinger, um die Begegnung nicht unheimlich werden zu lassen. Er wollte nochmals auf den Schiessbefehl hinweisen, auf sein Gewehr deuten, das mit scharfer Munition geladen war und anfügen, dass solche Scherze ins Auge gehen können. Aber Salinger fand den leutseligen Ton nicht mehr. Ausserdem ging es dem Fremden offensichtlich nicht um einen Scherz. Er schien Salinger nicht zur Kenntnis zu nehmen, womöglich mit Absicht, weil er in ihm einen Militärangehörigen sah, vielleicht auch aus Gedankenlosigkeit. Oder er war sich ganz einfach gewohnt, diesen Weg unbehelligt zu gehen. Jedenfalls ging der Mann grusslos an ihm vorbei, knapp drei Schritte neben Salinger, wo der Weg ins Unterholz führte.
Der Gang des Gebückten war auch von hinten auffällig. Er wendete den Blick weiterhin kaum vom Boden ab. Konnte dies der Grund sein, dass sich ihre Blicke nicht begegnet waren und der Fremde ihn nicht beachtet hatte? Wie auch immer, Salinger hatte ihn vorschriftsgemäss angesprochen und auf den Schiessbefehl hingewiesen. Abgesehen von der unterlassenen Meldung, die ihm in diesem Fall aber nicht zwingend schien, hatte er sich bis anhin korrekt verhalten. Natürlich hätte er vom Fremden eine Begründung für dessen nächtliche Wanderung verlangen können, aber dafür hätte der andere überhaupt ansprechbar sein müssen. Erneut verwarf er den Gedanken an eine Meldung über Funk, denn jetzt wäre vom Kommandoposten vermutlich die Aufforderung gekommen, den Fremden anzuhalten oder gar festzunehmen. Das schien ihm nicht nur unverhältnismässig, sondern geradezu lächerlich. Dieser Fremde entzog sich der militärischen Logik.
Einen kurzen Moment zögerte Salinger doch, denn im Unterholz lagerte die Munition, die nach der Feldübung seiner Truppe übriggeblieben war. Sie war zwar gut gesichert, aber die Stahltüre war von geübter Hand unschwer zu öffnen. Der Gedanke, dass dieser Mann jetzt Zugang zu Munition und Handgranaten haben könnte, belustigte Salinger mehr, als dass er ihn beunruhigte. Konnte in den Tragtaschen ein Brecheisen versteckt gewesen sein? Kaum, und selbst wenn, dann würde der Fremde mit dieser Türe eine Weile beschäftigt sein. Einbruchsgeräusche wären hier problemlos hörbar, und Salinger hätte alle Zeit der Welt, um über Funk Verstärkung anzufordern.
2
Salinger erinnerte sich, wie sie in ihrer wilden Phase vor einem Jahrzehnt einst zu dritt vor einem Munitionsdepot gestanden hatten. Mit dem Trennschleifer hatten Lutz und der andere die Umzäunung überwunden, danach galt es nur noch, die Türe aufzubrechen. Das Krachen, als die beiden anderen das Brecheisen in die Türe stemmten – was für ein Hochgefühl! Abmachungsgemäss hatte Salinger draussen gewartet, um die Umgebung im Auge zu behalten. Dann die unerwartete Schwierigkeit, weil die Türe besser standhielt als erwartet, ausserdem ein Alarm ausgelöst wurde, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Jedenfalls war aus einer Richtung, die Salinger in der Euphorie ob dem Bruchgeräusch nicht beachtet hatte, unvermittelt eine Wache aufgetaucht.
Daraufhin war alles sehr schnell gegangen: «Halt, Militär!» Sie waren erst erschrocken, aber dann sahen sie diesen jungen Soldaten vor sich stehen, der war höchstens im ersten oder zweiten Wiederholungskurs, das Gewehr hatte er geschultert wie einen Fremdkörper, irrtümlich oder nur mangels Widerspruch gegen eine Weisung von oben mitgetragen, und es sah keineswegs so aus, als ob er es je, zum Beispiel jetzt, brauchen würde. Sie verständigten sich kurz mittels Zeichen und entschieden abzuhauen. Das schien ihnen ratsam, denn der junge Soldat stand zwar wie angewurzelt da, aber er nestelte an seinem Funkgerät und wollte offenbar Verstärkung anfordern. Und sie wussten nicht, wie nahe der nächste Wachposten gelegen war und ob da nicht einer sass, der vor dem ängstlichen Kollegen seinen Mut beweisen wollte. Sie hatten die Aktion später nicht wiederholt, das Risiko schien ihnen zu gross, und zwei der drei Kumpanen waren bald in Beruf und Familie gut situiert. Die Mitstreiter hatten ihm auch nie vorgeworfen, dass er den Wachsoldaten übersehen hatte. Sie waren Freunde geblieben, mit Lutz war er sogar in derselben Truppe eingeteilt.
In diese Erinnerung versunken hörte Salinger vom Munitionsdepot her Splittergeräusche. Es war ein ähnliches Geräusch wie damals, das Krachen von Holz und Schläge gegen Metall! Sollte sich der Fremde tatsächlich am Munitionsdepot zu schaffen machen? Dann war er deshalb so gebückt gegangen, um das Brecheisen unter dem Mantel versteckt zu halten? Das wäre dann allerdings sehr dreist gewesen, damit seelenruhig an ihm als Wache vorbeizugehen. Hatte er ihn so wenig ernst genommen wie sie damals den jungen Soldaten? Und was um Himmels willen hatte dieser Mann vor?
Salinger war beunruhigt und sah sich nun zur Meldung verpflichtet: «Kommandoposten von Nummer 2 antworten!»
Das Funkgerät blieb ruhig. Der Kamerad auf dem Kommandoposten schien seines offenbar nicht direkt zur Hand zu haben, in eine Patience vertieft zu sein oder verbotenerweise Musik zu hören.
«Kommandoposten von Nummer 2 antworten!», wiederholte Salinger, nun eine Spur lauter, den Kopf vom Munitionsdepot abgewandt, damit der Fremde ihn nicht hören konnte. Die Pause gab Salinger Zeit, sich über die Formulierung seiner Meldung klar zu werden.
«Verstanden, antworten!»
«Ein Obdachloser bricht eben das Munitionsdepot auf, antworten!»
Der Kamerad auf dem Kommandoposten schien ob dieser Meldung perplex oder nun seinerseits mit der Formulierung seines Funkspruchs beschäftigt. Jedenfalls dauerte es erneut eine Weile bis zur Antwort:
«Verstanden. Mach keine Sprüche, du kennst doch die Order: keine Geplauder über Funk – antworten!», sagte er schliesslich.
Salinger nahm dem Kameraden nicht ab, dass er ungehalten war, wenn er von einem Spass ausging. Eine kleine Unterhaltung zu dieser Zeit musste auch ihm gelegen kommen. Vermutlich befürchtete er, dass ein Vorgesetzter am Funk mithörte.
Was sollte Salinger antworten? Die Angelegenheit konnte so gewichtig nicht sein, wenn sie der andere nicht ernst nahm. Und hereinlegen oder in unnötige Aufregung versetzen, wollte er den Kameraden auf dem Kommandoposten zuletzt; er gehörte zu jenen, die er mochte. Vielleicht hatte sich Salinger das Geräusch ja auch nur eingebildet. Nach