Mehr Zuhause als ich
Von Hans Gerhard
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Über dieses E-Book
Die Geschichten dieses Bandes gehen den Situationen auf den Grund: Gerhard erzählt von der Natur der Menschen, ihrer Unruhe und ihren kleinen Fluchten. Es sind dem Alltag entnommene Szenen, Momente zwischen Freunden, Paaren, Entscheidern, die er mit feinem Pinsel malt und deren Geheimnisse
er ihnen zu entlocken weiß. Am Ende zeigen sich seine Stillleben immer in ganz neuem Licht.
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Buchvorschau
Mehr Zuhause als ich - Hans Gerhard
Impressum
Die Sehnsucht schildert mir dein Bildnis an die Wände / dem zu der Ähnlichkeit nichts als das Leben fehlt.
Johann Christian Günther
Weißt du, wie viel?
Neulich war ihr Ex-Freund bei ihr, um sein Aquarium abzuholen. Ich sage immer noch bei ihr, aber eigentlich wohnen wir zusammen. Eigentlich war er bei uns.
Das Aquarium steht auf einer alten, dunkelbraunen Kommode in dem Zimmer, das früher sein Arbeitszimmer war. Jetzt stellen wir da alles Mögliche rein – Bücher in ein Regal, das er nicht mehr braucht, zwei hüfthohe Topfpflanzen, um die Sela sich kümmert, eine Kiste Lego, für die ihr Patenkind schon zu alt ist, Kabel in einem Schuhkarton, der überläuft, ein winziges Trampolin, Schuhe. So Sachen. Und eben das Aquarium. Ohne Fische, die hatte er bei seinem Auszug mitgenommen. In einer speziellen Fischtransport-Plastiktüte. Sela hatte mir das erzählt. Das Aquarium sei sowieso schon zu klein geworden. Er habe sich immer schon ein neues kaufen wollen. Es seien sicher zwei Dutzend Fische gewesen, so genau könne sie das gar nicht sagen. Es seien auch welche verstorben, immer mal wieder, und manche hätten sich vermehrt. Ich hatte genickt. Ich hatte sie gestreichelt. Ich hatte sie angeguckt und an die Fische gedacht. Ich hatte sie geküsst. Das Aquarium war mir egal gewesen. Es stand eben da rum. Immer noch unter einer Lampe. Immer noch mit einem kleinen Kästchen außen am Rand, verbunden mit dünnen Schläuchen. Vielleicht so groß wie eine Espressomaschine. Ich hatte nie darauf geachtet.
Jetzt klingelte er, Sela drückte auf den Summer. Vorher war sie im Flur hin und hergegangen. Ich saß allein auf einem hohen Hocker in der Küche. Sie hatte schon drei Tassen rausgestellt, bemerkte ich.
Wir tranken Kaffee, den Sela aus einer großen Kanne einschenkte. Sie schob die Würfelzuckerpackung vor ihn hin. Er nickte. Ich hatte etwas Kaffee verschüttet; ein Blatt Küchenpapier steckte unter meiner Tasse. Er hatte einen flachen Koffer dabei. Er trug eine Brille und kurze, dennoch gewellte Haare. Unsere Küche ist eigentlich ganz schön groß, dachte ich. Wir könnten hier auch zu viert sitzen. Zu fünft. Und Kaffee trinken.
»Und wie geht’s dir so?«, fragte er und schien keine Antwort zu erwarten. Ihre Hand lag auf dem Küchentisch, sie tastete nach meiner und drückte sie halbherzig. »Wir werden nicht wild rumknutschen, wenn er da ist«, hatte sie gesagt. Ich solle mir keine Sorgen machen. Sorgen worüber, hatte ich gedacht. »Okay«, sagte er nach einer Weile, »das ist jetzt hier für mich genauso blöd.« Ich grinste. Ich bremste mich. Ich versuchte, keine Emotionen zu zeigen und fragte mich gleichzeitig, welche eigentlich.
»Ich schätze, ich packe dann mal das Aquarium zusammen.« Er griff nach seinem Koffer. »Ist der für das Aquarium?«, murmelte ich. Er nickte. Er erhob sich langsam. Sela schien aufstehen zu wollen, blieb aber sitzen. Er ging allein. Nach einer Minute kam er zurück. »Das ist ja noch voller Wasser«, sagte er. Ich sah zu meiner Freundin hinüber. »Meinst du, ich packe dein Aquarium zusammen?«, fragte sie. Er seufzte. Ich sah auf das Küchenpapier unter meiner Tasse – der Kaffeefleck wird sich immer weiter ausbreiten, bis man ihn irgendwann gar nicht mehr erkennt. Das Blatt muss nur groß genug sein oder genug Saugkraft besitzen.
»Also: Wo ist der Schlauch?«, fragte er. Sie zuckte die Achseln. »Der wird da auch irgendwo sein«, sagte sie. Er drehte sich um und ging. Ich folgte ihm, ohne zu wissen, wieso. Wir sahen uns nicht an.
Tatsächlich war das Aquarium zu etwa fünf Sechsteln gefüllt. Und die Lampe brannte und das kleine Kästchen am oberen Rand summte leise. Das war mir nie aufgefallen. Außerdem standen Päckchen auf der Kommode, die wie Salzpäckchen aussahen, aber auch Tüten. Er seufzte wieder. »Ich dachte, da wären irgendwann Algen und so was drin«, sagte ich schließlich. Wie viele Algen eigentlich, fragte ich mich. Und wie viele Fische passen in so ein Ding rein? Kommt auf die Größe an, klar. Wie man die wohl zählt, dachte ich, wenn es ganz viele sind, aber sehr klein. Die bewegen sich ja ständig. Algen gehen sicher nach Gramm oder Milligramm oder was.
Sie stand plötzlich hinter uns. Sie war wütend. »Hast du aufgefrischt?«, fragte er. »Gefiltert? Die ganze Zeit? Und gereinigt? Die Wände?« Jetzt bemerkte ich einen Schwamm an der linken Seite des Aquariums. Mir fiel auf, dass ich sofort begriff, wie das funktioniert: ein Magnet hält durch die Scheibe hindurch die beiden Hälften zusammen. Wenn man außen schiebt, zieht sich der Innenteil mit. Sela fuhr sich durch die Haare. Nur das kleine Kästchen summte, ansonsten herrschte Stille.
»Aber es sind doch gar keine Fische drin«, sagte ich schließlich. »Das weiß ich«, sagte sie. »Haltet ihr mich für blöde? Aber … ich hab’ keine Lust, dass es hinterher heißt, ich hätte was kaputtgemacht.«
»Aber kann man das Wasser nicht einfach …« – ich verstummte. Er öffnete die obere Schublade der Kommode. Ich widerstand dem Impuls, ihn zurückzuhalten. Ich erkannte einen dunkelgrünen Plastikschlauch, wie ein Waschmaschinenschlauch, aber dünner. Es ist ja wohl eine Wissenschaft, dachte ich. Das ganze Zubehör. Die ganzen Rituale. Es ist winzig, aber trotzdem im Grunde ein Ozean. Noch viel zu entdecken.
Er sah sich im Zimmer um. Er schien etwas zu suchen. Schließlich sah er Sela an. Beide rührten sich nicht. Ich räusperte mich. »Ist der Eimer noch in der Küche?«, fragte er. »Unter der Spüle?« »Wo soll er denn sonst sein?« gab sie zurück. Er seufzte und drückte sich an uns vorbei. Was seufzt er eigentlich immer, dachte ich. Mein Blick fiel auf seinen Koffer, flach, groß, schwarzes Kunstleder. Er lehnte am Heizkörper. Man baut es auseinander, dachte ich. Man macht es leer. Dann baut man es auseinander. Man setzt die Scheiben und den Boden und die Verbundteile in extra geformte Aussparungen im Schaumstoff, der mit dünnem Stoff überzogen ist. Irgendeine Dichtung. Und der Kies oder was das ist? Silikat? Was macht man dann mit dem Silikat? Kommt das einfach weg?
Er kam mit dem Eimer zurück. Er setzte den dünnen Schlauch in eine Pumpe, die er ebenfalls aus der Schublade nahm. Er betätigte einen kleinen Hebel, die Vorrichtung schnarrte und das Wasser rann in den Eimer. Er blickte weiter auf das Aquarium und den allmählich sinkenden Wasserspiegel. Zu langsam sinkend, als dass man es hätte verfolgen können, aber wenn man weiß, dass eine Bewegung abläuft, dann bildet man sich irgendwann ein, man könnte sie sehen, das passiert im Gehirn, automatisch, aber wenn man das wiederum weiß, dass es nur eine Illusion ist, dann hört es sofort auf, weil man dann nämlich nicht mehr daran glaubt, es wirklich sehen zu können.
»Ich dachte eigentlich, du hättest das alles schon mal gemacht«, sagte er. »Das alles hier.« »Du kannst dein Scheißaquarium selber leer machen«, zischte sie. Sie blies sich ein paar dunkelblonde Haare aus dem Gesicht. »Okay, okay«, sagte er. Das Wasser rann weiter, die Pumpe ratterte ganz leise. Wenn man das alles erfassen könnte, dachte ich. Die Liter kann man ausrechnen, das ist Breite mal Höhe mal Länge. Das kann man zumindest alles mal schätzen. Eine Wissenschaft für sich, dachte ich.
»Ich meine, wenn du schon auffrischst die ganze Zeit und reinigst …« – Sie presst gerade die Lippen aufeinander, dachte ich und beobachtete weiter das Wasser, das in den schwarzen Eimer lief. »Spült man die Fische, wenn sie tot sind, eigentlich im Klo runter, geht das eigentlich?«, fragte ich.
Er drehte sich nach mir um. »Sollte man nicht«, antwortete er. »Kleine kann man vorher in Klopapier wickeln.« Sie lachte auf: »Na klar, dafür bist du ja Experte.« Er seufzte wieder. »Wieso?«, fragte ich. »Er promoviert gerade über Klopapier«, sagte sie. »Aha«, sagte ich. »Ich promoviere nicht über Klopapier«, erklärte er. Er sah wieder zu mir. »Aha.« Jetzt sah er von oben herab auf den Eimer, der auf dem Boden stand.
Statistik, dachte ich, genau. Logisch, kein Mensch promoviert über Klopapier. Höchstens, wieviel davon verbraucht wird. Das ist ja messbar. Wenn man erfassen kann, wie viel Toilettenpapier durchschnittlich pro Kopf verbraucht wird und man dann berechnet, wie viel Toilettenpapier in den Handel gelangt, dann kann man eine zuverlässige Bevölkerungsmengenanalyse durchführen. Das ist doch Quatsch, dachte ich. Aber andererseits …
»Wieso, es ging doch dauernd um Klopapier«, rief Sela. »So hast du mir das doch dauernd erklärt.« Was ist denn mit dem Klopapier, das gar nicht verkauft wird, dachte ich. Aber Moment. Das kann man sicher kontrollieren. Erstens wird es irgendwann verwertet. Toilettenpapier wird nicht schlecht. Und wenn es wirklich mal vernichtet wird, dann kann man es abziehen. Wenn man weiß, wie viel tausend Personen verbrauchen, dann weiß man auch, wie viel ein Einzelner verbraucht. Und das kann man schließlich ermitteln.
»Oder ist das nur deine Erklärung für Doofe«, fragte Sela und lachte bitter auf. »Für Leute wie mich? Du erzählst denen, es geht um Klopapier, weil du weißt, dass sie damit was anfangen können? Worum geht es denn sonst?«
Stimmt schon, dachte ich, man weiß nicht, wie viele Menschen überhaupt leben. Nicht mal hier in Deutschland. Und in der dritten Welt erst recht nicht. Ich dachte an Müllberge, irgendwo in Afrika oder in Asien. Rauchschwaden. Schwarz und giftig. Die verbrennen da alte Computer, um an das Kupfer zu kommen und was weiß ich. Und wer ahnt auch nur, wie viele Menschen das sind. Die wimmeln da wie Ameisen durcheinander. Oder wie unzählige kleine Fische. Hunderttausende. Millionen. Abermillionen. Die kann man nicht zählen, dachte ich. Alles Menschen, die es gibt oder auch nicht.
Ich sah auf Sela. Du hast die ganze Zeit das leere Wasser gefiltert, dachte ich. Und du hast nie begriffen, über was dein Freund promoviert. Das Wasser lief weiter in den Eimer, er war schon drei viertel voll. »Das wird zu schwer«, sagte ich. Er stellte die Pumpe ab und hängte das freie Schlauchende in eine violette Klemme, die an dem schwarzen Metallgriff meines alten Laufbandes befestigt war, das vor dem grauen Regal stand. Er bückte sich nach dem Eimer. Ich stellte mir vor, wie ich nach diesem Kerzenständer greifen, ihn erheben und danach unschlüssig herumstehen könnte. Er drückte sich wieder an uns vorbei. Wir hörten, wie er das Wasser im Badezimmer in die Dusche goss. Er kehrte zurück und richtete den Schlauch, dann stellte er die Pumpe wieder an.
»Ich hab jedenfalls oft genug versucht, es dir zu erklären«, sagte er. »Und ja, der Stoff ist auch in Klopapier drin. Aber eben auch in vielen anderen Gegenständen. Keine Ahnung, warum ich Klopapier gesagt habe. Aber sagen darf man bei dir ja anscheinend überhaupt nichts.« Jetzt sah er mich an, gespielt erschöpft. Oder wirklich erschöpft? Ich sah an ihm vorbei auf meine Freundin. Sie holte tief Luft.
»Es ist mir scheißegal, worüber du promovierst«, rief sie. »War es immer schon. Und jetzt bau dein Scheißaquarium ab und verpiss dich.« Ich dachte an die Menschen, die man zählen kann, wenn man die Substanz misst, die überall drin ist. All die Menschen, die es vielleicht gibt oder auch nicht. »Ist in Ordnung«, sagte er.
Ich überlegte, ob er für die toten Fische eine Klopapierrolle neben dem Aquarium hatte, früher, oder ob er jedes Mal erst ins Bad rennen musste, wie für den Eimer in die Küche. Oder ob er es ganz anders gemacht hatte.
Der Wasserspiegel im Aquarium war auf weniger als die Hälfte gesunken. Das ist doch Quatsch, dachte ich. Wie kann man diesen Stoff denn messen? Wer schreibt denn abends genau auf, wie viel Klopapier er heute verbraucht hat? Oder gekauft? Und die Kinder, was ist mit den Kindern? Die spielen doch damit. Oder wie viele Fische er heute im Klo runtergespült hat, weil sie gestorben sind, und was ist mit denen, die von den anderen gefressen werden? Und die Zahlenmengen, dachte ich, die Zahlenmengen sind doch einfach zu groß, so unfassbar groß, das kriegen wir nicht hin. Das kriegen wir nicht