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Das Gift der Schlangen
Das Gift der Schlangen
Das Gift der Schlangen
eBook791 Seiten9 Stunden

Das Gift der Schlangen

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Über dieses E-Book

Ein heftiger Schlag. Ein rätselhafter Einbruch. Wer ist der unbekannte Angreifer - wer will seinen Tod?
Julius von Glauberg, in wohlgeordneten Verhältnissen lebender Gutsbesitzer im Rheinland, wird in seinem Haus niedergeschlagen. Aber von wem? Wer steckt hinter dem Anschlag?
Anfang der Sechziger Jahre scheint der Krieg lange vorbei zu sein, doch noch immer fordert er seine Opfer. Und es sind mächtige Männer, denen Glauberg im Wege steht, denn er besitzt etwas, das ihnen das Genick brechen könnte. Weitere Anschläge werden verübt. Glauberg muss die Wahrheit herausfinden, sonst ist nicht nur er, sondern auch seine ganze Familie in tödlicher Gefahr.
Wer Spannung, kombiniert mit gepflegter Sprache und einem eleganten Umfeld liebt, der wird Glauberg mögen.

"...spannend, wenn die liebgewonnene Hauptfigur plötzlich eine Seite ihrer Selbst zeigt, die einen in ein moralisches Dilemma führt: Kann ich der Hauptfigur auch dahin noch folgen oder Verständnis für Ihr Handeln aufbringen? Das war auch hier der Fall und das macht das Buch um so fesselnder..."

"Tolle Verknüpfung von Geschichte und Spannung!"
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Apr. 2020
ISBN9783750231399
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    Buchvorschau

    Das Gift der Schlangen - Caethe Worring

    1

    „The wicked … go astray as soon as they are born, speaking lies.

    Their poison is like the poison of a serpent."

    (Psalm 58:3, 4 King James Version)

    „Die Bösen … sind umhergeirrt vom Mutterleib an. Sie reden Lügen.

    Das Gift von ihnen ist wie das Gift der Schlangen."

    Mai 1940

    Es war bewölkt, seit Tagen. Nicht kalt, aber windig. Die dürren Triebe der knorrigen Weiden ragten in einen grauen Tag. Sie wurden seit Generationen immer wieder gestutzt und beschnitten, hatte er sich sagen lassen, so dass über dem dicken Stamm nur ein verkrüppelter Kopf übrig geblieben war. Die langen, biegsamen Jungtriebe wurden stetig geerntet und zu Korbflechtereien verarbeitet. Der junge Soldat fragte sich, ob es in diesem Jahr auch so sein würde. Würde jemand die Triebe schneiden und Körbe und Matten flechten? Oder war niemand mehr übrig, der die Tradition fortführen würde? Die einzigen Menschen, die heute durch die leere Landschaft stolperten, waren die britischen und die wenigen französischen Gefangenen, die sie aufgegriffen hatten. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen wankten sie vor ihnen her. Sie waren erschöpft. Vielleicht wären sie auch ohne die drohend auf sie gerichteten Gewehrläufe vor ihnen hergelaufen. Nicht, dass man es versucht hätte.

    Aus dem diesigen Zwielicht tauchte schemenhaft die Silhouette eines Gebäudes auf, eine schadhafte Scheune, deren Bretter teilweise fehlten. Auch das Dach hatte Löcher. In Friedenszeiten wären die Schäden sicherlich bereits behoben worden. Aber wie es aussah, machte es keinen Unterschied, denn schließlich gab es auch nichts, was hier geerntet und gelagert werden konnte. Oder doch?

    Sein Vorgesetzter hatte die Scheune ebenfalls bemerkt. Mit dem Gewehrlauf deutete er auf den weit offenstehenden Eingang. Das große Tor hing schief in zerbrochenen Angeln. Seine Leute trieben die Gefangenen ohne weitere Worte auf das windschiefe Gebäude zu. Sie stolperten über die aufgeworfenen Schollen der triefnassen Wiese darauf zu.

    „Hinein! befahl er. Und als die britischen Gefangenen ihn verständnislos anstarrten, wiederholte er in jämmerlichem Schul-Englisch: „Go! Go in, you all!

    Es waren sicherlich weit über fünfzig Gestalten, die dem Befehl zögernd Folge leisteten. Einer nach dem anderen betrat das feuchte Dunkel. Ein britischer Offizier, welchen Rang er bekleidete konnte man nicht gleich erkennen, wandte sich an den deutschen Vorgesetzten. Er deutete auf die Reihen der erschöpften, zum Teil auch verwundeten Gefangenen. Er sagte etwas auf Englisch, was er nicht verstehen konnte. Aber offensichtlich bat er für die Verwundeten. Der deutsche Vorgesetzte schien zu verstehen, worum der Brite bat. Dennoch antwortete er auf Deutsch.

    „Ihr verdammten Tommies habt nichts anderes verdient. Ihr habt leider keine Rückfahrkarte."

    Dann bückte er sich zur Seite und griff er in seine Schaftstiefel. Der junge SS-Mann ahnte mit leichtem Schaudern, was nun geschehen würde. Dennoch bemühte er sich, keinerlei Regung zu zeigen. Die Briten schienen auch zu wittern, dass die Geste nichts Gutes zu bedeuten hatte, denn sie drängten sich in den Hintergrund der Scheune zusammen. Er wusste, es würde sie nicht retten.

    Der deutsche Offizier holte weit aus und trat rückwärts aus dem dunklen Eingang der Scheune. Als er weit genug im Freien stand, ließ er die Faust nach vorne schnellen. Die erschrockenen Schreie der Briten gingen unter im Geräusch einer lauten Explosion, als die Handgranate detonierte. Gleich danach warf der Offizier eine zweite Granate, die die Schreie des Schreckens und des Schmerzes fast verstummen ließ.

    Auch die deutschen Soldaten waren still. Die Rauchschwaden verzogen sich. Nichts rührte sich im Inneren der Scheune. Bis schließlich sich einige Gestalten aus dem dunstigen Dunkel lösten und stöhnend dem Licht entgegenwankten. Der Offizier trat ein wenig zurück und winkte seinen Leuten.

    „Bringt die, die übrig sind, heraus. In Fünfergruppen, würde ich sagen. Und dann macht Schluss mit ihnen. Los!"

    Die Männer setzten sich zögernd in Bewegung und packten die ersten der überlebenden Briten. In Gruppen von fünf trieben sie sie nach draußen. Schüsse peitschten durch die feuchte Luft. Die Briten sackten ohne einen Laut zusammen und die nächste Gruppe wurde vorwärts getrieben. Diszipliniert machten sich die Deutschen jetzt daran, den Befehl auszuführen.

    „Da!" rief einer. Einige der scheinbar unverletzt gebliebenen britischen Soldaten versuchten zu fliehen. Sie drängten sich durch die schadhaften Stellen der Scheunenwände und rannten über die Weiden.

    „Los, hinterher! befahl der Offizier. Einer der Unteroffiziere packte den jungen Soldat am Arm und zog ihn hinter sich her. „Jetzt kannst du einmal beweisen, ob doch etwas in dir steckt, du Memme!

    In einiger Entfernung vor ihnen rannten zwei der Entkommenen in wilder Hast über die nassen Wiesen. Sie folgten ihnen entschlossen. Jagdfieber glänzte in den hellen Augen des Unteroffiziers.

    „Sie sind weg! keuchte der Soldat und hielt sich die Seiten, als Luftmangel ihm das Atmen schwer machte. Der Unteroffizier spähte angestrengt nach vorne. „Da! rief er wieder und setzte sich in Bewegung. Vor ihnen lag ein Gewässer, kaum ein Teich, eher ein Tümpel. Die nassen Wiesen schienen nahtlos in dem dunklen Wasser zu verschwinden.

    Die beiden Verfolger verharrten am Ufer und starrten über die Wasserfläche. Es schien, als habe der Tümpel die Briten verschluckt. Dann kräuselte eine Bewegung die stille Oberfläche. Der Unteroffizier stieß ihn unsanft an und bedeutete ihm, das Gewehr in Anschlag zu nehmen. Er gehorchte bebend. Sein zitternder Finger legte sich um den Abzug. Noch zögerte er, aber der Offizier sah ihn scharf von der Seite an. Er prüfte ihn, unterzog ihn einer Probe. Als unter der stillen Wasseroberfläche ein Haarschopf auftauchte wie eine fremdartige Wasserpflanze, hob der Soldat die Waffe, legte sie an die Wange und zielte.

    „Jetzt!" feuerte ihn der Offizier an. Und sein Finger zuckte. Ein scharfer Knall peitschte durch die Stille der ländlichen Umgebung. Ein Schwarm Vögel stieg auf und ihr Krächzen zerriss die Lautlosigkeit wie zuvor der Schuss. Die Wasserpflanze zerplatzte wie eine große Frucht. Der Schütze würgte.

    „Los! Das ist noch einer! Verdammt noch mal, du Memme, jetzt schieß endlich!"

    Aber der Schock hielt ihn gefangen. Der Unteroffizier hob schließlich die Waffe und brachte selbst zu Ende, was der Soldat nicht fertiggebracht hatte. Auch der zweite Kopf versank wieder in dem dunklen Wasser. Der junge Soldat krümmte sich und übergab sich auf seine Stiefel, unter den verächtlichen Blicken des Unteroffiziers.

    Er gab ihm einen groben Stoß, so dass er nach vorn auf die Knie ging, mitten in die abstoßende Lache seines Mageninhalts. Mühsam kam der junge Gefreite wieder auf die Beine und folgte, zutiefst gedemütigt, dem Vorgesetzten. Das johlende Gelächter seiner Kameraden, nachdem sie von seinem Versagen gehört hatten, machte seine Demütigung vollkommen.

    Während er bei seiner Bewährungsprobe versagt hatte, ging die Arbeit mit den verbliebenen Gefangenen zügig weiter. Schüsse hallten über die weite Landschaft, ihr scharfes Echo peitschte zurück. Entsetzte Schreie begleiteten das Geschehen. Der Unteroffizier zerrte den Gefreiten am Arm zu einer dieser Gruppen. Er könne ein letztes Mal beweisen, dass er zu Recht zu dieser ehrenvollen und tapferen Einheit gehöre. Er rammte ihm sein Gewehr in die Hände und deutete auf einen jungen Engländer, der, die Hände hoch über den Kopf gehoben, immer wieder ein Wort wiederholte: „Prisoner!"

    Der Gefreite, der eine gute Schulbildung genossen hatte, bevor das Vaterland seine Dienste forderte, verstand, dass der englische Soldat auf seinen Status als Kriegsgefangener verwies, obwohl er doch gesehen hatte, was mit seinen Kameraden geschah. Der Tommy konnte kaum von der Schulbank entronnen sein, sein blasses Gesicht war bartlos und unfertig.

    Der Gefreite schluckte. Der Engländer sah so … normal aus, war ihm selbst so ähnlich. Und seine weit aufgerissenen Augen glänzten vor Angst. Er hob das Gewehr, aber es schien Tonnen zu wiegen und er ließ es wieder sinken. Das unflätige Schimpfwort, mit dem der Unteroffizier ihn bedachte, ließ ihn zusammenzucken. Jemand anders schob ihn aus dem Weg, nahm ihm die Waffe weg und machte mit dem jungen englischen Soldaten kurzen Prozess. Der Gefreite sah, wie der angsterfüllte Blick flackerte und brach. Der Engländer sackte langsam in die Knie und fiel dann auf das Gesicht. Das Gewehr des Gefreiten lag noch immer in der Armbeuge des Mannes, der geschossen hatte, und der Blick, den er auf den jungen Soldaten warf, war unverhohlen verächtlich. Er hatte wieder versagt. Wieder einmal.

    Ein klickendes Geräusch ließ die Köpfe herumfahren. Jemand stand in der Deckung der kleinen Baumgruppe hinter ihnen und hatte fotografiert.

    2

    Mai 1962

    Der Frühling benahm sich noch launisch, und der eben noch strahlend blaue Himmel verdüsterte sich schon wieder mit grauen Regenwolken. Der nasse Asphalt glänzte im Nieselregen, als die dunkle Limousine langsam vor den Eingang des Hochhauses rollte und dort ungeachtet des Halteverbots stehenblieb. Der Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Tür und ließ den Fahrgast aussteigen. Der zog den Kopf ein, stellte den Kragen seines Mantels hoch, um dem feinen Sprühregen zu entgehen, und eilte die Treppen, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Der Pförtner schloss die Tür auf, denn um diese Uhrzeit waren die Büros und Kanzleien bereits geschlossen. Dienstfertig hob er die Hand an die Mütze und grüßte ehrerbietig.

    Er kannte den Mann, der zu dieser späten Zeit noch ins Haus kam. In den Zeitungen hatte er Bilder gesehen. Ewald Lucasek war dabei, sich einen Platz ganz oben auf der Leiter der Landespolitik zu sichern. Wie man hörte, wollte er als Ministerpräsident kandidieren. Und seine Chancen sollten gut stehen. Der Portier betrachtete ihn unauffällig, um seiner Frau eine zufriedenstellende Beschreibung liefern zu können, wenn sie beim Abendbrot zusammensaßen. Der prominente Politiker war schlank und hochgewachsen. Er wirkte, als sei er von vibrierender Energie getrieben. Die Frau des Portiers fand ihn gutaussehend, er selbst fand, der Mann sehe aus wie ein Schnösel. Dichtes gewelltes Haar, ein leicht gebräuntes Gesicht und ein gutgeschnittener Anzug. Unter dem Arm eine lederne Aktentasche. Nicht zu dick. Die Schuhe sahen teuer aus, aber nicht so auffällig, dass die Wählerschaft sich daran hätte stoßen können. Nichts Italienisches, eher solides Schuhwerk aus Offenbach, seinem Wahlkreis. Lucasek eilte zum Aufzug. Der Portier fragte: „Welches Stockwerk?" und drückte dann die gewünschte sieben. Ganz nach oben, in die Räume von Direktor Dr. Heisenbach. Das verblüffte den Pförtner wenig. Geld und Macht lagen doch immer ganz nah beieinander. Ob das gut oder schlecht war, stand auf einem anderen Blatt, und der Portier hatte nicht vor, dieses Blatt allzu genau zu studieren. Die Türen schlossen sich leise hinter Lucasek, und der Pförtner verzog sich wieder in seine Loge, wo er die Bundesligaergebnisse jetzt natürlich verpasst hatte. Hatte die `Eintracht´ nun gewonnen oder nicht? Er hoffte nur, dass die da oben nicht zu lange brauchten.

    Als Lucasek im siebten Stock aus dem Aufzug stieg, umfing ihn eine ganz eigene Atmosphäre. Hier duftete es nach Geld, nach viel Geld, die Räume blieben unsichtbar für unbefugte Augen und fernab der Öffentlichkeit. Er stand in einer Art Herrenzimmer, ausgestattet mit schweren Ledersesseln wie in einem exklusiven Londoner Club. Die Wände waren dezent beleuchtet und schwere orientalische Teppiche bedeckten die Böden. Eine kühne bogenförmige Leuchte aus glänzendem Edelstahl überspannte die Sitzgruppe. Castiglioni, fiel Lucasek ein. Erst kürzlich hatte seine Frau über diesen berühmten Innenarchitekten geredet. Die Summen, die sie im Zusammenhang mit den Design-Stücken des Italieners genannt hatte, waren mindestens ebenso kühn wie der Schwung der Lampe. Wie man so viel Geld für eine Lampe ausgeben konnte blieb ihm schleierhaft, aber es war schon ein Statement. Seht her, ich kann es mir leisten!

    Ein großer Humidor beherrschte das hochmoderne Sideboard an der linken Wand. Stallmeister war schon da. Und Heisenbach natürlich, der Eigentümer der exklusiven Wohnung. Auf dem niedrigen Tisch vor ihnen standen Cognacschwenker und eine bauchige Flasche mit staubigem Etikett.

    „Ein Courvoisier Hors d´Age", sagte Heisenbach und zelebrierte einen Schluck des Cognacs in ein drittes Glas, das er Lucasek reichte.

    Lucasek nahm es gebührend respektvoll entgegen und schwenkte das bauchige Glas unter seiner Nase. In Wirklichkeit fand er dieses Getue um Alkohol albern und etwas für alte Männer, aber das würde er Heisenbach nicht unter die Nase reiben. Für ihn hätte es auch ein kühles Bier getan, und zwar besser. Aber er war schließlich nicht dumm. Er brauchte Heisenbach. Und Heisenbach war verrückt nach wertvollen Dingen aller Art. Er würde den Teufel tun und ihn vor den Kopf stoßen. Stattdessen schloss er genießerisch die Augen und äußerte ein sanftes „Aaaahhh…", während er den ersten brennenden Schluck des sicherlich immens teuren Cognacs über die Lippen gleiten ließ. Dafür hatte er die Genugtuung, Heisenbach beifällig nicken zu sehen.

    Auch Stallmeister zelebrierte den Cognac-Ritus. Was er genau zu gewinnen hatte, war Lucasek noch nicht völlig klar. Geld sicherlich, vermutlich auch Einfluss. Heinrich Stallmeister war der Vorstandsvorsitzende der Stallmeister Stahlhütten AG. Im Krieg hatte seine Firma sich eine goldene Nase verdient, und Stallmeister hatte es, wie auch immer, geschafft, dass seine Nase golden blieb. Wo andere Verluste hinnehmen mussten, hatte er expandiert. Seine Beziehungen mussten erstklassig sein. Sehr wahrscheinlich hatten sich Stallmeister und Heisenbach, ihm im Alter ein paar Jahre voraus, schon vor Kriegszeiten zusammengefunden. Zu diesem erlesenen Zirkel gehörte jetzt auch er, Lucasek. Eine Ehre, die die Unannehmlichkeit eines alten Cognacs wohl wert war.

    „Zigarre?" fragte Heisenbach und reichte ihm eine dicke, zeppelinartige Rolle, die er, fürsorglich wie ein Vater sein Baby, aus dem Humidor genommen hatte.

    „Eine echte kubanische Cohiba, erläuterte Heisenbach und zog die dicke Zigarre unter der Nase hin und her. „Genieße sie, Lucasek, diese Zigarren bekommst du nur vom Máximo Líder persönlich.

    „Und wie kommst du zu solchen Prachtstücken?" fragte Stallmeister, während er ein goldenes Feuerzeug an ein Ende der braunen Blätter hielt. Seine feuchten Lippen schlossen sich saugend um die dicke Zigarre. Die flackernde Flamme neigte sich durch den Zug und die dunklen Blätter fingen an zu glimmen und zu knistern. Ein würziges Aroma verbreitete sich.

    „Ich hatte die Gelegenheit, einem Mitglied des diplomatischen Corps … sagen wir, einen Gefallen zu tun. Zum Dank erhielt ich, unter anderem, zwei Kisten dieser Prachtstücke, wie du sie zu Recht nennst. Er wandte sich an Lucasek. „Hier, nimm und verfeinere deinen Geschmack.

    „Dass der Dreiundzwanzigste ihn exkommuniziert hat scheint Castro nicht weiter beeindruckt zu haben." Lucasek grinste und beugte sich dankend über das brennende Feuerzeug, das Stallmeister ihm entgegenhielt.

    Lucasek sog an der kostbaren Zigarre und wünschte, es wäre eine HB. Er setzte sich in den dritten Sessel und schlug die Beine übereinander. Ein paar Minuten genossen die drei Männer schweigend Cognac und Zigarren, und der blaue Rauch schwebte träge um sie herum.

    „So, begann Heisenbach endlich. „Ich freue mich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid, Heinrich und Ewald. Die erste Phase unseres Plans geht so langsam in die Zielgerade. Die Finanzierung steht in weiten Teilen. Dein Wahlkampf ist bestens organisiert, dank Henny Bach. Ich würde sagen, es läuft alles wie geplant. Ein Grund mehr, dass wir vor der nächsten Phase alle Eventualitäten ausschalten müssen. Unser Problem: Glauberg.

    „So ganz ist mir immer noch nicht klar, was der ganze Aufwand soll. Glauberg hat nicht den geringsten Grund, uns in die Quere zu kommen. Er weiß gar nichts, da waren wir schließlich vorsichtig. Soviel ich weiß, hat er nie auch nur die geringste Andeutung in dieser Angelegenheit gemacht, oder wie seht ihr das?" Lucasek stellte den Cognacschwenker noch halb gefüllt auf den Tisch und legte seine angerauchte Zigarre in den Aschenbecher.

    Heisenbach stemmte sich in seinem Sessel auf, stellte sein Glas mit dem größten Bedacht auf den Beistelltisch, hob dann den Blick wieder und fixierte sein Gegenüber.

    „Ein für alle Mal, Ewald, sagte er. „Wir denken nicht in Tagen, in Wochen, nicht einmal in Monaten. Wenn ich eines aus diesem Schlamassel, das unser Vaterland in die Knie gezwungen hat, gelernt habe, dann dies: ein Plan, ein großer Plan ist auf lange Frist angelegt. Nicht unbedingt auf tausend Jahre, wie unser geschätzter, wenn auch gescheiterter Vordenker es geplant hatte. Die Herren lachten leise. „Aber auf Jahre, ja sogar auf Jahrzehnte. Heute denkst du vielleicht nur daran, Ministerpräsident zu werden, Ewald. Aber ich, ich sehe nach vorne, weit nach vorne. Warum nicht Mitglied der Bundesregierung? Warum nicht Minister, Außenminister? Warum nicht … Bundeskanzler?"

    Die Herren schwiegen, von der Vision gebannt, die Heisenbach vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor. Geld war eine gute Sache, dachte Lucasek, viel Geld noch besser. Aber hauptsächlich, um ihm die eine Sache zu verschaffen, nach der er sich verzehrte: Macht. Derjenige zu sein, der die Ansage machte. Derjenige, dem niemand mehr etwas zu sagen hatte, der Menschen und Mechanismen steuerte.

    „Du hast das Zeug dazu, Ewald. Es wird nicht einfach gegen Kupfer, das wissen wir, aber du bist ein Mann, den die Wähler lieben. Nutze deine Möglichkeiten! Selbst wenn es dieses Mal noch nicht klappen sollte, die Zukunft gehört uns. Mit unserer Hilfe, mit Heinrichs und meiner und der unserer Freunde, kannst du hoch aufsteigen. Und wenn du ganz oben angelangt bist, Ewald, mein Freund, dann werden auch Heinrich und ich davon profitieren. Eine Hand wäscht die andere. Quid pro quo. Verstehst du es endlich? Es geht um ganz Großes. Wir können Deutschlands Zukunft gestalten, und zwar so, dass sie unsere Zukunft wird."

    Sein Gesicht wurde ernst: „Aber eines muss euch klar sein. Je höher wir steigen, desto weniger angreifbar dürfen wir sein. Stellt euch eine hochkomplexe Maschine vor. Je komplexer, desto störanfälliger wird sie auch. Daher muss jedes Steinchen sorgfältig aus dem Weg geräumt werden, jetzt schon! Und Glauberg ist eine unberechenbare Variable in unserer Gleichung. Das passt mir nicht!"

    „Wir haben keinen Grund ihn zu fürchten. Er weiß gar nichts, wandte Lucasek ein. „Und außerdem: sein Vater war doch sogar in der Partei.

    „Aus reinem Kalkül! fiel ihm Heisenbach ins Wort. „Diese aristokratischen Kreise dachten so wenig nationalsozialistisch wie demokratisch. Ihr Wertekatalog war noch komplett vom Kaiserreich, von den Privilegien der Aristokratie geprägt. Alles was sie wollten, war die Erhaltung des damaligen Status quo. Der alte Glauberg hatte viel zu verlieren. Grundbesitz, Aktien- und andere Börsenwerte, seine verschiedenen Unternehmen!

    „Zumal der Alte mit seiner englischen Ehefrau ohnehin schon unangenehm auffiel", stimmte ihm Stallmeister zu.

    „Julius von Glauberg denkt, sein Bruder ist vor Dünkirchen für Führer, Volk und Vaterland gefallen", gab Lucasek weiter zu bedenken, nicht gewillt, seine Position schon zu räumen. Er hatte immer das Gefühl, bei den anderen sein Terrain behaupten zu müssen. Wahrscheinlich lag das daran, dass das Gefälle im finanziellen Bereich zwischen Heisenbach und Stallmeister auf der einen und ihm auf der anderen Seite ziemlich stark war. Zwar hatte er sich mit den Jahren und mit den Stufen der Karriereleiter einen gewissen Wohlstand erarbeitet, aber Heisenbach und Stallmeister spielten in einer ganz anderen Liga. Lucasek hatte durchaus die Absicht, das zu ändern, aber noch war es nicht so weit.

    Heisenbachs Gesicht verdüsterte sich, bis die tiefen Falten neben seinen Mundwinkeln fast senkrecht standen.

    „Dünkirchen, ja … Dieses Kapitel ist auch noch völlig offen. Karl-Richard von Glaubergs Rolle in diesem Debakel ist mehr als dubios. Und wenn er nicht kurz darauf … gefallen wäre …"

    „Glaubst du, er hat damals die Fotografien nach Hause geschickt? fragte Lucasek. „Es muss so sein. Schließlich konnten wir sie trotz intensiver Suche nicht finden. Nichts war in den Unterlagen zu entdecken, als ich sie durchsuchte.

    „Nein, Ewald, ich fürchte, dass es sich bei der ganzen unglückseligen Geschichte um eine von diesen peinlichen, unwahrscheinlichen Schlampereien gehandelt hat, die uns oft so viel Ärger gemacht haben. Wie es aussieht, wurde nach seinem Tode seine ganze Habe per Feldpost an seine Heimatadresse geschickt, noch bevor wir sie sichern konnten. Und unter diesen Sachen müssen die Filme gewesen sein. Wenn einer seine Arbeit gemacht hätte … aber es bringt nichts, sich nachträglich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen. Wir haben jetzt die Aufgabe, uns den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir dieser unseligen Beweise wieder habhaft werden können, dieser tickenden Zeitbombe. Und zwar bevor Glauberg auch nur auf die Idee kommt, einen Verdacht zu schöpfen. Ich habe bereits einen Plan entworfen und in die Wege geleitet. Deswegen seid ihr heute hier. Ich denke, ich habe einen Weg gefunden: Die `Fortas´!"

    Stallmeister und Lucasek sahen ihn verständnislos an.

    „Was hat deine Versicherung damit zu tun? Die `Fortas´-Versicherung gehört doch zu deiner Gruppe, oder? " fragte Stallmeister schließlich.

    „Die Glauberg´schen mobilen und immobilen Werte sind seit vielen Jahren großteils bei der `Fortas´ versichert. All ihre Antiquitäten, die Möbel, die Teppiche, das Porzellan …" Heisenbach schien in der Vorstellung dieser Kostbarkeiten zu schwelgen.

    „Und?" fragte Lucasek, noch immer ohne Verständnis.

    „Seit Jahren sind diese Gegenstände nicht mehr taxiert und begutachtet worden. Ich habe in der `Fortas´ einen Gutachter ausgemacht, der in der Lage und willens ist, im Haus der Glaubergs nach unseren Angelegenheiten zu sehen."

    „Und wer ist dieser Gutachter? Wie hast du ihn ausfindig gemacht? Und warum denkst du, dass er tut, was wir wollen? Können wir ihm wirklich so weit trauen, dass wir ihn in unsere Angelegenheiten einweihen?"

    „Der Mann ist seit vielen Jahren in der `Fortas´ beschäftigt. Sein Ruf als Gutachter ist über jeden Zweifel erhaben. Sein Ruf als Ehrenmann hingegen … könnte gewaltig leiden, wenn bekannt würde, was ich über ihn herausgefunden habe. Ein Privatdetektiv mit - sagen wir - dehnbarem Rechtsempfinden, der ab und zu für mich arbeitet, hat ihn sich einmal vorgeknöpft. Und was soll ich sagen? Er hat Dreck am Stecken, und zwar üblen Dreck. Wenn das öffentlich wird, kann die `Fortas´ ihn nicht mehr halten. Und seine Familie wohl auch nicht."

    „Womit hast du ihn in der Hand?"

    „Spielsucht. Im Casino in Wiesbaden und in privaten Zirkeln hat er schon Unsummen verspielt. Und wenn sein Geld nicht gereicht hat, hat er Schuldscheine unterschrieben. Ungedeckte. Er steckt so tief im Dreck, dass seine Nase nicht mehr herausschaut!"

    „Damit hast du ihn zweifach in der Hand, sagte Stallmeister bewundernd. „Du könntest ihn auffliegen lassen, so dass er alles verliert und sich nur noch die Kugel geben kann. Und du kannst ihn aus seinem Dilemma befreien, wenn du seine Schulden übernimmst. Geschickt!

    „So ist es. Seine Schulden sind für uns nur Kleingeld. Ihm brechen sie das Genick. Er hat fast geweint vor Dankbarkeit, als ihm mein Mann den Ausweg aus seiner Situation gezeigt habe. Er macht sich schon bereit, nach Glauberg zu reisen. Seine Referenzen sind ausgezeichnet, denn sie sind echt! Die `Fortas´ hat ihn beauftragt, eine genaue Bestandsaufnahme aller versicherten Kunstgegenstände zu machen, die auf Schloss Glauberg untergebracht sind. Einschließlich der Dinge in den Tresoren und Stahlkammern."

    „Genial, so kann er überall herumschnüffeln, ohne dass es auffällt."

    „Und was ist, wandte Stallmeister ein, „wenn die Glaubergs schon längst davon wissen, wenn sie …

    „Rede keinen Unsinn! sagte Heisenbach schroff. „Wenn die Glaubergs die Fotografien kennen würden, glaubst du ernsthaft, sie hätten nicht schon längst Schritte unternommen, die Sache vor Gericht zu bringen? Nein, nein, sie wissen überhaupt nichts. Und das ist unsere Chance. Wir müssen den Film an uns bringen, bevor noch jemand ihn entwickeln und durchsehen kann. Damals vor Dünkirchen hatte Karl-Richard von Glauberg keine Gelegenheit, den Film aus seiner Kamera entwickeln zu lassen, das ist ausgeschlossen. Also muss die Kamera mit dem unentwickelten Film zu ihm nach Hause geschickt worden sein. Wir müssen ihn haben!

    Stallmeister nickte leicht, sein müdes Gesicht eine Maske von Furcht und Anspannung. „Du hast sicher Recht. Wir müssen ihn haben."

    Heisenbach nickte ihm zu. „Jetzt denkst du vernünftig. Wir werden also den Gutachter losschicken. Nur Glaubergs persönliches Büro ist ein kleines Risiko. Dort hat er nichts zu suchen. Aber er wird noch von einem Spezialisten trainiert, um Schlösser zu öffnen. Morgen wird er aufbrechen."

    „Und das mache ich jetzt auch, sagte Lucasek mit einem genüsslichen Grinsen und reckte seinen steifen Rücken. „Ich habe noch eine Verabredung mit einer … Wählerin. Einer sehr blonden Wählerin!

    Heisenbach schnaubte.

    „Vergiss das, du Esel! Deine Weste muss blütenrein sein, verstehst du das nicht? Du bist der Ritter auf dem weißen Ross, der Familienmensch ohne Tadel. Auf dir darf auch nicht der Schatten eines Skandals lasten. Sonst ist unsere ganze große Planung für die Katz. Ich hoffe, wir haben mit dir nicht aufs falsche Pferd gesetzt."

    Unter den bohrenden Blicken von Heisenbach und Stallmeister wurde Lucasek erst blass und dann tiefrot.

    „Ich weiß, worauf es ankommt, entgegnete er steif. „Sieh du nur zu, dass dein spielsüchtiger Versicherungsmensch uns keinen Strich durch die Rechnung macht.

    3

    Seit Tagen wölbte sich ein strahlendblauer Himmel über dem Rhein, der sich tief unten in einer weiten Schleife um die noch zartgrünen Weinberge legte.

    Nach einem eher nassen Vorfrühling war er jetzt endlich gekommen, der Frühling. Ein frischer, freundlicher Wind zauste die leuchtenden Narzissen, die der Gärtner von Schloss Glauberg zusammen mit einem Arbeiter vom Weingut in all die Kübel gepflanzt hatte, die im Schlosshof standen. Die große alte Platane trug schon einen Hauch von neuem Grün.

    Es war Samstagnachmittag, Wochenende, und im Hof sammelten sich etliche Besucher für die nächste Besichtigung. Seit zwei Jahren gab es die Führungen durch den alten Renaissancebau jetzt schon, und es wurden beinahe jede Woche mehr Besucher.

    Es gab eine neue Broschüre, die Interessenten eine verlockende Beschreibung bot: das alte Schloss stammte aus dem Jahr 1490, drei Stockwerke hoch thronte es hoch über dem Rhein, umgeben von gut gepflegten Weinbergen, die den berühmten Glauberger Riesling hervorbrachten. Zwei Seitenflügel stammten aus einer späteren Epoche, dazu kamen Wirtschaftsgebäude, Ställe, Remisen und Keller.

    Im Schloss lockten historische Repräsentationsräume, mittelalterliche Möbel und Kunst. In kleinen Gruppen schlurften die Besucher in Filzpantoffeln durch die Räume und ließen sich die Geschichte der Familie und des Hauses schildern.

    Die Führung der ersten Gruppe näherte sich dem Ende. Der Kustos geleitete sie in die Große Galerie, und seine Schäflein folgten ihm gehorsam. Alle, bis auf einen dicklichen kleinen Mann, der lieber selbst redete, als zuzuhören.

    „Ich kenne die Familie natürlich schon seit Ewigkeiten."

    Ein leises, bescheidenes Lächeln umspielte seine Lippen. Er war ein wenig zurückgefallen, so dass der Rest der Gruppe bereits den nächsten Raum in der langen Zimmerflucht erreicht hatte. In seiner Begleitung befand sich ein schlanker Herr in Grau, der so unvorsichtig gewesen war, ihm in die Finger zu fallen. Da er offensichtlich ohne Anschluss den Raum gequert hatte, hatte sich der dickliche Herr seiner angenommen. Er hielt ihn am Ärmel zurück und erfreute ihn mit seiner eigenen Geschichte.

    Der Fremdenführer, ein großer alter Mann im strengen schwarzen Anzug, warf den säumigen Schafen seiner Herde einen auffordernden Blick zu, bevor er sich räusperte und die Aufmerksamkeit auf die wunderbar erhaltenen Renaissance-Fresken im Raum lenkte. Man hörte seine Stimme durch die meterhohe Galerie hallen.

    „Meine Damen und Herren, wir befinden uns jetzt in der sogenannten Großen Galerie. Der Fremdenführer hob die Stimme zu einem geübten Leiern. „Sie ist zweiundzwanzig Meter lang, elf Meter breit und fünf Meter hoch. Die Deckengemälde stammen aus dem sechzehnten Jahrhundert von einem unbekannten italienischen Künstler und stellen zwölf verschiedene griechische Gottheiten dar. Beachten Sie vor allem die Darstellung des Zeus Xenios, als Beschützer der Gastfreundschaft. Hier fanden im Verlauf der Jahrhunderte Bankette und Bälle statt und auch heute noch dient der Raum größeren Familienfesten oder Gesellschaften. Bitte beachten Sie diese hervorragend erhaltenen Fresken eines ebenfalls unbekannten Künstlers aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert. Ja, kommen Sie ruhig ein wenig näher. Vielleicht im Halbkreis. Ja, genau. Lassen Sie doch die Kleinen ein wenig weiter nach vorne kommen, mein Herr. Danke. Also, diese Fresken stammen tatsächlich aus dem Jahr 1490 und wurden zugleich mit der Erbauung des Schlosses hergestellt. Und damit komme ich auch auf die wirkliche Besonderheit unserer Kunstwerke: es handelt sich nämlich um echte Fresken, die in einem Zug mit dem Putz aufgebracht wurden. Man kann sich vorstellen, dass es dafür einen wirklichen Künstler braucht, denn wenn es nicht beim ersten Mal klappte, dann war das ganze Bild verloren. Aus diesem Grund waren und sind echte Fresken in Deutschland ziemlich selten.

    Das hohe Triptychon in leuchtenden Farben war ein Prunkstück der Sammlung. Die einzelnen Teile stellten Motive aus der griechischen Mythologie dar. Links stürzte ein gut gebauter Ikarus aus wattigen Wolken zur Erde hinab, die Finger dramatisch gespreizt, den Mund in einem stummen Schrei aufgerissen. Direkt daneben erhielt eine ungerührte Aphrodite den Apfel aus der Hand ihres Verehrers Paris, während ihre unterlegenen Konkurrentinnen das Nachsehen hatten. Ganz rechts jedoch blieb der Blick hängen auf einer beklemmenden Szene: riesige Schlangen umwanden drei bedauernswerte Männer, in dem zweifellos erfolgreichen Bemühen, die drei zu erwürgen. Die Todesangst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Der Herr in Grau erinnerte sich, dass er schon als Kind immer gehofft hatte, einer der drei Männer werde die Schlangen besiegen.

    „Der gemeinsame Nenner dieser Motive und daher auch der offizielle Titel unseres Triptychons lautet: fatale Entscheidungen", erläuterte die altersbrüchige Stimme des Führers.

    Falsche Entscheidungen hatten auch den Mann im grauen Anzug dazu gebracht, eine scheinbar gefahrlose Abkürzung zu wählen. So war er in die unerbittlichen Fänge des selbsternannten Freundes der Familie geraten und nur gröbste Unhöflichkeit hätte ihn aus dieser Situation erlösen können.

    „Ich bin hier schon ein und ausgegangen, als der alte Graf noch lebte. Seine Gattin, … ah, das war eine Dame, wie man sie heute kaum noch findet! Eine echte Lady, sag ich Ihnen! Nicht wie diese jungen Dinger heutzutage mit ihren kurzen Röckchen und der frechen Art. Und diese Musik! Reine Negermusik ist das, was sie seit dem Krieg nur noch spielen. Kam aus England, also die alte Gräfin. Eine Lady soundso. Die Tochter von so einem Lord."

    „Earl", murmelte der Mann im grauen Anzug.

    „Wie?" fragte der Freund der Familie.

    Seine unvorsichtige Beute antwortete etwas Vages.

    „Wie gesagt, ich bin praktisch im Schloss aufgewachsen."

    Er seufzte in seliger Erinnerung und schloss genießerisch die Augen.

    Und deshalb musst du eine Führung buchen, um ins Haus zu kommen? überlegte sein wenig freiwilliger Zuhörer.

    „Das war Anno 30, noch vor dem Krieg. Mein Vater pflegte schon geschäftliche Beziehungen zum Haus Glauberg", fuhr der Redselige fort, bemerkte, dass sein Publikum vorsichtige Blicke in Richtung Ausgang schweifen ließ, und hakte sich vertraulich bei ihm unter. Dann lachte er ein dröhnendes, joviales Lachen, als er spürte, wie sich der Arm seines Begleiters anspannte.

    „Schüchtern, wie? Na, so ein junger Spund sind Sie ja gerade nicht mehr! Kommen Sie, schließen Sie sich mir ruhig an, dann gehen Sie auch nicht verloren in diesem riesigen Kasten. Wie gesagt, ich kenn mich aus. Kennen Sie den heutigen Besitzer? Nein? Ein famoser Mann. Hochgebildet natürlich! Musiker auch. Ich selbst hab´s nichts so mit der Schulweisheit. Bin mehr fürs Praktische. Die Schule des Lebens, sag ich immer. Die Schule des Lebens. Mein Vater hat mich gleich nach der Volksschule in die Lehre geschickt. Schlosser. Hab natürlich geflennt wie ein Schlosshund. Wollte Rennen fahren. So schnelle Flitzer. Mein Vater hat mir die Löffel langgezogen. Sie wissen schon, einziger Sohn, und so. Familienunternehmen. Der alte Graf hatte ja zwei Söhne. Der ältere ist im Feld geblieben. Verdammte Sache, der Krieg. Bei Dünkirchen gefallen. Noch gar nicht lang im Feld. War selbst ja kriegsuntauglich. Asthma. Verdammte Sache, hat mir wohl das Leben gerettet. Konnte so die Firma übernehmen. Krensler Landwirtschaftsmaschinen. Kennen Sie ja wohl, kennt jeder hier im Rhein-Main-Gebiet."

    Sein Zuhörer murmelte etwas Unbestimmtes, während sein selbsternannter Mentor ihn unerbittlich zurückhielt.

    „Der Graf hatte natürlich auch noch seinen zweiten Sohn. Hat die Zeit so ziemlich unbeschadet überstanden. Soll sogar bei der Aufklärung gewesen sein. Naja, alles höchst geheim, natürlich. Als der ganze Mist vorbei war, haben die Glaubergs hier alles wieder auf Vordermann gebracht."

    Mittlerweile waren die Anzeichen für die bevorstehende Abtrünnigkeit seines unfreiwilligen Begleiters nicht mehr zu übersehen. Er sah in die Runde und suchte offensichtlich nach einem Ausweg.

    „Sehen Sie, Herr …? Der Herr in Grau reagierte nicht auf die implizierte Frage. „So kam ich nach dem Kriege wieder in Kontakt mit den Glaubergs. Sie haben die Weinberge und ich, ich habe die modernsten Land- und Keltermaschinen, die es auf dem Markt gibt. Wenn das mal kein glücklicher Zufall ist, was?

    Der Herr in Grau reagierte auch hierauf nicht. Er hob die sorgfältig manikürte Hand und gab einem Mann im Tweed-Jackett, der soeben mit suchendem Blick die Galerie betreten hatte, ein Zeichen.

    Mit einem gemurmelten „Hat mich sehr gefreut." befreite er sich aus dem Griff seines Begleiters, entfernte sich rasch und zog den Mann im Jackett mit sich durch die hohe zweiflügelige Tür. Der Land- und Keltermaschinenverkäufer schüttelte den Kopf und beeilte sich seine Gruppe einzuholen, bevor sie ganz außer Reichweite war. Er hatte seinen aufschlussreichen Bericht noch gar nicht beendet. Seit dem Krieg galten auch die alten Regeln der höflichen Umgangsformen nicht mehr. Früher wusste man noch, wie man sich in guter Gesellschaft bewegte. Ein teurer Anzug war eben leider keine Garantie mehr. Außerdem bezweifelte er doch sehr, dass der Fremdenführer solche Alleingänge im Schloss gutheißen würde. Auf dem Schild am Treffpunkt für die Führungen stand ausdrücklich, dass man in den zu besichtigenden Räumen nicht fotografieren, nicht über die gespannten Seile steigen, die ausgestellten Antiquitäten nicht berühren und die Gruppe während der Führung nicht verlassen dürfe. Er hatte sich die Anweisungen gewissenhaft eingeprägt, obwohl er doch beinahe ein Freund des Hauses und mit den Räumlichkeiten von früher her vertraut war. Deshalb wurmte es ihn, dass der Herr in Grau sich so einfach unbekümmert darüber hinwegsetzte, wenn er schon zu spät zur Gruppe gestoßen war.

    Er musste einen der kostbar ausgestatteten Räume im Laufschritt durchqueren, um den Anschluss an die Gruppe der Schlossbesucher nicht zu verlieren. Die erhobene Stimme des Führers schallte offenbar aus einer Art Treppenhaus.

    „Wenn Sie aus den Fenstern blicken, haben Sie einen wunderbaren Blick auf die im englischen Stil angelegten Gärten hinter dem Haus und das Rheintal."

    Reichlich außer Atem fand er die anderen in einem imposanten Treppenhaus mit breiten Sandsteinstufen in einem warmen, rötlichen Farbton. Er fühlte sich verschwitzt und atemlos. Und er ärgerte sich immer noch über die Unhöflichkeit des Mannes im grauen Anzug. Aber die Führung hatte fast zwei Mark gekostet, und er war keiner, der das Geld verschwenderisch ausgab. Deshalb bemühte er sich, den Ausführungen des Fremdenführers aufmerksam zu folgen.

    „Wir verlassen nun den Renaissanceflügel. Bitte folgen Sie mir die Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Beachten Sie bitte die großen Wandgemälde von Tiepolo. Sie stellen verschiedene geistliche Würdenträger der Familie dar, die der Künstler im Auftrag der Fürstbischöfe von Würzburg malte. Unten folgen Sie mir bitte über den Hof in den Südflügel, der im achtzehnten Jahrhundert angebaut wurde. Sie finden dort eine sehr interessante Sammlung von Meißener Porzellan. Bitte sehr, meine Herrschaften!"

    „Wohnt hier eine Prinzessin?" platzte ein kleines Mädchen heraus, das die ganze Zeit über ungeduldig an der Hand seiner Mutter gezappelt hatte. Die Erwachsenen lachten nachsichtig.

    „Keine Prinzessin, meine junge Dame, erklärte der Kustos gutmütig. „Hier wohnt ein Graf.

    „Und wo geht es da lang?" wollte jemand wissen und deutete auf die hohen verschlossenen Türen gegenüber.

    „Dieser Bereich ist nicht Teil der Museumsführung. Dort liegen die Privaträume des Hausherrn."

    Die Gruppe machte sich auf den Weg nach unten, plauderte über die besichtigten Kostbarkeiten und amüsierte sich noch über die Frage des kleinen Mädchens. Einige blieben noch kurz vor den überlebensgroßen Portraits würdiger geistlicher Herren in Hermelin und Purpur stehen, die hochmütig aus den prunkvollen Rahmen blickten.

    „Unheimlich, diese Augen!" meinte eine junge Frau und klammerte sich wohlig schaudernd an den Arm ihres Begleiters. Tuschelnd setzte die Gruppe den Weg nach unten fort. Auf dem Treppenabsatz wartete der Kustos und zählte die Teilnehmer der Nachmittagsführung. Als fast alle an ihm vorüber und die ersten bereits durch die Tür in den Hof drängten, blieb er neben der Tür stehen und nahm würdevoll die Trinkgelder entgegen. Der Landmaschinenhersteller Krensler machte sich auf den Weg zur Gutsverwaltung, um die brachliegenden Geschäfte wieder in Gang zu bringen. Seine Hoffnung, jemanden aus der Familie Glauberg zu treffen, hatte sich leider zerschlagen.

    4

    Der 10-Uhr-Postbus war kaum besetzt an diesem kühlen, feuchten Frühlingsmorgen nur ein paar Tage später. Lediglich zwei ältere Frauen saßen hinten, die die lauten Motorengeräusche mit ihrem Gespräch übertönten und sich über einen besorgniserregenden Fall von Wassersucht in der Verwandtschaft verbreiteten. Auf der anderen Seite saß ein schweigsamer Mann mit einem verschlissenen Rucksack aus dunklem Tuch, der aussah, als sei er auf dem Weg zu einer ausgedehnten Wanderung in den Taunuswäldern.

    Heinz Mosbach hatte sich vorn hinter den Fahrer gesetzt, weil ihm bei Busfahrten immer übel wurde. Die Strecke, die der Bus nahm, gab ihm Recht, denn die schmale Straße wand sich steil durch die Weinberge, die sich zu beiden Seiten erstreckten. Die Rebstöcke begannen langsam grün zu werden. Mosbach umklammerte mit den Knien seinen Koffer, als der Bus eine scharfe Kehre nahm. Die Aktentasche auf seinem Schoß kam ins Rutschen und er musste rasch danach greifen. Weil er deshalb nach unten blicken musste, wurde ihm prompt wieder flau im Magen.

    Nach einigen weiteren engen Kurven schaltete der Fahrer geräuschvoll in einen kleineren Gang. Sie hatten endlich Glauberg erreicht, die kleine Stadt, die zu Füßen von Schloss Glauberg lag. Dickes Kopfsteinpflaster ratterte unter den Reifen des Busses. Mosbach hielt die Luft an, als das Fahrzeug fast eine Hausecke streifte. Das Städtchen war verwinkelt und gemütlich. Sicherlich drängelten sich hier im Sommer die Touristen. Die Häuser waren alt, aber liebevoll gepflegt. Überall blühten Frühlingsblumen in kleinen Vorgärtchen, gelbe Narzissen, leuchtend rote Tulpen und violette Hyazinthen. Jedes dritte Haus schien zu einem Weingut zu gehören. Noch fast kahle Reben kletterten malerisch an den Wänden empor.

    Der Postbus hielt schaukelnd und mit quietschenden Bremsen auf einem Marktplatz. Linkerhand befand sich eine Kirche aus Backstein und Schiefer. Direkt daneben drängten sich das Pfarrhaus, ein Gasthaus, ein Kolonialwarenladen und eine Postfiliale. Mitten auf dem Platz plätscherte ein gotischer (oder neugotischer?) Brunnen im Schatten einer großen Linde. Mosbach konnte sich vorstellen, hier im Sommer Urlaub zu machen. Seiner Frau würde es gefallen, auch wenn es nicht die Adria war.

    Der Fahrer drehte sich zu ihm um. Scheinbar hatte er zu lange gezögert.

    „Sie sind da", sagte er und machte eine auffordernde Handbewegung.

    Mosbach raffte sich auf, griff nach Koffer, Aktentasche, Mantel, Hut und Regenschirm und stolperte zum Ausgang. Der Bus gab wieder Gas und ließ ihn in einer blauen Abgaswolke zurück. Er sah sich um und stellte den Mantelkragen hoch, um sich gegen den Nieselregen zu schützen. In dem Brief hatte gestanden, er solle abgeholt werden. Nervös schob er den Mantelärmel hoch und verglich den Zeigerstand seiner Armbanduhr mit dem der Turmuhr. Zehn nach zehn. Der Bus hatte Verspätung. Hoffentlich war sein Chauffeur nicht schon wieder weggefahren.

    In diesem Moment fuhr ein Wagen in rasantem Tempo um die Ecke. Es war ein dunkler Unimog, der vor Dreck starrte. Knapp vor Mosbachs Koffer kam das Fahrzeug zum Stehen und ein Mann sprang bei laufendem Motor heraus. Er eilte um das Auto herum und streckte Mosbach die Hand entgegen.

    „Herr Mosbach? Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ich war noch unterwegs. Ich hoffe, Sie sind nicht nass geworden?"

    Mosbach schüttelte schwach den Kopf. War das der Besitzer von Glauberg? Der Mann war gekleidet wie ein Forstarbeiter. Grüne Hosen, grüne Jacke und dicke, schlammige Gummistiefel. Sein Haar war zerzaust und feucht vom Regen. Er schien in den Vierzigern zu sein und sein Gesicht, dem man den Aufenthalt im Freien ansah, war offen und freundlich. Mosbach ergriff die ausgestreckte Rechte und schüttelte sie. Die arglose Freundlichkeit des Mannes drehte Mosbach fast den Magen um. Wenn er nur nie erfuhr, was er eigentlich vorhatte … Während er Mosbach die Beifahrertür aufhielt und selbst um das Fahrzeug herumlief, stellte er sich vor. Sein Name war Weimann, Gerd Weimann, er war der Gutsverwalter von Schloss Glauberg, seit zehn Jahren schon. Er würde sich darum kümmern, dass Mosbach gut untergebracht wurde und alles bekam, was er für seine Arbeit benötigte.

    Mosbach stellte seinen Koffer zwischen seine Beine, nahm die Aktentasche auf den Schoß und atmete auf. Das Innere des Wagens roch nach Erde, Wald und durchdringend nach nassem Hund. Und plötzlich schob sich über seine linke Schulter ein riesiger grauer Kopf mit einem riesigen offenen Maul, aus dem die rosa Zunge heraushing, während riesige weiße Fangzähne bleckten. Mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei, aber er konnte nicht verhindern, dass sein ganzer Körper zusammenschrak. Aus den Augenwinkeln wagte er einen Blick nach links und blickte in die glühenden gelben Augen einer Bestie.

    „Oh, Gott! Tut mir leid, rief Weimann. „Ich hätte Sie vorwarnen sollen. Aber er ist wirklich völlig harmlos. Darf ich vorstellen: das ist Edward der Bekenner.

    Mosbach hatte plötzlich den Eindruck in ein surreales Theaterstück versetzt worden zu sein, bei dem man ständig das Gefühl hatte, entweder die Darsteller seien verrückt geworden, oder man selbst im Zuschauerraum. Einmal nur hatte seine Frau ihn zu einer solchen Veranstaltung mit geschleppt, und dann nie wieder.

    „Edward ist ein Irischer Wolfshund. Wir züchten sie seit der Jahrhundertwende. Die Mutter von Graf Glauberg hat sie aus England mitgebracht. Alle unsere Hunde tragen Namen von Königen und Königinnen aus der englischen Geschichte. Edward ist wirklich völlig harmlos. Vielleicht möchten Sie ihn einmal kurz streicheln? Edward, zurück! Es reicht jetzt!"

    Mosbach streckte vorsichtig die Hand aus und berührte das warme struppige Fell des riesigen Hundes. Der große Kopf mit der langen Schnauze wandte sich ihm sofort zu, die gelben Augen wirkten fast hypnotisch.

    „Sehen Sie, schon haben Sie Freundschaft geschlossen, sagte Weimann grinsend, während er krachend einen Gang einlegte und über den Platz fegte. „Ich war noch mit Edward im Wald. Er brauchte dringend Auslauf. Deshalb musste ich ihn mitbringen, wenn ich nicht hoffnungslos zu spät kommen wollte. Zum Schloss hoch war es zu weit.

    „Sind da noch mehr von … von diesen Schoßhündchen oben auf dem Schloss?" Mosbach krallte sich an seinem Sitz fest, als Weimann am Ortsausgang noch einmal Gas gab und die steilen Kehren mit mehr Wagemut als Vernunft zu nehmen schien.

    „Im Moment nur noch zwei: Edwards Vater William der Eroberer und seine Schwester Maude. Ihr letzter Wurf ist eben abgegeben worden. Das war hart, als sie gestern den letzten Welpen abgeholt haben. Ich schwöre, der Graf hatte selbst Tränen in den Augen, auch wenn er das nie zugeben würde."

    Mosbach lachte und für einen Augenblick wünschte er sich sehnlich, er hätte wirklich nur den Auftrag, eine Inventarliste der `Fortas´ zu vergleichen. Er blickte aus dem Fenster und konzentrierte sich auf die Umgebung. Sie fuhren durch Reihen und Reihen von Rebzeilen, seit sie das Städtchen hinter sich gelassen hatten. Die Steigung nahm langsam ab und schließlich erreichten sie ein Plateau, hinter dem ein dunkel bewaldeter Hang aufragte. Zwischen Weinbergen und Wald lag Schloss Glauberg, eine weitläufige dreiflügelige Anlage, in deren Mitte ein mächtiger Burgfried aufragte, offenbar der älteste Teil der Burganlage. Mosbach fühlte Vorfreude beim Gedanken an die Kunstschätze, die er in diesen dicken Mauern entdecken würde. Wenn … wenn es doch so wäre, dass er nur der Gutachter der Versicherung wäre. Er hätte diese Tage genossen.

    Der Wagen fuhr durch ein hohes schmiedeeisernes Tor über knirschenden Kies in den Innenhof ein. Das imposante Schlossgebäude aus dem 15. Jahrhundert wurde im rechten Winkel von zwei jüngeren Seitenflügeln komplettiert, die zusammen den Hof bildeten. Das rechte der beiden war offensichtlich ein Wirtschaftsgebäude. Als Mosbach die Tür öffnete schlug eine Glocke auf dem steilen Dach gerade zweimal. Halb elf.

    Mosbach stieg aus, sammelte seine Sachen aus dem Auto und wollte dem Gutsverwalter folgen. Eine Tür im Seitenflügel öffnete sich und zwei riesenhafte graue Hunde liefen schwanzwedelnd, aber ohne zu bellen auf sie zu. Weimann ließ Edward den Bekenner aus dem Auto springen und klopfte allen Hunden liebevoll die Flanken.

    „Lassen Sie Ihre Sachen hier am Auto, sagte er dann zu Mosbach. „Ich bringe Sie eben nach oben. Graf Glauberg müsste noch in seinem Arbeitszimmer sein. Ich stelle Sie vor und danach zeige ich Ihnen Ihr Zimmer für die nächsten Tage.

    Weimann ging auf die gewaltige Renaissancefassade des mittleren Flügels zu. Mosbach hielt sich den Hut fest, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die drei mächtigen Stockwerke mit den Reihen von im Sonnenlicht blitzenden Fenstern. Über dem imposanten Eingangsportal ragte ein Erker und darunter tat ein in Stein gemeißeltes Wappen kund, wessen Machtbereich man hier betrat. Es handelte sich um einen stilisierten Wolfskopf über gekreuzten Schwertern, ein Emblem, das der Gutachter von einigen der versicherten Preziosen bereits kannte. Der Verwalter verschwand in einem seitlich gelegenen Eingang und Mosbach folgte ihm rasch über den Hof ins Haus. Drinnen umfing ihn kühles Dämmerlicht, das durch beigefasste Fensterscheiben auf die Sandsteinstufen fiel. Aufmerksam blickte er um sich, als sie die breite Treppe in den ersten Stock hinaufstiegen. Die linke Tür führte laut Weimann in die Renaissanceräume, die man auch an den Wochenenden besichtigen konnte. Rechts lag eine weitere große zweiflügelige Tür, umrahmt von einem prächtigen geschnitzten Türstock im Renaissance-Stil. Weimann klopfte kurz an und betrat die Wohnung, ohne auf ein weiteres Zeichen zu warten. Kleine Brocken von getrocknetem Schlamm fielen von seinen Stiefeln. Er winkte Mosbach ihm zu folgen. Die Räume waren einfach prachtvoll. Mosbachs geschulter Blick schweifte begehrlich über die Wandgemälde aus dem fünfzehnten Jahrhundert, steinerne Vasen – Repliken oder Originale? - und ein Gemälde, das verdächtig nach einem Fra Angelico aussah.

    Weimann war schon weitergegangen, und Mosbach beeilte sich, ihm zu folgen. Der Gutsverwalter klopfte an einer Tür auf der linken Seite und öffnete nach dem Herein.

    „Graf Glauberg, hier ist Herr Mosbach von der `Fortas´- Versicherung."

    Mosbach trat hinter ihn und warf einen neugierigen Blick auf den Besitzer der Kostbarkeiten. Er sah einen schlanken Mann in den Vierzigern. Er trug einen gut geschnittenen grauen Anzug mit Weste und Uhrenkette. An der linken Hand bemerkte Mosbach einen schweren Siegelring. Er saß an einem imposanten Marmortisch, der ihm offenbar als Schreibtisch diente, denn er war mit Papieren übersät.

    Er hätte ebenso gut eine Mönchskutte tragen können, fuhr es Mosbach durch den Sinn. Das schmale Gesicht mit der festen Kontur des Kiefers und den hochstehenden Wangenknochen mochte einem Asketen aus Chaucers `Canterbury Tales´ gehören. Oder – in Anbetracht der schweren Lider und der tiefliegenden Augen – einem olympischen Seher. Über der eleganten Linie des Haaransatzes begann sein dunkles Haar bereits grau zu werden.

    Ein Gesicht, dachte Mosbach weiter, so verschlossen wie eine Schweizer Bank. Dieser Mann würde nichts sagen, was er nicht sagen wollte, und nur sehr wenig tun, was er nicht tun wollte. Mosbach war sich nicht darüber im Klaren, was ihn beim Anblick des Hausherrn bewegte. Ein Gesicht jedenfalls, das man so schnell nicht wieder vergaß.

    Mosbach räusperte sich. „Graf Glauberg, ich freue mich, Sie kennenzulernen."

    Glauberg legte den Füllfederhalter zurück und hob den Blick. Und Mosbach konnte ein leises Keuchen nicht verhindern.

    5

    „Ich hätte Sie vorwarnen sollen."

    Schon zum zweiten Mal hörte Mosbach diesen Satz. Weimann führte ihn über den Hof zum Südflügel. Dort hatte die Haushälterin ein Gästezimmer für ihn vorbereitet. Mosbach trug seine Aktentasche, der Verwalter seinen Koffer. Der Nieselregen hatte aufgehört, die Luft war erfüllt vom Duft der feuchten Erde. Eine Amsel hatte begonnen zu singen. Sie saß auf dem Dach des Turms. Ein perfekter Frühlingstag.

    „So, hier entlang."

    Sie traten durch die Außentür und befanden sich in einer völlig anderen Umgebung als im Hauptflügel.

    „Dieser Teil des Hauses wurde im achtzehnten Jahrhundert angebaut. Der alte Graf und seine Frau hatten hier ihre Wohnung. Sie finden in den Räumen reinstes Regency. Die alte Lady kam aus England. Deshalb die Wolfshunde und die Einrichtung."

    „Sehr schön, murmelte Mosbach. „Hat er von ihr …?

    „Nein, nicht von seiner Mutter. Das kommt von den Glaubergs. Wird von einer Generation auf die andere vererbt, fast ohne Unterbrechung. Seltsam, nicht wahr?"

    „Das kann man wohl sagen!"

    „Daher übrigens auch der Familienname, sagt man."

    „Glauberg?"

    „Nein, der Familienname: Wolf. Der volle Name lautet Julius Alexander Rhabanus Wolf von Wolfenstein-Glauberg und Schönfeld."

    „Imposant."

    „Nicht wahr? Weimann grinste. „Es gibt alte Legenden um den Namen.

    „Wundert mich nicht. Diese Augen …"

    Als Glauberg ihn angesehen hatte, war Mosbach zusammengezuckt. Er hatte den Eindruck, dass ihn ein weiterer der Wolfshunde fixierte. Denn die Augen des Mannes waren von einem verblüffend leuchtenden Hellgelb, das in seinem dunklen Gesicht noch auffälliger war. Mosbach hätte sich nicht gewundert, wenn die Pupillen geschlitzt gewesen wären. Genau gesagt wusste er gar nicht, ob es nicht so war, denn er hatte es nicht über sich gebracht, dem Mann ins Gesicht zu sehen.

    „Hoffentlich … hoffentlich habe ich Graf Glauberg nicht gekränkt. Ich war wohl sehr unhöflich. Ich fürchte, ich habe mich unmöglich benommen. Aber diese gelben Augen …"

    Weimann schüttelte den Kopf und lachte.

    „Ich glaube kaum. Daran ist er seit langem gewöhnt. Im Übrigen präferieren die Mitglieder der Familie die Bezeichnung Bernstein. Da ist man ein wenig eigen."

    Mosbach lächelte matt. „Ich werde es im Sinn behalten."

    6

    Nach dem Mittagsimbiss in der Wohnung des Verwalters nahm er Mosbach mit auf eine Besichtigungstour. Sie begannen im Südflügel, in dem auch Mosbachs Zimmer sowie weitere Gästezimmer lagen. Im ersten Stock erreichten sie die Gesellschaftsräume des Flügels.

    „Die Eltern des Grafen", sagte Mosbach und deutete auf zwei große Gemälde rechts und links eines offenen Kamins, die offenbar Anfang des Jahrhunderts gemalt worden waren. Ein hochgewachsener schlanker Mann lehnte steif an eben diesem Kaminsims. Er sah dem Mann, den er heute Morgen kennengelernt hatte, frappierend ähnlich. Seine Augen leuchteten aus dem dunklen Gesicht. Zu seinen Füßen lag ein struppiger grauer Wolfshund. Das Portrait zur Rechten zeigte eine elegante Dame, gekleidet im Stil der Vorkriegszeit. Ihre Hand lag auf dem Kopf eines weiteren Wolfshundes.

    „Die Eltern des Grafen, bestätigte Weimann. „Und neben ihnen die Stammeltern unserer Hunde. Die Bilder sind Teil der Versicherungsmasse, glaube ich.

    „Das sind sie allerdings, bestätigte Mosbach inbrünstig. „John Singer Sargent `Graf Glauberg´ und `Lady Rose St.Vincent´. Die Bilder wurden kurz nach der Hochzeit gemalt.

    Mosbach trat näher an die Gemälde heran, die Hände auf dem Rücken verschränkt, um die Pinselführung zu bewundern.

    „Eine schöne Frau", bemerkte er.

    „Und eine feine Dame", bestätigte Weimann. „Ich habe sie kurz vor ihrem Tod im Jahr ´52 noch kennengelernt. Damals hatte ich gerade meine Stelle hier angetreten. Und sie hat sich äußerst freundlich um mich gekümmert. Der alte Graf war schon verstorben und der Verwalter war ins Rentenalter gekommen. Das war der alte Krummeich, den Sie übrigens heute Abend noch kennenlernen. Er ist auf Schloss Glauberg geblieben und betreut

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