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Running Man: Ein Ultralauf zurück ins Leben: Aus dem Drogenrausch zum Runners High
Running Man: Ein Ultralauf zurück ins Leben: Aus dem Drogenrausch zum Runners High
Running Man: Ein Ultralauf zurück ins Leben: Aus dem Drogenrausch zum Runners High
eBook480 Seiten6 Stunden

Running Man: Ein Ultralauf zurück ins Leben: Aus dem Drogenrausch zum Runners High

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Über dieses E-Book

Vom Drogenjunkie zum Ultraläufer? Charlie Engle, der Sohn von Hippie-Studenten, entdeckt schon früh seine Leidenschaft für den Sport, insbesondere das Laufen. Doch sein rebellischer Freiheitsdrang und die ständige Suche nach dem ultimativen Kick werden ihm zum Verhängnis. Am College kommt der begabte junge Mann erstmals mit Alkohol und Kokain in Berührung und führt jahrelang ein Doppelleben als erfolgreicher Unternehmer, liebevoller Familienmensch und engagierter Freizeitläufer. Aber die Macht der Drogen ist stark und Engle droht daran zu zerbrechen. Prostitution, Kriminalität, Gewalt – er weiß, was es heißt, in der Gosse zu landen.
Woher nahm er die Kraft, dem Drogensumpf zu entkommen? Wie ist es möglich, dass er heute zu den weltweit besten Ultraläufern zählt? Berührend und fesselnd schildert Engle seinen beeindruckenden Lauf zurück ins Leben. Er beweist, dass es nie zu spät ist umzukehren, das Leben bietet so viel mehr als den flüchtigen Rausch der Drogen.
RUNNING MAN ist kein Buch über das Laufen, Engles Botschaft lautet nicht, Laufen ist die Lösung. Aber Sport ist wohl eine der schönsten Möglichkeiten, wahre, bleibende Glücksmomente zu erleben.


„Running Man wird Sie zum Weinen, Lachen und Jubeln bringen, alles neu definieren, was Sie bisher für möglich gehalten haben, und Sie völlig sprachlos zurücklassen. Es ist ein packendes und ausnahmslos authentisches Zeugnis dessen, was wir alle gemeinsam haben – zutiefst menschlich zu sein.”
Rich Roll, Ausdauerathlet und Bestseller-Autor von Finding Ultra
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Feb. 2018
ISBN9783962570125
Running Man: Ein Ultralauf zurück ins Leben: Aus dem Drogenrausch zum Runners High
Autor

Charlie Engle

Charlie Engle ist Ultramarathonläufer, Abenteurer, Weltentdecker und Philanthrop. Er ist gleichzeitig ein ehemaliger Drogensüchtiger, verurteilter Straftäter und ein Mann, der bis an die Grenzen der menschlichen Ausdauer und Leistungsfähigkeit geht.

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    Buchvorschau

    Running Man - Charlie Engle

    stehen.

    Kapitel 1

    „Du hast mich geliebt, bevor du mich gesehen hast;

    Du liebst mich mit allen meinen Fehlern;

    Du wirst mich lieben, weil ich der Mensch bin, der ich bin."

    Luffina Lourduraj

    Ich wurde 1962 in einem kleinen Nest in den Hügeln außerhalb von Charlotte, North Carolina, geboren. Ab dem Moment, ab dem ich laufen konnte, genoss ich als Kind große Freiheiten. Meine Mutter und mein Vater waren 19-jährige Studienanfänger und hatten sich auf einem Sommerferien-Literaturkurs der University of North Carolina at Chapel Hill während einer Zigarettenpause kennengelernt. Richard Engle, mein Vater – schlaksig, einsneunzig groß und in seinen gebügelten Khakihosen und seinen Button-Down-Hemden immer sehr adrett – spielte an der University of North Carolina in der Basketballmannschaft der Neulinge mit. Sein Trainer war der legendäre Basketballtrainer Dean Smith. Meine Mutter, Rebecca Ranson – 1,57 m groß, mit unbändigen kurzgeschnittenen braunen Haaren und dunklen Augen – war eine angehende Theaterstückeschreiberin. Ihr Vater hatte es während seines Studiums als Läufer in die landesweite Bestenauswahl der USA geschafft und war an der University of North Carolina at Chapel Hill ein hochgeschätzter Geländelauftrainer geworden. Doch meine Mutter verbrachte ihre High-School-Jahre nicht auf einem Sportplatz oder auf einer Aschenbahn. Sie wurde mit sechzehn schwanger und in ein Heim für unverheiratete junge Mütter gesteckt, in dem sie blieb, bis sie ein Mädchen zur Welt brachte, das sie zur Adoption freigab. Ich erfuhr erst Jahrzehnte später, dass ich eine Halbschwester hatte.

    Als ich drei war, ließen meine Eltern sich scheiden. Mein Vater trat der Armee bei und ging nach Deutschland. Ich sah ihn erst nach mehr als vier Jahren wieder. Später erfuhr ich, dass meine Eltern übereingekommen waren, vor mir nicht schlecht übereinander zu reden, was erklärt, warum meine Mutter ihn von dem Tag an, an dem er die Familie verließ, fast nie mehr erwähnt hat. Er verschwand einfach. Meine Mutter stürzte sich in ihr Studium und in das Schreiben ihrer Stücke und protestierte mit Inbrunst gegen jede Ungerechtigkeit, die ihr ein Dorn im Auge war. Und Mitte der 60er Jahre gab es in North Carolina verdammt viel, worüber man sich aufregen konnte.

    Meine Mutter heiratete noch einmal. Ihr neuer Ehemann, Coke Ariail, war Regisseur, Produzent, Schauspieler, Fotograf und Bildhauer, und sein Lieblingsmotiv war meine nackte Mutter. Er war ein sanftmütiger Mann, entstammte einer konservativen Familie des Südens und hatte die unmögliche Aufgabe, zu versuchen, meinen Vater zu ersetzen. Ich missachtete seine Regeln und nahm seine Bestrafungen nicht ernst. Noch bevor ich zehn wurde, zogen wir fünfmal um. Coke und meine Mutter fanden immer eine neue Theatergruppe, die sie aufbauen konnten, einen neuen Abschluss, den sie noch machen konnten, oder irgendein Unrecht, zu dessen Behebung sie einschreiten mussten. Ein Jahr ums andere fühlte ich mich im September wie ein Sonderling: der neue Junge mit den zotteligen, schulterlangen Haaren und den Hippie-Eltern, der seine Samstage nicht beim Baseballtraining oder bei den Spielen der Kinder- und Jugendliga verbrachte, sondern in avantgardistische Theateraufführungen ging oder bei Antikriegsdemonstrationen mitmarschierte. Als per Gerichtsbeschluss die Rassentrennung aufgehoben wurde, setzte ich mich im Bus zu den schwarzen Schülern und freundete mich mit einem leise sprechenden Jungen namens Earl an, was mich in den Augen meiner konservativen Klassenkameraden zu einem noch größeren Sonderling machte.

    Kurz bevor ich in die vierte Klasse kam, zogen wir außerhalb von Durham aufs Land in ein einstöckiges Haus mit abblätternder Farbe und einer durchhängenden Veranda. Meine Mutter liebte das Haus. Sie meinte, es habe „Charakter und „eine solide Grundkonstruktion, also sagte ich, dass ich es auch super fände. Fortan brachte ich unseren Vermietern jeden Monat die 100 Dollar Miete. Um zu ihnen zu gelangen, musste ich eine Kuhweide überqueren, die zwischen unseren Häusern lag, und fühlte mich wie James Bond, wenn ich über die Weide rannte, über Elektrozäune und Misthaufen sprang und einen weiten Bogen um die Bullen machte. Ich kam keuchend und mit verschwitzten Haaren bei den Wimbleys an, meine abgerissenen Shorts hingen schlabbernd von meinen dürren Hüften herab, meine Beine waren mit Matsch und Grasfetzen übersät. Manchmal luden sie mich auf ein Sandwich mit kalter Rinderzunge und Gurke aus ihrem Garten ein.

    Coke und meine Mutter inszenierten im örtlichen Theater Aufführungen gekünstelt anspruchsvoller und abgedrehter Stücke, die sie selber geschrieben hatten. Für ihre Theatertruppe warfen sie jede Menge Partys. An einem jener Abende, an denen bei uns eine Party stieg, saß ich in meinem Zimmer auf einem Sitzsack und sah Johnny Carson. Ich musste die Lautstärke voll aufdrehen, um den Partylärm zu übertönen. Außerdem ließ ich meine Zimmertür geschlossen, weil es im ganzen Haus merkwürdig roch: nach Marihuana und Räucherkerzen, vermischt mit den Gerüchen der Chemikalien aus Cokes kleiner Dunkelkammer. The Tonight Show verpasste ich nie, nicht mal, wenn ich am nächsten Tag in die Schule musste. Ich mochte Johnny, aber ich sah die Sendung vor allem wegen Ed McMahon. Ich erinnere mich, gedacht zu haben, dass er mit dieser tönenden Stimme eines Karnevalsredners und mit diesem fröhlichen, schallenden Lachen bestimmt ein toller Vater war. Ich stellte ihn mir vor, wie er bei Familientreffen an die Haustür kam.

    „Wo ist Charlie?, würde er als Erstes mit seiner dröhnenden Stimme fragen. „Wo ist mein Junge?

    Wenn Johnny und Ed sich verabschiedeten und ihren Zuschauern eine gute Nacht wünschten, trottete ich oft noch einmal hungrig und durstig aus meinem Zimmer. Zu dem Zeitpunkt hatte sich die Party normalerweise in den Vorgarten verlagert und die Lautsprecher standen umgedreht an einem offenen Fenster. Ich blickte dann an den großen Motten vorbei, die gegen die Fliegengittertür flatterten, und sah meine Mutter, die sich in einem ihrer langen Röcke um sich selbst drehte, während Coke mit jedem und niemandem tanzte.

    Ich erinnere mich, wie ich eines Nachts während einer dieser Partys durch das Wohnzimmer ging, über leere Flaschen, Gitarrenkoffer und Sandalen hinwegstieg und die Küche ansteuerte. Vor dem Sofa blieb ich stehen. Auf ihm lag eine junge Frau, einer ihrer Arme baumelte leicht verdreht herab. Sie schnarchte. Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihr standen zwei offene Flaschen Bier, die beide noch mehr als halbvoll waren. Ich betrachtete die Schlafende einen Moment lang, ging dann in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Das Einzige, was ich dort vorfand, war ein Krug mit aufgelöstem Milchpulver – ich hasste dieses Gesöff – und Cokes selbst gemachten Orangenwein.

    In dem Moment blieb die Schallplatte hängen. Ich ging ins Wohnzimmer, nahm den Tonarm hoch und legte die Nadel wieder auf die Platte. Die junge Frau auf dem Sofa war immer noch weggetreten. Ich nahm eine der offenen Bierflaschen in die Hand, schnupperte, führte sie mir an den Mund und nahm einen Schluck. Es schmeckte bitter, aber ich nahm noch einen Schluck. Ich leerte die erste Flasche und nahm die zweite in die Hand. Das Bier machte mich warm, beschwingt und ruhig, als ob jemand eine magische Hand auf mich gelegt und gesagt hätte: „Na bitte, Charlie, ist doch alles bestens."

    In jener schwülen Spätsommernacht pflanzte der Alkohol zu den jammernden aus den Stereoboxen dröhnenden Klängen von Janis Joplin eine kleine Flagge in mein Hirn und beanspruchte dieses Territorium für sich.

    Etwa 800 Meter hinter unserem Haus befand sich mitten im dichten Wald ein kalter, tiefer Teich, der von Pinien, Zwergeichen und Azaleen umgeben war. An diesem Teich verbrachte ich viele Stunden, beobachtete Wasserwanzen zwischen Seerosenblättern umherhuschen, die so groß waren wie Frisbees, schlug Mücken tot, ließ flache Steine übers Wasser hüpfen und angelte mit einer Angelrute aus Zuckerrohr. Wenn es mir zu warm wurde, zog ich mich aus, schwamm eine Runde, legte mich anschließend auf einen warmen Felsen und ließ mich in der Sonne trocknen. Dieser Wald war ein Ort zum Träumen – von Orten, an denen ich lieber gewesen wäre, und davon, wer ich selber lieber gewesen wäre. Ich war Marshal Matt Dillon, Detective Joe Mannix oder Kwai Chang Caine beim Praktizieren einiger Kung-Fu-Übungen. Und ich war Jonny Quest – oh, ich liebte Jonny Quest – und düste mit meinem brillanten Vater, Dr. Benton Quest, in irgendeiner absolut geheimen Mission zur Rettung der Welt nach Tibet, Kalkutta oder in die Sargassosee.

    Eines Nachmittags, als ich an dem Teich war, hörte ich ein leises Donnergrollen. Über den Baumspitzen brauten sich grünliche Gewitterwolken zusammen. Die Blätter begannen im Wind zu rascheln. Ich spürte einen Regentropfen und dann noch einen, und im nächsten Moment ging ein Wolkenbruch auf mich nieder. Ich machte mich schnell auf den Nachhauseweg, rannte zwischen den Bäumen hindurch und zog mir im Laufen mein T-Shirt aus. Als ich aus dem Wald kam, sah ich einen gezackten Blitz wie einen Finger auf das Feld vor mir herunterlangen. Der Donner, der gerade noch fern geklungen hatte, krachte jetzt direkt über meinem Kopf. Das Gewitter schien unmittelbar über mir zu sein und mit mir Schritt zu halten, während ich rannte. Ich hüpfte über einen Zaun, sprang über einen Graben hinweg, der mit schäumendem, schnell fließendem Wasser gefüllt war, und stürmte durch das hohe Gras in unserem Vorgarten. Von dort sah ich meine Mutter im Eingang der Veranda stehen und auf mich warten. Ich wedelte mit meinem T-Shirt über meinem Kopf und sie winkte mir zu.

    „Ich bleibe hier draußen!", rief ich ihr zu.

    „Wie bitte?", rief sie und legte die Hände hinter die Ohren.

    Ich rannte zum Fuß der Verandatreppe, zog meine völlig durchnässten Shorts aus, knüllte mein nasses T-Shirt zusammen und warf beides zu ihr hoch. Sie fing meine nasse Kleidung auf und lachte.

    „Ich bleibe hier draußen!", rief ich noch einmal.

    Ich flitzte, nur noch mit meiner Baumwollunterhose bekleidet, zurück, rannte im Garten herum, juchzte über den Donner und den Regen hinweg und begleitete jeden Blitz mit einem Freudenschrei. Ich fuhr mit der Hand an einem rankenden Gartengeißblatt entlang und ließ die Süße in den Regen entweichen. Ich war nass bis auf die Haut, aber ich fühlte mich frei und beflügelt und glücklich. Ich hatte keine Angst vor dem Gewitter und brachte meine Mutter zum Lachen und Jubeln. Ich nahm mir vor, dieses Gefühl nie zu vergessen – so lange zu rennen, bis man nicht mehr kann, und dieses Gefühl, keine Angst zu haben.

    Im Sommer 1973 beschloss meine Mutter, nach Attica, New York, umzuziehen. Der Gefängnisaufstand, der sich zwei Jahre zuvor ereignet hatte, hatte sie aufgebracht. Bei dem Aufstand waren 43 Menschen ums Leben gekommen, die meisten von ihnen Gefängnisinsassen, die von neun Meter hohen Wachtürmen aus von Gefängniswärtern niedergemäht worden waren. Meine Mutter hatte in North Carolina mit Häftlingen Theater-Workshops veranstaltet, in denen sie ihr Leben und ihre Probleme in ernsten Stücken verarbeiteten. Sie bewarb sich und erhielt für ein Jahr Fördermittel, um im Hochsicherheitsgefängnis von Attica das Gleiche zu tun. Der Aufstand war am Tag ihres Geburtstags ausgebrochen. Das deutete sie als Zeichen, dass sie dazu bestimmt war, dorthin zu gehen.

    Meine Mutter und ich stiegen in unseren gelben VW Typ 3, der bis zum Dach mit unseren Sachen vollgestopft war, winkten Coke zum Abschied zu, der widerwillig zurückblieb, und fuhren nach Norden in Richtung Attica. Coke erzählte mir später, dass er es für einen Riesenfehler gehalten habe, dass meine Mutter mich nach Attica mitnahm, aber da er immer den ganzen Tag gearbeitet und abends versucht habe, Theateraufführungen zu inszenieren, habe er keine Möglichkeit gesehen, sich alleine um mich zu kümmern.

    Wir wohnten über einer Bäckerei in einer winzigen Wohnung, in der es immer nach Zimt und frischgebackenem Brot roch. Meine Mutter schlief auf einer Matratze auf dem Boden des einzigen Schlafzimmers, ich schlief auf einem schäbigen Sofa im Wohnzimmer. Hinter dem Haus verlief eine Bahnstrecke, und jeden Morgen ratterte um halb sieben ein Zug vorbei und ließ das Signalhorn ertönen. Der Zug war mein Wecker, vor allem an den Tagen, an denen meine Mutter im Gefängnis eingeschneit war und nicht nach Hause kommen konnte. Manchmal ging ich einfach nicht zur Schule und hing mit anderen Kindern, die ebenfalls die Schule schwänzten oder sie schon abgebrochen hatten, unten an den Gleisen herum. Die Eltern der meisten Kinder arbeiteten als Wärter in dem Gefängnis. Wir schlugen die Zeit damit tot, Pennymünzen auf die Schienen zu legen und zu warten, bis ein Zug kam und sie plattwalzte. Manchmal ließ einer der älteren Jungs einen Joint oder eine Flasche mit einem braunen Schnaps rumgehen. Ich mochte kein Marihuana – es machte mich träge und schläfrig –, aber ich trank gerne Alkohol. Manchmal trank ich mit den anderen Kindern, die an den Gleisen herumlungerten, so viel, dass ich mich übergeben musste, aber das hielt mich nicht vom Trinken ab. Wenn ich trank, wurde ich von einem Gefühl der Erleichterung erfasst, wobei ich nicht wusste, von was ich mich erleichtert fühlte.

    Eines Tages sahen meine Kumpels und ich einen Mann, der neben dem letzten Wagen eines langsam fahrenden Güterzugs herrannte. Wir sahen, wie er sprang, einen Griff in der Nähe der Tür des Güterwagens packte und sich durch die Öffnung in den Wagen schwang. Mit offenen Mündern sahen wir dem entschwindenden Zug hinterher.

    Im dem Moment beschloss ich, auch auf einen Zug aufzuspringen. Ich weihte keinen meiner pflichtvergessenen Kumpels in meinen Plan ein, weil ich wusste, dass ich aufgezogen werden würde, wenn es mir misslänge oder ich einen Rückzieher machte. Etwa eine Woche später brachte ich den Mut auf, neben einem Zug her zu rennen, musste jedoch feststellen, dass es viel schwerer war, als es aussah. Die Steine im Gleisbett waren ungleichmäßig verteilt und die Abstände zwischen den Bahnschwellen laufunfreundlich. Ich stolperte, fiel hin und landete nur 15 Zentimeter neben den rollenden Rädern auf dem Boden. Eigentlich hätte ich mein Vorhaben auf der Stelle aufgeben sollen. Stattdessen verfeinerte ich mein Timing und fand heraus, dass ich, wenn ich beim Rennen nur auf jede zweite Schwelle trat, mit dem Zug mithalten konnte.

    Eines Samstagmorgens, als meine Mutter zur Arbeit war, beschloss ich, dass dies der Tag war. Ich zog mir die mir viel zu große alte Armeejacke meines Vaters an – eines der wenigen Dinge, die ich je von ihm bekommen hatte – und ging runter zu den Gleisen. Als der Zug sich näherte, versteckte ich mich hinter ein paar Büschen und ließ die ersten Waggons vorbeifahren. Als ich einen Güterwagen mit offener Tür sah, rannte ich los und lief im gleichen Tempo, in dem der Zug fuhr. Ich sprang durch die Öffnung, warf meinen Körper nach vorne und landete hart auf dem Bauch. Eine Schrecksekunde lang wippte ich auf der Kante, halb drinnen, halb draußen, dann fanden meine Finger zwischen den Bodenbrettern Halt, und ich zog mich in den Wagen hinein. Ich rollte keuchend auf den Rücken und war von dem, was ich getan hatte, so begeistert, dass ich von einem rauschartigen Hochgefühl erfasst wurde.

    Doch meine Begeisterung hielt gerade mal fünf Minuten an. Leere Güterwagen sind langweilig und stinken nach Urin. Es vergingen zehn, zwanzig, dreißig Minuten, und der Zug ratterte immer weiter. Ich musste aus diesem Ding raus. Ich sah aus der offenen Tür und dachte daran zu springen. Ich stellte mir vor, wie ich auf dem Boden landete und vom Zug wegrollte wie die Typen, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Also blickte ich nach vorne und hoffte, eine weiche Stelle zum Landen zu finden, sah jedoch nur Steine, harten Schotter und struppige Büsche an mir vorbeihuschen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an dem Griff neben der Tür festzuhalten und mich langsam herunterzulassen.

    Ich umfasste den kalten Stahl mit meiner schweißnassen Hand und schwang mich aus dem Wagen. Jetzt hing ich über dem unter mir dahinrasenden Boden, die Geschwindigkeit des Zuges drückte mich gegen die Außenseite des Waggons. Mir wurde bewusst, dass ich wahrscheinlich unter den Rädern des Zugs landen würde, wenn ich losließe. Aber ich konnte mein Bein auch nicht zurück in die Öffnung schwingen und wieder in den Wagen klettern. Meine Hand rutschte langsam ab. Ich ließ einen meiner Turnschuhe über den Boden schaben, um ein Gefühl für die Geschwindigkeit des Zuges zu bekommen, bis ich nicht mehr konnte. Ich ließ los, landete auf den Füßen und rannte neben dem Zug her. Ich machte einen großen Schritt nach dem anderen und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Irgendwie schaffte ich es, auf den Beinen zu bleiben, während der Zug davonratterte.

    „Juhu!", rief ich und verlangsamte mein Tempo, bis ich trabte. Ich riss die Arme hoch. Ich war unbesiegbar, ein Superheld. Aber, wie mir bewusst wurde, war ich auch verdammt weit weg von zu Hause.

    Vibrierend vor Adrenalin machte ich mich zwischen den Gleisen auf den Weg zurück nach Attica. Ich rannte und rannte und erwartete nach jeder Kurve, endlich unser heruntergekommenes Wohngebäude zu sehen. Hin und wieder blieb ich stehen und ging im Schritttempo weiter, dann zwang ich mich, wieder weiterzurennen. Letztendlich lief ich mindestens zwei Stunden, bis ich unsere Bleibe endlich sah. Kurz nachdem ich in unserer Wohnung angekommen war und mich auf die Couch geworfen hatte, kam meine Mutter nach Hause.

    „Ich habe uns von unten zwei Zimtbrötchen mitgebracht. Sie sind von gestern, aber genauso lecker wie frische. Sie hielt eine kleine Papiertüte hoch. „Wie war dein Tag?

    „Gut."

    „Was hast du gemacht?"

    „Nichts."

    Es war nicht so, dass ich befürchtete, Ärger zu bekommen, wenn ich ihr erzählt hätte, was ich getan hatte. Ich hatte nie Ärger mit meiner Mutter. Doch dieses Abenteuer wollte ich für mich behalten: die Fahrt mit dem Zug, das berauschende Gefühl beim Springen und die vielen Kilometer, die ich hatte rennen müssen, um wieder nach Hause zu kommen.

    Bevor es nach den Ferien mit der achten Klasse losging, fragte meine Mutter mich, ob ich zu meinem Vater, meiner Stiefmutter, Molly, und meiner Stiefschwester, Dina, ziehen wolle, die in Kalifornien lebten. Ich weiß nicht, wessen Idee es war. Ich hatte meinen Vater ein paarmal besucht und wir hatten eine nette Zeit miteinander verbracht. Er hatte mich nach Disneyland eingeladen und war mit mir an den Strand gegangen. Er war nicht so warmherzig wie meine Mutter, aber es gefiel mir da unten im Süden. Vor allem reizte mich, dass ich in Kalifornien organisierten Sport würde treiben können. Meine Mutter und Coke hatten sich mit dem, was organisierter Sport mit sich brachte, nie anfreunden können: uniforme Spielkleidung, Training, feste Trainings- und Spielzeiten. Ich sagte meiner Mutter, dass ich zu meinem Vater ziehen wolle und fühlte mich anschließend furchtbar, weil ich es gesagt hatte. Sie weinte, als ich abreiste, aber irgendwie spürte ich auch ihre Erleichterung. Sie hatte mehr Zeit für ihre Projekte, wenn sie sich nicht mehr um mich kümmern musste. Ich wusste, wie viel ihr ihre Arbeit bedeutete. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, weil ich sie verließ, dass mir regelrecht schlecht war, als ich das Flugzeug bestieg. Gleichzeitig war ich ziemlich perplex, dass sie mich einfach so ziehen lassen konnte.

    In Kalifornien meldete ich mich sofort bei der Jugendsportorganisation Pop Warner in einer Footballmannschaft an, obwohl ich Football bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. Ich war 1,80 m groß, dünn wie eine Bohnenstange und erreichte so gerade das Mindestgewicht von 57 Kilogramm. Ich wurde nur selten bei Spielen eingesetzt, aber mir gefiel das Gefühl, Teil eines Teams zu sein, und mir machte das Training Spaß, vor allem das Lauftraining. Eines Tages drehte ich nach dem Training noch ein paar Extrarunden um das Spielfeld, während ich darauf wartete, dass meine Stiefmutter mich abholte. Ich bemerkte, dass der Geländelauftrainer der Organisation mir zusah.

    „He!, rief er, als ich an ihm vorbeilief. „Du siehst eher wie ein Läufer aus als wie ein Footballspieler. Warum kommst du nicht in mein Team?

    Am nächsten Tag ging ich zu meinem ersten Geländelauftraining. Ich trug meine Football-Stollenschuhe, weil ich keine Laufschuhe besaß. Einer der anderen Jungen murmelte „schöne Schuhe", als wir losrannten, um einen 5-Kilometer-Geländelauf zu absolvieren. Aber das war mir egal. Ich war nur froh, dass ich lief. Als das erste Training vorbei war, wusste ich, dass ich gefunden hatte, wo ich hingehörte.

    Ich erinnere mich an mein erstes Rennen, an das Durcheinander der Ellbogen und Knie beim Startschuss, an das Geschubse, als Dutzende Jungen losdrängten und versuchten, auf dem schmalen Weg eine gute Position zu finden. Nach einigen Hundert Metern stolperte ich und fiel hin. Ich versuchte mich wieder aufzurappeln, aber es war, als ob ich in einer großen, brechenden Welle feststeckte. Ich wurde immer wieder zu Boden gedrückt. Ein Schuh trat auf meine Hand, die Spikes bohrten sich in meine Haut. Ich sah auf, um zu sehen, wer zum Teufel da gerade auf mich gelatscht war, und sah einen Jungen in einer hellgrünen Laufhose davonrennen. Als ich schließlich wieder hochkam, wurde ich von einer neuen starken Kraft angetrieben – dem raketentreibstoffartigen Gemisch aus Adrenalin und Wut.

    Ich rannte wieder los und überholte einen Läufer nach dem anderen. Ich flog regelrecht – bis ich zu einem Bach kam. Da ich noch nie an einem Geländelauf teilgenommen und noch nie nasse Füße bei einem Lauf bekommen hatte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich blieb abrupt stehen, was zur Folge hatte, dass der Junge hinter mir in mich hineinlief und mich umstieß.

    „Beweg dich, Idiot", rief jemand, als ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Ich sah die anderen Läufer durch das Wasser platschen, ohne auch nur einen Schritt auszulassen. Einer meiner Teamkameraden lief an mir vorbei.

    „Na los, Charlie, weiter!", rief er.

    Los, Charlie, weiter, sagte ich zu mir selbst. Los Charlie, weiter. Ich stand auf und rannte wieder los, wobei ich den Bach auf Zehenspitzen durchquerte. Doch als ich das andere Ufer erreichte und wieder auf dem Weg war, legte ich einen Zahn zu. Ich hatte jetzt Platz. Das Feld hatte sich auseinandergezogen und einige Minuten lief ich alleine durch den Wald. Ich hörte das Tappen meiner über den Boden trabenden Füße und mein rhythmisches Atmen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, mich mit der Anmut eines Tieres zu bewegen. Als ich den Wald verließ und in ein offenes Gelände lief, sah ich das Führungsfeld, eine Gruppe von sechs oder sieben Jungen. Und in der Mitte dieser Gruppe lief der Junge mit der hellgrünen Laufhose. Ich nahm mir vor, ihn einzuholen.

    Als ich fast zu ihm aufgeschlossen hatte, drehte er sich um und sah, dass ich mich voll ins Zeug legte, um an ihm vorbeizuziehen. Er legte ebenfalls einen Zahn zu und setzte sich an die Spitze der Gruppe. Ich bemühte mich, noch mehr aus mir herauszuholen, doch auf einmal waren meine Beine bleischwer, als ob ich versuchte, durch dicken Schlamm zu rennen. Grünhose lief als Erster über die Ziellinie. Die Tatsache, dass er mein Blut an seinen Spikes hatte, hatte ihn nicht langsamer werden lassen.

    Ich kam als Fünfter ins Ziel, musste mich sofort vornüber bücken, die Hände auf die Knie stützen und versuchte, zu Atem zu kommen. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich Grünhose direkt auf mich zukommen. Oh Scheiße. Was wird das denn jetzt?

    „Guter Lauf", sagte er, bedachte mich mit einem angedeuteten anerkennenden Heben des Kinns und ging weiter.

    „Guter Lauf." Diese beiden Worte änderten mein Leben. Für meine Anstrengung und dafür, nicht aufgegeben zu haben, war mir Anerkennung gezollt worden. In jener Saison ließ ich mir keinen einzigen Laufwettkampf entgehen und qualifizierte mich schließlich für die Junior Olympics. Bei der Meisterschaft auf Bundesstaatsebene wurde ich Dreizehnter. Nicht schlecht für einen Neuling, aber ich wollte mehr. Ich wollte der Schnellste sein.

    Während des Winters spielte ich in der Schulmannschaft Basketball, aber vor allem, um im Frühjahr für die Leichtathletikwettkämpfe in Form zu sein. Bei meinem allerersten Leichtathletikwettkampf gewann ich den 800-Meter-Lauf, den 1600-Meter-Lauf und den Dreisprung. Meine Teamkameraden klopften mir auf den Rücken, und mein Trainer sagte mir, dass ich ein geborener Läufer sei und wirklich schnell sein könnte, wenn ich hart trainieren würde. Als ich meinem Vater die drei Siegermedaillen zeigte, schien er eher überrascht als beeindruckt. Ich hoffte, er würde zu einem meiner Wettkämpfe kommen, aber er ließ sich nie blicken. In jener Saison blieb ich ungeschlagen.

    Am Ende des Schuljahres verkündete mein Vater, dass wir wieder nach North Carolina ziehen würden, wo er einen neuen Job antreten und mit seinem Bruder zusammenarbeiten würde. Ich war aufgebracht, weil ich in Kalifornien bei den Junior Olympics laufen wollte, um gegen einige der Jungen anzutreten, die mich beim Geländelauf geschlagen hatten. Aber die Entscheidung meines Vaters stand fest. Als mein Trainer mir sagte, dass ich bei den Junior Olympics von North Carolina antreten könne, wenn ich rechtzeitig da wäre, um an den Ausscheidungswettkämpfen teilnehmen zu können, ging es mir schon besser. Solange ich an Laufwettkämpfen teilnehmen konnte, war es mir egal, ob wir umzogen. Bei den Ausscheidungswettkämpfen gewann ich den 800-Meter-Lauf und den 1600-Meter-Lauf. Als ich meinen Vater unter den Zuschauern fand, sagte er: „Gut gemacht, aber wenn du in der dritten Runde noch ein kleines bisschen zugelegt hättest, hättest du eine oder zwei Sekunden schneller sein können."

    An der Highschool legte ich mich ins Zeug und machte alles, wovon ich glaubte, dass es meinen Vater stolz machen würde. Ich spielte in den Schulmannschaften Football, Basketball, Baseball und war Mitglied im Leichtathletikteam. Ich produzierte und präsentierte in dem schuleigenen Fernsehsender eine morgendliche Nachrichtenshow. In der zehnten und elften Klasse war ich Klassensprecher, in der zwölften Schülersprecher. Ich war in meinem Jahrgang von 400 Schülern unter den zehn Besten und in meiner Abschlussklasse der gewählte „Best All Around". Etliche Colleges wollten mich für ihre Footballmannschaft rekrutieren, und ich erhielt an meiner Traumuniversität und der Alma Mater, an der meine Familie studiert hatte, der University of North Carolina, eine frühe Zulassung.

    Auf dem Papier war ich ein perfekter Junge, Mr Wonderful. Nur, dass ich mich nicht wie Mr Wonderful fühlte. Jeder neue Erfolg und jede neue Anerkennung brachte mir nur momentane Befriedigung, gefolgt von der Gewissheit, dass ich mich nicht genug anstrengte. Als ich mit meiner Mutter gelebt hatte, war ich immer ich selber gewesen, aber bei meinem Vater kam ich mir unzulänglich vor, wenn ich einfach nur ich selber war. Und mein Vater tat nichts dagegen, um mir dieses Gefühl zu nehmen. Insbesondere wenn er getrunken hatte, neigte er dazu, mich mit einer Bemerkung über einen vergeigten Korbleger, einen schlechten Pass oder eine Eins minus statt einer glatten Eins runterzumachen. Ich hielt ihm vor, sich auf das Negative zu konzentrieren, doch er sah es so, dass er einfach nur ehrlich war. Sein Vater hatte es genauso gehalten. Es war die gute alte Tradition der Engles: Lob war etwas für Weicheier, wohingegen Herabsetzung und Verhöhnung dazu dienten, einen Mann aus einem zu machen.

    Gegen Ende der Football-Saison während meines Abschlussjahrs wurde ich auf dem Jahrmarkt in Raleigh mit einem Bier in der Hand erwischt, und der Trainer suspendierte mich für ein Spiel. Mein Vater war stinksauer, und wir hatten einen Riesenstreit. Ich beschloss abzuhauen und drängte meine Freundin mitzukommen. Wir waren erst seit einigen Monaten zusammen, aber die Sache zwischen uns war schnell zu etwas Ernstem geworden. Sie war auch in der Abschlussklasse und hatte eine Menge zu verlieren, aber alles, was in dem Moment zählte, war, die Fliege zu machen. Wir beluden ihren alten Ford Pinto und düsten in Richtung Süden nach Daytona Beach. In Daytona prüfte niemand unsere Ausweise, deshalb konnten wir uns, obwohl wir erst siebzehn waren, mit Rum und Ananassaft eindecken und uns in unserem Motelzimmer betrinken. Ich suchte mir einen Job als Hilfskellner, doch nachdem wir zwei Wochen lang so getan hatten, als wären wir erwachsen, wurde uns klar, dass wir wieder nach Hause mussten. Wir hatten unsere Eltern nicht einmal angerufen, um sie wissen zu lassen, dass es uns gut ging, und diese Grausamkeit unsererseits machte uns beiden schwer zu schaffen.

    Mein Vater ignorierte mich nach meiner Rückkehr erst mal ein paar Tage lang, bis ich eines Nachmittags nach dem Fußballtraining in die Zufahrt zu unserem Haus einbog. Er war gerade draußen und holte etwas aus dem Kofferraum seines Wagens. Ich ließ mir Zeit, packte in aller Ruhe meine Bücher und meinen Rucksack zusammen und hoffte, dass er einfach wieder ins Haus gehen und mich in Ruhe lassen würde. Doch als ich aufblickte, starrte er mich finster mit verschränkten Armen an. Sein Gesicht war rot. Ich stieg widerwillig aus meinem Wagen.

    „Was zum Teufel hast du dir eigentlich dabei gedacht?", fragte er langsam.

    „Kann dir doch egal sein. Das geht dich nichts an."

    „Und wie mich das was angeht!, schrie er. „Du hast jede Chance auf ein Stipendium vertan. Und du hast deine Chance vertan, College-Football zu spielen.

    „Ist ja gut! Ich weiß!, schrie ich zurück. „Aber ich scheiß drauf!

    Er ging ein paar Schritte auf mich zu und zog ein Bein zurück, um mir einen Tritt zu verpassen. Ich wich seinem Fuß aus, und die Wucht seines verfehlten Tritts ließ ihn nach hinten taumeln und umkippen. Ich sah die matschigen Sohlen seiner Mokassins, als seine Beine in die Luft flogen, und hörte den durchdringenden Aufprall, als er auf den Asphalt schlug. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, deshalb rannte ich zurück zu meinem Van und setzte rückwärts wieder zurück auf die Straße. Bevor ich wegfuhr, blickte ich mich noch einmal um und sah, wie mein Vater sich wieder hochrappelte.

    Ich wusste, dass er recht hatte. Ich hatte es total verbockt. Indem ich ein paar entscheidende Spiele verpasst hatte, hatte ich meine Chance vertan, College-Football zu spielen. Ich war auch ein Kandidat für das prestigeträchtige Morehead-Cain-Stipendium gewesen, das mir ein Gratis-Studium an der University of North Carolina ermöglicht hätte. Darum hatte ich mich auch gebracht. Ich hatte einen Riesenschlamassel angerichtet. Aber ich wusste, dass ich das alles an der Uni wiedergutmachen konnte. Ich musste nur fleißig studieren, gute Noten einstreichen und mich von jeglichen Problemen und Schwierigkeiten fernhalten.

    Kapitel 2

    „Gemäßigt bedeutet kleine, nicht suchterzerzeugende Mengen. Das ist nicht dein Stil."

    Chad Harbach: Die Kunst des Feldspiels

    Ich kam als siebzehnjähriger Erstsemesterstudent an die University of North Carolina at Chapel Hill und erwartete halbwegs, mit einem Herzlich-Willkommen-Charlie-Engle-Banner empfangen zu werden. Nach nur wenigen Wochen musste ich mich einer bitteren Wahrheit stellen: Ich war nur Durchschnitt – bestenfalls. 4.000 glänzende Streber tummelten sich neu auf dem Campus, und viel zu viele von ihnen waren klüger als ich, sahen besser aus als ich und hatten, auch wenn es mich schmerzte, es zugeben zu müssen, in sportlicher Hinsicht mehr drauf als ich.

    Ich wurde eingeladen, mich als Walk-on bei Probetrainings um eine Aufnahme in die Footballmannschaft der Universität zu bewerben, doch kurz nach Beginn des Studienbetriebs verrenkte ich mir bei einem Basketballspiel, zu dem wir uns spontan zusammengefunden hatten, den Fuß, und damit war es mit dem Football aus und vorbei. Ich hatte meine Chance verpasst, so unwahrscheinlich es auch war, dass sie mich überhaupt genommen hätten. Besser hätte ich mich dem Crosslauf-Team anschließen und die Familientradition fortsetzen sollen, so hätte ich mich in Form halten können. Dass sie mich in das Team aufgenommen hätten, schien mir ziemlich sicher, doch ich bezweifelte, dem Vermächtnis meines Großvaters gerecht werden zu können. Die Strecke, auf der ich trainiert hätte, war nach ihm benannt worden. Deshalb hielt ich es schließlich für einfacher, es lieber gar nicht erst zu versuchen, anstatt zu riskieren zu versagen.

    Einige Wochen nach dem Beginn meines ersten Studienjahres lernte ich Backgammon zu spielen. Außerdem wurde ich achtzehn. Für mich bedeuteten diese beiden Dinge Gelegenheiten zum Trinken. Wenn ich mir nicht in den Kneipen in der City einen hinter die Binde goss, dann auf den Fluren meines Studentenwohnheims, über ein Backgammonbrett gebeugt. So wie wir Backgammon spielten, war es ein Trinkspiel – BIER-Gammon – mit komplexen Regeln und Einsätzen, die dem Ziel dienten, dass die Spieler sich betranken. Beim Wurf einer 1 und einer 2: trinken. Pasch 6: trinken. Pasch 2: trinken. Spiel verloren: trinken. Spiel gewonnen: trinken. Durst: trinken. Ich habe keine Ahnung, ob ich ein guter Backgammon-Spieler war, aber ich war auf sämtlichen geselligen Zusammenkünften in der Uni ein gesetzter Stammtrinker mit Meisterqualitäten. Ich hatte etwas gefunden, worin ich glänzen konnte.

    Trotz meines Trinkens versuchte ich, in das B-Team der Uni-Basketballmannschaft aufgenommen zu werden und schaffte es. Unser Trainer war Roy Williams. Es waren unglaubliche Zeiten für den Basketball an der University of North Carolina. In der Basketballmannschaft der Uni spielten Michael Jordan, James Worthy und Sam Perkins, ihr Trainer war Dean Smith. Mir war klar, dass ich es niemals mit diesen Spielern würde aufnehmen können, aber ich wollte zur Mannschaft dazugehören. Also beschloss ich, einer der Teammanager der Junior-Mannschaft zu werden, anstatt zu spielen. Ich hoffte, es irgendwann in die A-Mannschaft zu schaffen, immerhin hätte ich so an eine Familientradition anknüpfen können. Mein Onkel war in den 60er Jahren Teammanager der Uni-Basketballmannschaft der University of North Carolina at Chapel Hill gewesen. Ja, ich saß hinter der Bank und verteilte Handtücher und Wasserflaschen, aber ich gab sie einigen der besten Basketballspieler aller Zeiten. Ich war nur ein winziger Teil der Mannschaft, aber ich war überglücklich, als die Mannschaft 1982 die NCAA Championship gewann und nationaler Hochschulmeister wurde.

    Ich liebte den Basketball – aber das Trinken war mir noch wichtiger. Manchmal war ich so neben der Spur, dass ich bei den Eintragungen in die Statistikbögen Fehler machte. Als eine Stelle als Teammanager der Uni-Mannschaft ausgeschrieben wurde, bewarben sich vier Teammanager der Junior-Mannschaft, unter anderem ich. Ich bekam die Stelle nicht. Ich verdiente sie auch nicht.

    Zu Beginn meines zweiten Studienjahres erkundete ich zusammen mit meinem Zimmergenossen Mike die Szene der Studentenverbindungen. Wir zogen von Haus zu Haus und von Party zu Party und sorgten gerne dafür, dass die Verbindungsbrüder, deren Mission es war, die Neuen fertigzumachen, auf ihre Kosten kamen. Schließlich schloss ich mich der Verbindung Sigma Phi Epsilon an. Die Jungs dort waren sportbegeistert, strichen gute Noten ein, und es schienen immer hübsche Mädels bei ihnen herumzuhängen. Mir gefiel, dass die meisten von ihnen Jeans und T-Shirts trugen und keine popperhaften Mokassins und Button-Down-Hemden.

    Ich war froh, Teil dieser Gemeinschaft von Kommilitonen zu sein, die auf mich aufpassten – und sei es auch nur, wenn ich mir vornüber gebeugt auf die Schuhe reiherte. Das Alter, ab dem man Alkohol trinken durfte, sollte von 18 auf 21 Jahre angehoben werden, und da mir somit der Zutritt zu Kneipen verwehrt sein würde, war ich froh, mir in dem schimmeligen Keller des Verbindungshauses einen festen Platz gesichert zu haben, an dem ich trinken konnte.

    Besonders angesagt waren die Ausflugstrips mit den Sig-Ep-Jungs. Mein erster ging nach Boone in die Berge von North Carolina, wo wir einen Tag Ski laufen und mit unseren Verbindungsbrüdern der Appalachian State University feiern wollten. Wir nahmen ein Fass mit in unseren gecharterten Bus, drehten die Stones auf und machten es uns für die zweistündige Fahrt gemütlich.

    Auf halbem Weg nach Boone fischte Steve, der Junge, der neben mir saß, etwas aus seiner Tasche. „Willst du eine Runde sniefen?" Er hielt mir eine kleine Kunststoffapparatur hin, die aussah wie ein kleines Dechiffriergerät.

    „Was?"

    „Kokain."

    „Oh, ja, gerne. Na klar", sagte ich in dem Bestreben, nicht zu erkennen zu geben, dass ich ahnungslos war.

    Steve hielt eine kugelförmige Apparatur ins Licht wie ein Juwelier einen Edelstein. In der Sonne war am Fuß der Apparatur eine kleine, runde, bernsteinfarbene Kammer

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