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Von den Grenzen der Erde
Von den Grenzen der Erde
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eBook847 Seiten12 Stunden

Von den Grenzen der Erde

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Über dieses E-Book

Zwei Menschen. Zwei Geschichten.
Ein Ziel: Die Suche nach einem geheimnisumwobenen Schatz. Und sich selbst.

816 n. Chr.
Lynn, Tochter eines irischen Kleinkönigs, kann den Toten auf dem Pfad ins Jenseits folgen. Als Kind von Nordmännern ins ferne Norwegen verschleppt, versucht sie, ihre zweifelhafte Gabe zu beherrschen und zurück nach Hause zu gelangen, um ein Versprechen einzulösen und das Vermächtnis ihres Vaters anzutreten.
Der von seiner Familie geächtete Seemann Eirik Karrsson wittert in Lynn seine Chance, es endlich zu Ruhm und Reichtum zu bringen und seinen Fluch zu besiegen.
Gemeinsam machen sie sich auf die abenteuerliche Reise und lernen schnell, dass es mehr zu fürchten gibt, als nur einander.

Die Grenzen-Saga von Rebekka Mand in drei Bänden:
Band 1: Von den Grenzen der Erde
Band 2: Von den Hütern der Schlange
Band 3: Von den Herrschern der See
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum22. Okt. 2017
ISBN9783961428380
Von den Grenzen der Erde

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    Buchvorschau

    Von den Grenzen der Erde - Rebekka Mand

    ~~~

    4. Thing

    Ungeduldig stampfte Eirik mit den Füßen auf, um die Kälte zu vertreiben. Der ðing fand auf einem Felsplateau statt, auf dem der Wind pfiff, dass einem die Eier abfrieren konnten. Er fluchte und zog seinen Mantel enger um sich, während er den Verhandlungen lauschte. Oder besser versuchte, ihnen zu lauschen. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Fort zu der Feier, die ihm nun zum Verhängnis werden sollte. Svana, Thorirs Gör, hatte ihm schöne Augen gemacht, ihn umgarnt und schließlich ins Heu geführt. Was für eine Nacht war das gewesen.

    Sehen wir uns bald wieder?, hatte sie geflüstert, und ihre Augen hatten geleuchtet.

    Eirik hatte nur ein träges Lächeln für sie übrig gehabt und ihr den Hintern getätschelt. „Nicht so bald, denke ich."

    Oh Götter, wenn er nun darüber nachdachte!

    Vorne entbrannte ein Streit. Die drei Eierköpfe, die die Verhandlungen führten, konnten sich nicht darüber einigen, ob es Brautraub war, wenn das geraubte Weib freiwillig das Lager des Räubers teilte. Deren Vater verlangte einen hohen Preis, zahlbar in Silber und Fellen, um den Verlust der Tochter auszugleichen. Der Räuber hingegen beteuerte seine Armut und seine Liebe zu der Frau, die nun die Seine war. Die Männer, die der Verhandlung lauschten, scharrten erwartungsfroh mit den Füßen. Dies schrie nach einem Zweikampf – der einzigen Gelegenheit auf einem ðing, bei der Waffen gezogen und Blut vergossen werden durften. Auch Eiriks Interesse war geweckt. Ob er später auch dort vorne stehen und gegen Thorir würde kämpfen müssen? Sein Herz frohlockte bei diesem Gedanken. Doch nein, Thorir würde niemals gegen ihn antreten. Ihn interessierte nur Silber. Und Jarl Ragnar, dem mächtigsten Mann des Landes, der da vorne daherredete und sich wichtig machte, würde dies auch in den Kram passen. Er sprach ohnehin stets für den Recht, der am lautesten mit seiner Börse klimperte. Insofern war abzusehen, wie es dem armen Tropf, über den in diesem Augenblick gerichtet wurde, ergehen würde. Der Streit zog sich in die Länge, doch letztlich einigten sich die Streitenden. Der Alte bekam Recht und der Räuber musste zahlen. Könnte er dies nicht, so müsse er fortan als Knecht im Haus des Schwiegervaters schuften. Eine Herausgabe des Mädchens an den Vater käme jedoch nicht in Frage, da sie bereits schwanger war. Reichlich Silber wechselte den Besitzer, als der Alte den weisen Rat des Jarls entlohnte, und der nächste Fall wurde aufgerufen.

    Nun trat Thorir Eggillsson aus der Menge hervor. Sein feistes Gesicht glühte vor Selbstgerechtigkeit und seine Schweinsaugen blitzten listig.

    „In diesem Frühjahr, begann er mit erhobener Stimme, „gab ich anlässlich der Hochzeit meines Sohnes ein großes Fest auf meinem Hof, zu dem ich Nachbarn und Freunde lud. Es gab reichlich Essen und Trinken, sogar ein Gaukler war anwesend, und niemand hatte Grund zur Klage.

    „Warum klagst du dann?", rief jemand und andere lachten. Thorir wurde noch röter, als er ohnehin schon war, und Eirik hoffte, der Fettsack würde einfach tot umfallen und sich der Streit dadurch erledigen.

    Doch Thorir stand auf seinen kurzen Beinen wie ein volles Fass. Selbstgefällig und unumstößlich. „Wir betranken uns und wir schlugen uns, wie es sich für ein gutes Fest gehört, und alle gingen froh und zufrieden wieder nach Hause."

    Er machte eine dramatische Pause und sein Blick fiel auf Eirik. „Aber in all unserem Frohsinn übersahen wir, dass sich ein Feind unter uns befand. Einer, der die Gastfreundschaft meiner Familie ausnutzte. Er nahm sich meine Tochter ...", seine Stimme brach.

    Was für ein Schauspiel. Eirik verschränkte die Arme vor der Brust und gab sich gelassen.

    „Fahr fort, Thorir." Der Jarl und die vorsitzenden bóndis lauschten mit ernsten Mienen. An Ende glaubten sie ihm noch.

    Thorir atmete rasselnd ein. „Er nahm sich meine Tochter, schändete und schwängerte sie und zog dann unbemerkt seiner Wege!"

    Ein Raunen ging durch das Volk. Eiriks Herz stolperte in seiner Brust.

    Schändung?

    „Das ist eine Lüge!", rief er, doch niemand beachtete ihn. Alle hingen an Thorirs Lippen.

    „Wir bemerkten es erst, als Svanas Leib sich rundete. Da brach das arme Mädchen zusammen und erzählte uns alles."

    „Und nun, unterbrach ihn einer der Vorsitzenden, „wer ist es, den du anklagst?

    „Es ist Eirik Karrsson", stieß Thorir hervor und zeigte mit seinem Wurstfinger auf ihn. Eiriks Blick wanderte zum Waldrand, wo Gunnarr in seinem Versteck auf ihn wartete. Er straffte sich und trat vor. Dabei ruhte sein Blick auf Thorir. Seine Brüder traten hinter ihn, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn dadurch stärken oder an einer Flucht hindern wollten.

    „Hast du etwas vorzubringen, Eirik, Karrs Sohn?"

    „Das habe ich, sagte er. Seine Stimme klang fest und voll, so wie immer. „Ich erinnere mich an das Fest, ebenso an Thorirs Gastfreundschaft. In der Tat war das Essen reichlich und das Bier floss in Strömen. Lediglich ein Mangel an Honigwein war zu beklagen.

    „Honigwein gab es mehr als genug!", empörte sich Thorir, aber Eirik fuhr fort:

    „Der Gaukler war ... annehmbar, aber ich für meinen Teil ziehe eine anständige Prügelei vor. Seht ihr meine Schläfe? Er schob sein Haar an der Stirn etwas zurück und legte eine kleine, sternförmige Narbe frei. „Mehr kann man von einem Fest wirklich nicht erwarten.

    Er hörte Gelächter hinter sich, aber die bóndis und der Jarl blieben ernst, und Thorir schäumte. Eirik sah es mit Genugtuung.

    „Hast du etwas zu den Vorwürfen vorzubringen?", fragte Jarl Ragnar zähneknirschend.

    Das Gekicher legte sich.

    Eirik legte seine Hand auf die Brust. „Ich schwöre, dass ich das Mädchen nicht geschändet habe."

    „Natürlich hast du das!, geiferte Thorir. „Sie trägt dein Kind!

    „Zu nichts habe ich sie gezwungen. Es verhielt sich eher so, dass sie mir fast mehr abverlangte, als mein müder, bierschwerer Körper ihr geben konnte. Fast!", betonte er, als sich abermals Gelächter, diesmal spöttisches, erhob. Runolf legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte zu. Warnend.

    Aber Eirik ignorierte ihn. Er fand Gefallen an Thorirs entsetzter Miene. „Sag mir, Thorir, Eggils Sohn: Welche Frau stöhnt den Namen ihres Vergewaltigers, während der es mit ihr treibt? Eine Unschuldige? Oder eine Dirne?"

    „Meine Tochter ist keine -!"

    „Genug jetzt!, fiel einer der Vorsitzende ein, indem er sich zwischen Eirik und Thorir schob. „Thorir, bestehst du auf den Vorwurf der Schändung deiner Tochter durch diesen Mann?

    „Selbstverständlich!" Zur Bestätigung stampfte er einmal auf.

    „Und was begehrst du, als Wiedergutmachung zu erhalten?"

    Thorir antwortete sogleich. „Ich verlange, dass der Schuft zu seiner Tat steht und meine Tochter zur Frau nimmt. Da Svana bereits einem anderen, einem ehrenwerten Mann versprochen war und ich durch diese, nun ja, Unannehmlichkeit tief in der Schuld des ehemaligen Bräutigams stehe, verlange ich außerdem das Land zurück, dass Karrs Großvater seinerzeit meinem Großvater gestohlen hat!"

    Eirik lachte auf, während sich Runolf neben ihm versteifte. Natürlich, daher wehte der Wind. Thorir wollte Vater sein Land streitig machen. Das hatte er schon immer gewollt. Es herrschte eine uralte Fehde zwischen ihren Familien und nun hatte Thorir einen Grund, sie neu zu entfachen. Im Grunde hatte Eirik ihm einen Gefallen getan, indem er Svana geschwängert hatte.

    Runolf mischte sich ein. „Das Land wurde unserem Großvater beim ðing zugesprochen. Es ging rechtmäßig in den Besitz unserer Familie über, nachdem dein Großvater unseren Hof ansteckte, weil mein Vater seine Tochter verschmähte." Er sprach ruhig und besonnen, aber wer ihn kannte, hörte das Beben der Empörung in seiner Stimme.

    „Unsinn!" Thorir keifte wie ein Weib.

    „Außerdem, fuhr Runolf fort, „gehört dieses Land nicht Eirik und wird es auch nicht, solange mein Vater, ich oder unser Bruder Kari am Leben sind. Er ist der Jüngste unserer Familie und hat keinen Anspruch darauf. Somit kann er es dir schwerlich überlassen.

    „Großartig", murmelte Eirik und spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Er hatte nicht erwartet, dass Runolf ihn unterstützen würde, hatte es nicht einmal zu hoffen gewagt, aber dass er ihn nun demütigte und als Habenichts bloßstellte, ging zu weit.

    „Ich bin ein wohlhabender Mann. Ich zahle einen anständigen Preis, wenn der Vorwurf der Schändung fallen gelassen wird und Thorir sich bei mir entschuldigt", warf er mit mühsam beherrschter Stimme ein.

    „Auf eine Entschuldigung kannst du warten bis Ragnarök, denn das würde bedeuten, dass meine Tochter – deine zukünftige Frau – eine Lügnerin ist."

    Einer der bóndis räusperte sich. „Nun ... da Runolf, Karrs Sohn, nicht bereit ist, seines Vaters Land für die Wiederherstellung des Friedens zwischen den Familien herzugeben, und Thorir, Egills Sohn, nicht willens ist, den Vorwurf der Schändung zurückzunehmen ... was sollen wir tun?"

    „Zweikampf!", rief jemand aus der Menge.

    Eirik grinste. „Nur zu!"

    Es war unschwer zu erraten, wer von ihnen bei einem Zweikampf den Kürzeren ziehen würde.

    „Er soll für seine Tat bezahlen!", warf Thorir hastig ein, ohne Eirik aus den Augen zu lassen.

    „Und wie viel verlangst du?", fragte Ragnar.

    Thorir lächelte honigsüß. „Svanas Gewicht in Silber aufgewogen. Einen Mond vor ihrer Niederkunft."

    Hinter Eirik schnappte jemand hörbar nach Luft, während ihm selbst jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er spürte es an der Kälte, die die Haut seiner Wangen überzog, an dem Kribbeln auf seiner Stirn und dem Rauschen in seinen Ohren. Gleich würde er wie ein Weib in Ohnmacht fallen.

    „Das, krächzte er und räusperte sich, „das kann nicht dein Ernst sein.

    „Dann geht er am Bettelstab. Ist es das, was du für deine unschuldige Tochter willst? Runolf spuckte das Wort „unschuldig aus, als wäre es eine ansteckende Krankheit.

    „Was ich will, ist Wiedergutmachung. Meine Tochter soll leben wie eine Königin für das, was er ihr angetan hat. Ihr wird alles gehören. Ihr und ihrem Spross."

    „Und somit auch dir, wenn du mit ihr verheiratet bist", murmelte Kari in Eiriks Ohr.

    „Blödsinn, erwiderte Eirik ebenso leise. „Sie werden mich bluten lassen bis ans Ende meiner Tage. Ich werde ihr Leibdiener sein.

    Laut sagte er: „So viel Silber kann ich nicht aufbringen. Meine Mannschaft fordert ihren Teil, und mein Schiff muss instandgehalten werden. Selbst wenn ich mich schuldig der Schändung bekennen würde – was ich nicht tue – so erschiene mir der Preis zu hoch."

    Er bat eine der Wachen um einen Dolch und schlitzte damit seinen Rocksaum auf. Byzantinisches Gold klirrte auf gestampften Lehm. Sein Herz wurde schwer vor Bedauern. „Das ist der Preis, den ich zu zahlen bereit bin. Außerdem werde ich deine Tochter heiraten, auch wenn sie eine verfluchte Dirne ist!"

    Thorirs Augen wurden groß und rund wie zwei Teller, als er das Gold zu seinen Füßen betrachtete, aber schnell setzte er seine geschäftsmäßige Maske wieder auf.

    „Ich bin fast einverstanden", sagte er.

    Eirik atmete tief ein.

    „Ich nehme das, was du mir darbietest und dein Versprechen, meine Tochter zu heiraten und für sie und dein Kind zu sorgen. Außerdem nehme ich dein Schiff."

    Der letzte Satz traf Eirik wie ein Fausthieb. „Nein, niemals."

    „Das erscheint mir angemessen", räumte einer der bóndis ein.

    „Nimm an", zischte Runolf und schüttelte seine Schulter.

    „Ich sagte nein."

    „Du solltest froh darüber sein, so billig davonzukommen, höhnte Thorir. „Was kann dein oller Kahn schon wert sein?

    Nichts. Und alles Silber dieser Welt. Freiheit. Macht.

    „Ich will darum kämpfen."

    Zustimmendes Raunen ertönte hinter ihm. Endlich bekamen sie ihren Kampf.

    „Worum genau wünschst du zu kämpfen, Eirik Karrsson?", mischten sich Jarl Ragnar ein.

    „Ich kämpfe um die Waelkyrige, um mein Gold und meine reine Weste. Wenn ich gewinne, behalte ich mein Gold und mein Schiff und verlange eine Entschuldigung."

    „Und wenn du verlierst?"

    „Dann gebe ich ihm, was er verlangt."

    Aber er würde nicht verlieren. Er musterte Thorir, den Fettsack, und freute sich darauf, ihn aufzuschlitzen.

    „Also gut, so sei es. Thorir wählt die Waffen."

    „Wenn du erlaubst", Thorir beugte sich zu dem Jarl hinüber und sie flüsterten eine Zeitlang.

    Schließlich sagte er laut: „Da mich das Alter plagt, werde ich einen meiner Söhne an meiner statt in den Kampf schicken."

    Eirik fluchte lautstark und spuckte Thorir vor die Füße. Dieser Feigling! Aber ein Blick zu Ragnar verriet ihm, dass die Entscheidung bereits gefallen war. Davon abgesehen wusste er, dass alle Söhne Thorirs ebenso fett und träge waren wie Thorir selbst. Auch mit ihnen würde er es aufnehmen.

    „Ich bin einverstanden, knirschte er, „aber ich bestehe auf einen Kampf mit dem Langschwert.

    So einigten sie sich, und jeder zog sich zurück, um sich vorzubereiten.

    Runolf redete auf Eirik ein, bat ihn, den Kampf zurückzuziehen und sich auf den Handel mit Thorir einzulassen.

    „Es ist bloß ein Schiff, Eirik. Du hast immer noch genug Silber, um dir ein neues zu bauen."

    „Es ist mehr als bloß ein Schiff. Die Waelkyrige ist alles, was ich besitze."

    „Vergiss nicht deine Reichtümer. Das Gold in deinem Rocksaum war gewiss nicht alles. Und wir würden dir helfen, ein neues Schiff zu bauen."

    „Die Waelkyrige ist nicht zu ersetzen. Es ist entschieden."

    Abrupt nahm Eirik das ihm dargebotene Schwert – es war Runolfs – und beendete die Diskussion. Runolf nickte resigniert. „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt."

    „Natürlich nicht", erwiderte Eirik kühl und ging zurück zum Versammlungsplatz, wo die Männer bereits einen Kreis gebildet hatten.

    Der Mann, der aus der Menge hervor auf den Kampfplatz trat, war ein Riese. Eirik war groß, größer als die meisten seiner Landsleute, aber dieser Kerl überragte ihn um Haupteslänge.

    „Du bist nicht Thorirs Sohn", stellte er fest. Dabei musste er den Kopf in den Nacken legen, um dem anderen in die Augen sehen zu können.

    „Stimmt, grinste dieser und entblößte sein gelbes Gebiss. „Ich bin sein Schwiegersohn. Eine mächtige Pranke schoss nach vorne und reckte sich ihm entgegen. „Mein Name ist Kolgrim, Kols Sohn."

    Eirik ergriff die Hand, ließ sich von der augenscheinlichen Freundlichkeit aber nicht in Sicherheit wiegen. Die blauen Augen seines Gegners musterten ihn kalt und gnadenlos.

    „Nun, Kolgrim, dann teilen wir demnächst das gleiche Schicksal."

    Eirik wusste, dass es keinen Sinn hatte, Thorirs Wahl des Kämpfers anzufechten. Er war getäuscht worden. Der Jarl hatte Thorirs Silber genommen und somit diese List genehmigt. Ob Sohn oder Schwiegersohn – Familie blieb Familie. Die neuen Bedingungen machten ihm keine Angst. Er würde dennoch gewinnen.

    Einer der bóndis trat vor und erklärte die Regeln. Es wurde gekämpft mit Schwert und Dolch, aber ohne Schild. Wer als Erster blutend zu Boden ging, hatte verloren und musste sich dem ðing beugen.

    Eirik schwang das Schwert ein paar Mal, um seine Muskeln aufzuwärmen und sich mit dem ungewohnten Gewicht vertraut zu machen. Er vermisste Silbersuche mehr denn je. Sein Haar hatte er im Nacken zusammengebunden, damit es ihn im Kampf nicht behinderte. Solche Probleme hatte Kolgrim nicht. Dessen dunkelblonder Schopf war kurz geschoren. Man konnte die Narben auf seiner Kopfhaut sehen. Ein Krieger, genau wie er selbst.

    Eirik dachte an seine Zeit als Söldner in Byzanz. Viele Schlachten hatte er geschlagen, an der Seite seines Anführers Sveinn, der ihm mehr ein Vater gewesen war, als Karr es je sein würde. Für Sveinn würde er kämpfen, und für das Schiff, das er ihm vermacht hatte.

    Ragnar gab das Zeichen und der Kampf begann. Eirik umkreiste seinen Gegner, langsam, lauernd. Er vergaß die Menschen um sich herum, gewahrte dafür jede Bewegung Kolgrims. Wie sich die Muskeln an seinem Hals anspannten, wie eine Schweißperle an seiner Stirn hinablief und auf seine Braue traf, wie seine Füße scharrten, wenn er sich mit Eirik um seine Achse drehte. Eirik machte sich nichts vor. Kolgrim tat das Gleiche mit ihm. Keiner preschte blindlings nach vorn und offenbarte seine Schwächen. Die Schweißperle auf Kolgrims Stirn setzte ihre Wanderung an der buschigen Braue entlang fort. Als sie die äußere Spitze erreicht hatte, beschrieb sie einen kleinen Bogen um die Augenhöhle. Dann tropfte sie in seinen Augenwinkel. Kolgrim blinzelte. Eirik schlug zu. Mit einem Schlachtruf stürzte er sich auf den Gegner. Kolgrim reagierte sofort, riss seine Waffe hoch und wehrte Eiriks Angriff ab. Obwohl Eirik auf den Aufprall vorbereitet gewesen war, überraschte ihn dessen Wucht. Er strauchelte, verlor seinen Gegner für einen Moment aus den Augen. Gerade noch rechtzeitig wirbelte er herum, um Kolgrims niederfahrende Klinge abzuwehren. Kolgrim ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen, drängte ihn zurück, nahm ihm jede Möglichkeit zum Angriff. Schritt für Schritt verlor Eirik an Boden. Kolgrim war trotz seiner Körpergröße schnell. Und er war stark. Die Schläge donnerten auf Eiriks parierende Klinge ein. Seine Arme schmerzten. Er keuchte atemlos. Schweiß durchtränkte sein Hemd. Nicht mehr lange, er würde das nicht mehr lange aushalten. Mit einer schnellen Drehung duckte er sich unter Kolgrims Schwert hinweg und stieß seine Waffe in dessen Seite. Zu langsam! Kolgrim wich ihm scheinbar mühelos aus. Der Drecksack fand sogar noch die Kraft, zu lächeln.

    Eirik wich zurück und dankte Thor dafür, dass Kolgrim ihm nicht hinterher kam. Wieder umkreisten sie sich. Diese Runde ging an den Gegner, aber Eirik wusste nun, was ihn erwartete. Noch einmal würde er sich nicht so in die Defensive drängen lassen.

    Diesmal startete Kolgrim den Angriff. Mit drei zügigen Schritten kam er auf Eirik zu und täuschte einen Schlag von rechts an. Aber Eirik hatte den Dolch in seiner Linken schon gesehen. Er wehrte den Schwerthieb ab und wich der Dolchklinge aus, die nur knapp seine Taille verfehlte. Noch ehe Kolgrim seine Deckung wieder aufbauen konnte, griff Eirik an. Kolgrim riss im letzten Moment die Waffe hoch. Stahl traf funkensprühend auf Stahl. Die Wucht des Angriffs schlug Kolgrim das Schwert aus der Hand. Er taumelte rückwärts. Eirik zögerte nicht, kam ihm hinterher und trat ihm mit seinem Stiefel vors Schienbein. Zufrieden sah er, wie Kolgrim einknickte. Keuchend sank der Hüne in die Knie und blieb mit hängenden Schultern sitzen. Eirik hörte seine Brüder jubeln. Er selbst konnte sich ein hämisches Grinsen in Thorirs Richtung nicht verkneifen. Er baute sich vor Kolgrim auf und setze seine Schneide an dessen Hals. Aber nur kurz, dann nahm er sie wieder weg und reichte Kolgrim die Hand. „Das war ein guter Kampf", sagte er betont gönnerhaft. Kolgrim blickte zu ihm auf, seine Mundwinkel zuckten. Dann sprang er auf, blitzschnell, und schleuderte eine Hand voll Dreck in Eiriks Gesicht. Eirik wich zurück und hob sein Schwert. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber der Dreck darin verschleierte seine Sicht. Etwas prallte gegen seinen Rücken, warf ihn zu Boden. Er stürzte mit dem Gesicht in den Staub, sein Schwert rutschte ihm aus der Hand und landete außer Reichweite. Jemand schrie. Kolgrim drehte ihn an der Schulter herum, bis er auf dem Rücken lag und in den trüben Herbsthimmel schaute. Der Staub brannte noch immer in seinen Augen. Er bäumte sich auf, aber ein zentnerschweres Gewicht drückte auf seine Brust. Kolgrim saß auf ihm, mit gezückter Klinge.

    „Der Kampf ist noch nicht vorbei, Kleiner, höhnte er. „Du blutest noch nicht.

    Die Klinge fuhr auf ihn herab. Ein grauenhafter Schmerz überzog seinen Verstand, als sie seine Haut wie Butter zerteilte. Seine Stirn, seine Braue, sein ... nein, nicht sein Auge! Er brüllte und drehte den Kopf zur Seite. Der Dolch rutschte ab, zerschnitt seine Wange. Warmes Blut strömte über sein Gesicht. Dann verschwand das Gewicht auf seiner Brust, und sein Schrei erstarb zu einem Husten. Er drehte sich auf die Seite, übergab sich. Langsam öffnete er die Augen.

    Ich bin blind!, dachte er, der Panik nahe, doch dann klärte sich sein Blick. Er blinzelte das Blut aus den Augen und sah Runolf, der sich über ihn beugte.

    „Komm, Bruder", murmelte er und half ihm auf.

    Kolgrim stand vor ihm, und daneben Thorir, ein zufriedenes Grinsen im Gesicht. „Ein guter Kampf", sagte Kolgrim und nickte anerkennend.

    „Oh ja, ein guter Kampf", presste Eirik bitter hervor und wischte mit dem Ärmel Blut aus dem Gesicht.

    „Du weißt, was das bedeutet, sagte Thorir triumphierend. „Ich bekomme dein Schiff, so, wie es vereinbart war. Ich denke, ich werde es ‚Svana‘ nennen, was meinst du?

    Runolf und Kari hielten ihn fest, bevor er sich auf Thorir stürzen konnte, der feige hinter seinem Schwiegersohn Deckung suchte.

    Er hatte verloren. Alles verloren. Er vergaß den Schmerz, sogar die Schmach. Alles, was zählte, war sein Verlust. Sein unüberwindbarer, grenzenloser Verlust. Die Waelkyrige. Dann dachte er an Gunnarr und riss sich von Runolf los.

    „He, wo will er denn hin?", keifte Thorir.

    „Eirik", rief Runolf ihm hinterher, als er auf den Waldrand zutaumelte.

    „Lasst mich kurz allein", murmelte er. Niemand folgte ihm, auch Runolf nicht. Gut so! Er wollte ungern gegen seinen Bruder kämpfen. Schon gar nicht in seinem Zustand. Aber wenn es sein musste, würde er es tun. Gunnarr erwartete ihn, die Pferde am Zaumzeug haltend. Wortlos reichte er ihm seine Zügel und saß selber auf, während Eirik auf den Rücken seiner Stute stieg. Ehrloser Schuft, dachte er über sich selbst, doch dann überlagerten ein Bild der Waelkyrige und Thorirs hämische Fresse seine Gedanken. Er hatte sich entschieden. Diesen Preis würde er nicht zahlen.

    ~~~

    5. Totenwache

    Rogaland, Norwegen

    Unheilvoll tanzten die Schatten über die Wände des skáli, als das einzige Licht im Raum zu flackern begann. Sverre fürchtete sich, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ture tat es auch nicht. Sein älterer Bruder saß mit steinerner Miene am Lager ihrer Mutter Gudrun. Vor Stunden schon hatten sie es aufgegeben, sie anzuflehen, die kleine Sigrid gehen zu lassen.

    Ihre Mutter bot ein Bild des Grauens, wie sie da saß, den noch namenlosen, gierigen Säugling an ihrer Brust und ihre tote Tochter in den Armen. Sigrids Gesicht war wächsern und bleich. Ein süßlicher Geruch entströmte ihrem Körper. Ob dies der Geruch der fylgia war, die ihr entwich?

    Sverre wusste, dass Sigrid bestattet werden musste, damit ihr Geist nicht aus dem Totenreich zurückkehren und die Lebenden heimsuchen konnte. Er erschauerte bei der Vorstellung, Sigrid könne dort tot in den Armen ihrer Mutter liegen, und zugleich durch dieses Haus wandern, und ihre Späße treiben, wie sie es stets getan hatte. Fast konnte er spüren, wie ihre kleinen, eiskalten Fingerchen seinen Nacken kitzelten, und er zuckte zusammen. Ture schielte zu ihm hinüber. „Ist alles in Ordnung?"

    Sverre nickte und winkte ab. „Bloß eine Mücke."

    Ture runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr.

    Gestern Abend war Sigrid gestorben. Unerwartet und heftig hatte sie ein Fieber gepackt und innerhalb eines Tages fortgerissen. Seither hatte Mutter niemanden außer ihren beiden Söhnen zu sich in den skáli gelassen. Versuchten sie, ihr Sigrid zu entwinden, schrie sie und presste beide Kinder, das tote und das lebendige, so fest an sich, dass sie das neugeborene Mädchen zu ersticken drohte.

    Nun starrte sie stumpf zu Boden, wiegte ihre Kinder vor und zurück, und sang ein Schlaflied. Sverre musste hier raus. Er stand auf und nahm seinen Mantel. „Ich gehe zu Großmutter Hallgert. Vielleicht weiß sie noch einen Rat."

    Wenn sie einen wüsste, säßen wir nun nicht mehr hier, dachte er, während er aus der Tür stürzte. Feigling!

    Draußen warteten Ingrid und Solveig, die Frauen seiner Onkel Fridtjov und Haakon. Großmutter Hallgert und die Kleinen hatten sich zum Schlafen in der Scheune niedergelegt. Sofort bestürmten die Frauen ihn, wollten wissen, ob Gudrun etwas gesagt hätte, ob sie etwas bräuchte, ob sie endlich Vernunft annähme.

    Sverre brachte sie mit einer herrischen Geste zum Schweigen. Wortlos drehte er sich um und stapfte davon. Sollten sie doch sehen, wo sie blieben. Er würde jedenfalls keinen Augenblick länger mit seiner Mutter, Ture und dem Geist in einem Raum ausharren.

    Er nahm den Pfad zum Bach und machte einen Rundgang, um seine Fallen, die er vor zwei Tagen ausgelegt hatte, zu überprüfen. Die Nacht dämmerte bereits herein, er konnte kaum etwas sehen, aber die Wege waren ihm so vertraut, dass er sie blind hätte gehen können. Er war es so leid, die Sommer zusammen mit den Weibern und den Kindern zu verbringen. Nun waren nur noch Ture und er selbst übrig. Die Einzigen, die noch nicht mit auf die víking durften. Selbst Anund, Onkel Fridtjovs Jüngster, machte in diesem Sommer seine erste Fahrt. Wie der erst prahlen würde, wenn er wieder zu Hause war!

    Und im nächsten Sommer würde Ture zum Mann werden. Er würde kämpfen und er würde Ruhm erwerben und dann mit einem oder zweien von Vaters Silberreifen am Handgelenk heimkehren.

    Wie Sverre es hasste, der Jüngste zu sein, auch wenn ihn nur ein Winter von seinem Bruder trennte.

    Er sammelte ein paar magere Kaninchen aus seinen Fallen und kehrte mit der Beute zurück nach Hause. Es war ein kleines Reich, über das sein Vater als bóndi gebot, aber es war friedlich hier, und sie kamen leidlich zurecht. Um den skáli herum schmiegten sich Schmiede, Ställe, Scheune und Vorratshaus in den Berg. Niemand außer Sverres Familie lebte hier. Die nächsten Menschen, die ebenfalls Olav als bóndi unterstanden, fanden sich einen Tagesritt von ihnen entfernt. Alles in allem zählte Olavs Land fünf Familien. Nicht viel, aber mehr, als Sverre je untertan sein würden. Denn es war Ture, der nach dem Tod ihres ältesten Bruders Olaf im letzten Sommer eines Tages ihres Vaters Platz einnehmen würde. Sverre selbst würde leer ausgehen und wie Fridtjov und Haakon im Haus seines Bruders leben. Oder er würde sein Schicksal in der Ferne suchen, wie Anund es sich erträumte. Sverre trabte den Hang hinab zum Olavshof. Er hatte es nicht eilig, aber anders als im Laufschritt war dem Berg nicht beizukommen. Hinter den Häusern, die sich schwarz vor dem Nachthimmel abhoben, glitzerte der Fjord im Mondlicht. Und auf dem Wasser näherte sich ein Schiff – die Trollkatze.

    Nun rannte Sverre wirklich, machte kaum Halt, um die Kaninchen vor dem Vorratshaus auf den Boden zu schleudern und den anderen zuzubrüllen: „Sie sind da! Sie kehren heim!"

    Ture stürmte aus dem skáli, eine verschlafene Kinderschar – gefolgt von den Frauen und Großmutter Hallgert – aus der Scheune. Nur seine trauernde Mutter ließ sich nicht blicken.

    Sie versammelten sich am Anleger, erwarteten freudig und ängstlich zugleich die Ankunft der Männer von der víking. Es war ein herber Schlag für die Familie gewesen, als Olaf im letzten Jahr bei einem Sturm über Bord gegangen und ertrunken war.

    Stumm sahen sie zu, wie ein paar schattenhafte Gestalten über Bord sprangen, sobald sie seichtes Gewässer erreicht hatten, und die Trollkatze mit Tauen an Land zogen.

    Sverre erkannte Anund an seiner schlaksigen Statur, und obwohl dieser keine Gelegenheit ausließ, Sverre spüren zu lassen, dass er der Jüngste von ihnen war, freute Sverre sich, ihn wohlbehalten wiederzusehen. Mehr Männer sprangen über die Reling, sobald das Schiff auf Grund lief, peitschten das Wasser mit ihren Schritten auf und zerteilten die Stille mit ihren Freudenrufen. Kinder erkannten ihre Väter, rannten ihnen entgegen und warfen sich ihnen in die Arme. Einer nach dem anderen löste sich aus der Nacht: Onkel Fridtjov, Haakon, Leif, Anund – und sein Vater Olav.

    Die Nachbarn und ihre Söhne wurden ebenso herzlich von den Frauen in Empfang genommen wie die eigenen Männer, denn sie würden erst in einigen Tagen ein Wiedersehen mit ihren eigenen Familien feiern können.

    Erleichtert stellte Sverre fest, dass alle wohlbehalten heimgekehrt waren. Dafür würde bestimmt ein großes Fest mit einem fetten Rind als Opfertier gefeiert werden.

    Olav rief seine Söhne zu sich, und Sverre setzte sich in Bewegung. Es war ihm unangenehm, von seinem Vater in den Arm genommen zu werden, aber seine Liebkosung war so rau, dass es sicher in Ordnung ging. Olav verpasste ihm eine Kopfnuss und packte ihn am rotblonden Schopf. „Bist schon wieder gewachsen, was, Sverre? Deine Mutter füttert dich wie ein Opferlamm. Wenn du nicht aufpasst, wirste noch fett wie dein Großvater Hjalmar."

    Er lachte und wandte sich an Ture, der nicht minder unter Olavs Umarmung litt. „Und Ture, mein Sohn!" Er packte Ture am Oberarm. „Wird Zeit, dass du dir ein paar Muskeln wachsen lässt. Im nächsten Sommer geht‘s ans Ruder, bóndisson hin oder her."

    Er stand auf, sah sich um. „Gudrun! Wo ist mein Weib?"

    Sverre sah zu Ture, dessen Grinsen ihm im Gesicht gefror. Betreten blickte er zu Boden, alles Geschnatter um sie herum verstummte. Schließlich trat Solveig vor Olav, legte ihre Hand an seine Brust.

    Olav schüttelte sie ab. „Sprich, Solveig, ist sie tot?"

    Solveig schüttelte den Kopf und Olav atmete auf.

    „Nein, Olav, sie ist gesund, und das Kind ebenfalls. Sie hat dir zum Neumond ein Mädchen geboren. Aber sie ist von Sinnen. Ein Fieber hat eure Sigrid letzte Nacht geholt, und Gudrun gibt sie nicht frei."

    Olav war bei ihren Worten erblasst. „Meine Tochter – meine kleine Sigrid? Die Nornen geben mir eine Tochter und nehmen mir die andere? Was für ein grausames Spiel!"

    „Sie muss bestattet werden, Olav. Wie soll ihr Geist sonst ins Totenreich gelangen? Wie soll sie jemals Frieden finden – und wir?" Solveig hatte ihre Hände um Olavs Gesicht gelegt, der in Trauer versunken ins Leere starrte. Schließlich schüttelte er den Kopf und blinzelte.

    „Du hast recht. Dann sah er sich um. „Anund, bring mir den kleinen Rotschopf!

    Anund nickte und verschwand an Bord der Trollkatze, um kurz darauf wieder aufzutauchen – ein Mädchen vor sich hertreibend. Sie war vermutlich wenig jünger als Sverre, aber fast einen Kopf kleiner. Ihre großen, weit aufgerissenen Augen in dem blassen, schmalen Gesicht wirkten unheimlich. Sverre sah weg, als ihr Blick ihn streifte.

    „Heute erfüllt sich dein Schicksal, Mäuschen. Du wirst ein Geschenk für meine Gudrun! Komm mit!"

    Sverre bezweifelte, dass seine Mutter sich durch eine Sklavin vom Tod ihres Mädchens ablenken ließe, aber es stand ihm nicht zu, dem bóndi zu widersprechen, ebenso wenig wie allen anderen. Also trotteten sie beklommen hinter Olav her, der das Mädchen am Handgelenk mit sich zum skáli zog.

    „Was glaubst du, hat er vor?", wandte er sich flüsternd an Ture.

    Ture zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, aber ich hoffe sehr, dass es ihm gelingt, Mutter zur Besinnung zu bringen."

    Gudrun kauerte noch immer auf ihrem Lager und hielt das tote Mädchen in den Armen, während der Säugling, in ein Lammfell gewickelt, neben ihr schlief. Olav schlich auf sie zu und hockte sich vor seiner Frau nieder. Er legte den Kopf in ihren Schoß und umschloss mit den Armen ihre Taille. Gudrun wimmerte.

    „Es wird Zeit, Frau", sagte er und sah zu ihr auf. Gudrun schüttelte den Kopf. Sie sah blass und erschöpft aus. Die gesunde Röte war gänzlich aus ihren runden Wangen gewichen.

    „Nein, flüsterte sie. „Ich kann sie nicht gehen lassen, ich kann es nicht. Sie drückte das blonde, leblose Geschöpf noch fester an sich.

    „Es ist kein Leben mehr in diesem Körper. Unsere Tochter ist gegangen. Lass sie ziehen."

    Nein!" Gudrun wiegte vor und zurück, wobei der schlaffe Arm des Kindes aus der Decke rutsche und sanft mittanzte. Sverre überlief ein Schauer und er klammerte sich an Ture, um ihn sogleich wieder loszulassen.

    Reiß dich zusammen, du bist fast ein Mann!, schärfte er sich ein, aber die Angst vor dem Geist ließ sich nicht vertreiben. Als er in die Gesichter der anderes sah, wusste er, dass er nicht allein damit war.

    Mit einem Wink wies Olav das Sklavenmädchen an, zu ihm zu kommen. Sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu. Die Furcht stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, die grünen, riesigen Augen waren aufgerissen, der Mund ein Strich in dem kindlichen Gesicht.

    „Ich hab dir ein Geschenk mitgebracht. Das ist Lynn von der grünen Insel. Schlau ist sie, kann rechnen und schreiben."

    Mutter hielt in ihrer Wiegebewegung inne und starrte zuerst die Skotin, dann Olav aus geröteten Augen an. „Du schenkst mir ein Mädchen?"

    Olav grunzte verlegen. „Dachte, sie kann dir mit dem Säugling zur Hand gehen. Vielleicht lernt sie kochen und weben, dann kann sie auch im Haus helfen."

    Gudrun klammerte sich fester an Sigrid. Ihr Blick huschte unstet durch den Raum, dann blieb er an einem Punkt hinter Sverres Schulter hängen. „Wie ich sehe, hast du dir selber auch ein Geschenk mitgebracht."

    Sverre blickte sich um. Hinter ihm stand eine Frau, deren Haar ebenso rot war, wie das des Mädchens. Sie war wunderschön.

    „Das ist Morag, Lynns Mutter. Auch sie wird dir helfen."

    Gudrun sah wieder zu dem verängstigten Geschöpf vor sich. „Und wenn ich keine Hilfe will?, spie sie aus. Das Wickelkind erwachte und brüllte los. Sofort dämpfte sie ihre Stimme. „Glaubst du, du kannst ein Kind durch ein anderes ersetzen?

    Müde schüttelte Olav den Kopf und rieb sich die Augen. „Nein, das glaub ich nicht. Aber du hast noch mehr Kinder. Denk an sie und den Rest der Familie. Willst du, dass Sigrids fylgia uns heimsucht?

    Wieder wimmerte seine Mutter. Sverre wünschte, sie würde damit aufhören. Sie zog den Kopf ein und presste ihr Gesicht in das Haar ihrer toten Tochter. „Ich kann nicht!"

    Olav zog Lynn näher zu sich heran, löste einen Arm Gudruns von der Toten und legte ihn stattdessen auf die Schulter der Sklavin. Sofort krallten sich Gudruns Finger darum – eine Reaktion, geboren aus dem Wunsch, der gesunde, kräftige Körper sei der ihrer eigenen Tochter. Sie lockerte den Griff um den Leichnam und ließ ihn schließlich los. Stattdessen griff sie nach dem lebendigen Kind und drückte es mit aller Macht an sich. Sofort war Fridtjovs Frau Ingrid zur Stelle und brachte Sigrid fort, bevor Gudrun sie wieder festhalten konnte. Doch diese hatte sich ganz auf das fremde Mädchen gestürzt, hielt es im Arm, weinte und schrie. Olav wies alle an, das Haus zu verlassen, auch Sverre und Ture wurden hinausgescheucht.

    Erleichtert atmete Sverre die kühle Nachtluft ein. Sie mussten den Geist vertreiben, der schon viel zu lange umherirrte, um den Weg ins Totenreich zu finden. Großmutter Hallgert würde sich darum kümmern. Sie war eine weise Frau, und obwohl sie schon vor vielen Wintern erblindet war, schien es fast so, als könne sie sehen, denn sie bewegte sich zielstrebig und ohne jemals Hilfe zu benötigen.

    Hinter dem Langhaus befand sich der tún, das heilige Wiesenstück, auf dem das Opfertier für das Julfest zur Wintersonnenwende gemästet wurde. Dorthin brachten sie den Leichnam und betteten ihn auf dem Boden. Solveig führte eine Ziege aus dem Stall heran. Das Tier wehrte sich, stemmte seine Hufe in den Staub und senkte bockig den Kopf als ahnte es, was ihm blühte. Ohne Zögern schnitt Hallgert ihr die Kehle durch und flehte Ódin an, die verirrte Seele des Kindes aufzunehmen. Anschließend verschloss sie die Augen des Mädchens und steckte Lehmklumpen in ihre Ohren und Nasenlöcher, damit die eingefangene fylgia nicht entweichen konnte. Stumm standen alle Männer, Frauen und Kinder um den tún. Auch Olav hatte Gudrun inzwischen beruhigt und nach draußen geführt, damit sie Abschied von ihrem Kind nehmen konnte. Das Sklavenmädchen hielt sie noch immer an der Hand.

    Sie betteten Sigrid in einem schmalen Boot auf Stroh, zusammen mit der Ziege und etwas Silber. Schweigend trugen sie das Boot hinunter zum Fjord, wobei Hallgert die Prozession anführte. In Sverres Trauer und Entsetzen mischte sich Erleichterung, als das Feuer entfacht und das Totenschiff von der Strömung erfasst und fortgetragen wurde. Erst als es nicht mehr zu sehen war weil das Feuer erloschen, oder das Boot gesunken war, löste sich die Versammlung auf. Endlich würden sie, ebenso wie Sigrid, Ruhe finden.

    ~~~

    Lynn blieb allein am Strand zurück, nachdem alle anderen gegangen waren. Niemanden schien es zu interessieren. Und wohin hätte sie auch fliehen sollen? Sie zitterte, schlang ihre Arme um den Körper und löste sie sofort wieder, als sie daran dachte, wie Olavs Frau sie gegen das tote Mädchen gepresst hatte, deren Fleisch sich kalt und schwammig angefühlt hatte. Und dann dieser süßliche Geruch und das bleiche, ausdruckslose Gesicht. Wie ein Geist hatte sie ausgesehen. Eilig ließ Lynn sich am Wasser nieder und wusch Arme und Hände. Sie wünschte, sie könnte auch die Erinnerung fortwaschen. Auf den Fußballen wippend starrte sie in das Schwarz unter der glitzernden Oberfläche. Hinter dem Wasserschleier glaubte Lynn eine Blumenwiese zu erkennen, unendlich und wunderschön. Friedlich. Wenn sie nur dorthin könnte.

    Sie hob ihre Fersen weiter an, ihr Oberkörper neigte sich nach vorne, dem Wasser entgegen. Das Schwarz machte ihr Angst, ebenso die Kälte. Aber wenn sie daran dachte, was sie jenseits davon erwartete ...

    Hinter ihr räusperte sich jemand. Lynn fuhr zusammen, verlor fast das Gleichgewicht. Sie sprang auf die Füße und wirbelte herum. Da stand ein Junge, etwas älter als sie und viel größer, mit einer Fackel in der Hand. Sie dachte daran, wie Olav sie geschlagen und was er mit ihrer Mutter getan hatte, und wich einen Schritt zurück.

    Der Junge hob die Arme. „Ich habe dich erschreckt. Tut mir leid."

    Sie schwieg, er ebenfalls. Sie stand mit den Füßen im Wasser. Ihre Schuhe wurden nass. Aber hinauszukommen bedeutete, an ihm vorbei zu müssen, also blieb sie zitternd stehen.

    „Du holst dir den Tod. Komm heraus da", sagte der Junge und machte ein paar Schritte rückwärts.

    Lynn zögerte, aber sie sah ein, dass sie keine Wahl hatte, und er machte nicht den Eindruck, als wollte er ihr etwas antun. Langsam kam sie aus dem Wasser und setzte sich auf den Kies, um ihre Schuhe auszuziehen. Dabei bemühte sie sich redlich, nicht zu weinen, aber sie konnte nicht verhindern, dass sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel stahl. Ihre Schuhe waren kaputt. Niamh hatte sie genäht.

    Der Junge steckte die Fackel in den Sand und setzte sich neben sie, wartete schweigend, bis sie die Tränen erfolgreich bekämpft hatte.

    „Du wirst neue Schuhe von uns bekommen, versuchte er, sie zu trösten. „Deine sind sowieso zu dünn, und bald wird es kalt werden.

    „Es waren meine Schuhe!", schluchzte Lynn. Wütend schleuderte sie die triefnassen Lederlappen von sich und vergrub ihr Gesicht in den Armen. Sie hörte, wie er aufstand. Gut so! Sie wollte alleine sein. Doch er ging nicht. Als sie aus ihrer Armbeuge hervorguckte, sah sie ihre Schuhe ordentlich nebeneinander vor sich stehen. Ein Blick zur Seite verriet ihr, dass der Junge wieder neben ihr saß. Verstohlen betrachtete sie ihn. Sein blondes Haar reichte ihm bis auf die Schultern und sah aus, als sei er gerade aufgestanden. Müde blickten seine Augen über den Fjord, die Lippen hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Er sah traurig aus. Natürlich, dieses kleine Mädchen war gestorben. Vermutlich waren sie Verwandte gewesen.

    „Die Frau, die mit dir hierhergekommen ist - Morag -, ist sie deine Mutter?"

    Lynn nickte nur, weil sie ihrer Stimme nicht traute. Es war so kalt hier am Wasser. Sie zitterte am ganzen Leib.

    „Warum bist du ganz allein hier draußen? Warum ist sie nicht bei dir?", fragte er weiter.

    „Sie ... sie ist bei Olav Hjalmarsson, diesem Ungeheuer, und wärmt sein Bett", presste sie hervor und konnte dabei die Vorstellung kaum ertragen.

    Der Junge prustete fröhlich. „Dieses Ungeheuer ist mein Vater."

    Schlagartig wurde es Lynn übel und sie rutschte ein Stück von ihm ab, mied seinen Blick. Er war der Sohn des Anführers?

    „Es tut mir leid, sagte sie hastig. „Ich wollte nicht ... ich meine ...

    „Mach dir keine Sorgen, unterbrach er sie. „Ich tue dir nichts. Aber du solltest vorsichtiger mit deinen Worten sein. Je weniger Aufmerksamkeit du erregst, umso besser. Und sei froh, dass er es auf deine Mutter abgesehen hat statt auf dich.

    Sie bemerkte, wie er sie betrachtete, und zog die Schultern hoch.

    „Danke für den Rat", sagte sie bissiger als beabsichtigt.

    „Du kommst aus Skotia?", fragte er, ohne sie aus den Augen zu lassen.

    Lynn reckte das Kinn. „Mein V-vater war der rí tuath von Antrim."

    „Was ist das, ein rí ...?"

    „Er war ein König. Eure Männer haben ihn getötet. Genau wie alle anderen, die mir lieb waren." Sie spürte, wie die Verzweiflung sie übermannte. Als habe jemand ein riesiges, schwarzes Loch in ihr Leben gerissen, und sie stand am Abgrund und sah hinab.

    „Ich verstehe", sagte er schlicht.

    Lynn antwortete nicht. Sie wollte nicht über Zuhause, ihren Vater oder den Überfall sprechen. Nicht mit einem von ihnen.

    „Jetzt ist hier dein Zuhause. Du wirst dich schnell einleben."

    „Ach ja?"

    „Ich helfe dir dabei."

    Seine Freundlichkeit irritierte Lynn, und machte sie wütend. Die Lochlannach waren nicht freundlich. Sie waren barbarische, gottlose Mörder. Sie sprang auf, brachte Distanz zwischen sich und ihn und funkelte ihn an. „Ich will deine Hilfe nicht. Ich will nach Hause!"

    Sie drehte sich um und rannte davon, in die Nacht. Schon nach wenigen Schritten musste sie sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie hin sollte. Ihre ganze Familie war tot.

    Nun, irgendwo gab es noch einen Onkel, den Bruder ihres Vaters. Sie kannte ihn kaum, erinnerte sich nur schemenhaft an ihn. Er war ein Seemann gewesen. Einmal hatte er ihr ein kleines Holzschiffchen geschenkt. Aber er hatte Skotia vor Jahren verlassen und lebte jetzt im Frankenreich. Wenn er noch lebte. Nein, sie hatte niemanden mehr.

    Wollte sie in der Wildnis alleine ihr Glück versuchen? Dann konnte sie gleich in den Fjord gehen und versuchen, nach Hause zu schwimmen.

    Zuhause ... ich habe kein Zuhause mehr. Alle sind fort. Tot. Verschleppt.

    Sie wurde langsamer. Dort, in Skotia, gab es nichts mehr für sie.

    Doch – es gibt etwas!

    Lynn blieb stehen. Ihre Schultern bebten und sie merkte, dass sie weinte. Ihr Vater hatte von einem Schatz gesprochen.

    Hol ihn! Versprich es mir!, hatte er gesagt.

    „Lynn?"

    Olavs Sohn stand hinter ihr, legte seine Hand auf ihre Schulter. Ganz vorsichtig, als würde sie gleich herumfahren und ihn beißen.

    „Wir sollten ins Haus gehen. Es ist schon spät, du bist bestimmt müde."

    Widerstandslos ließ sie sich zu dem großen Langhaus führen, in dem Gudrun die Totenwache für Sigrid gehalten hatte. Kurz bevor sie hineingingen, hielt der Junge an. „Ich bin übrigens Ture."

    Unentschlossen trat Lynn von einem Fuß auf den anderen, während Ture sie erwartungsvoll ansah.

    Also musste sie wohl irgendetwas sagen, um ihn nicht zu verärgern. „Danke, dass du so freundlich zu mir warst, Ture, Olavs Sohn."

    Ture nickte feierlich und hieß sie, ihm zu folgen.

    In dem Langhaus war es stickig und stockfinster. Lynn zuckte zusammen, als sie Tures Hand an ihrer spürte. Er führte sie sicher durch die Dunkelheit und zeigte Lynn ihren Schlafplatz. Es war ein überraschend geräumiges Lager mit richtigen Decken. Jetzt erst merkte Lynn, wie müde sie tatsächlich war. Sie gähnte bei der Vorstellung, ihren Kopf in dieses grobe Tuch zu kuscheln, die Augen zu schließen und das alles für ein paar Stunden zu vergessen.

    Ture drückte ihre Hand. „Schlaf gut, Lynn."

    Dann war er fort.

    ~~~

    6. Vargr

    Sie ritten schweigend, und sie ritten schnell. Eirik glaubte nicht, dass es lange dauern würde, bis man seine Flucht entdeckte. Aber wenn sie erst einmal auf der Waelkyrige waren, wären sie in Sicherheit. Die Heimreise dauerte mit dem Pferd zwei Tage – mit Karren, Waren und Weibern noch länger, wohingegen er auf dem Seeweg höchstens einen Tag bräuchte.

    „Das solltest du nähen lassen." Gunnarrs Blick streifte Eiriks Wange. Sie pochte und brannte, fühlte sich dennoch seltsam taub an. Eirik wagte es nicht, die Verletzung zu betasten. Zu viel Angst hatte er davor, das Ausmaß der Entstellung zu erfahren.

    Ein Mädchen hatte einst zu ihm gesagt, ein Schuft wie er sollte nicht so ein schönes Gesicht haben. Er sollte wie ein Schuft aussehen, damit jeder wisse, mit wem er es zu tun habe. Ihre Worte hatten ihn seltsam getroffen. Er hatte sich nie für einen Schuft gehalten. Zumindest bisher nicht. Eirik erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen, aber sie wäre sicher froh über diese Entwicklung gewesen.

    „Das kannst du übernehmen, wenn wir auf dem Schiff sind", erwiderte er murmelnd. Das Sprechen verursachte ihm Schmerzen.

    Sie schwiegen weiter, und Eirik rechnete es Gunnarr hoch an, dass er ihn nicht fragte, was er nun vorhabe. Denn er wusste es nicht. Nur eines wusste er mit Sicherheit: Er musste nach Hause, bevor er für immer verschwand. Seine Mutter Grima nannte ihn und seine Schwester Finna ein Geschenk der Götter. Der unerwartete und späte Kindersegen hatte sie zu einer leidenschaftlichen Anhängerin Freyas gemacht, der sie jeden Heumond, wenn Eiriks Geburtstag sich jährte, ein Lamm opferte. Neunzehn Winter zählte er nun, neunzehn Lämmer waren für ihn gestorben. Eine ganze Herde! Eirik wünschte nun, sie hätte die Tiere verschont.

    Er brach das Schweigen, hatte auf einmal das Gefühl, etwas sagen zu müssen. „Ich muss nach Hause. Ich muss -"

    „Ich weiß", unterbrach Gunnarr ihn.

    „Die Männer müssen von alldem nichts wissen", fuhr er fort, seine Worte kaum mehr als ein verwaschenes Nuscheln, und warf Gunnarr einen scharfen Blick zu. Der zuckte zusammen, presste die Lippen aufeinander und schwieg.

    „Die Wunde wurde mir zugefügt, als mich jemand bestehlen wollte. Ich habe gekämpft und wurde verletzt."

    Gunnarr nickte widerwillig.

    „Den anderen habe ich getötet, und wir mussten fliehen, um weiteren Scherereien zu entgehen. Die hätten uns nur aufgehalten."

    Er wünschte, er selbst könnte diese Geschichte glauben.

    Sie hielten nur einmal an, um an einem Bach zu trinken. Dann machten sie sich wieder auf den Weg, und am frühen Abend desselben Tages erreichten sie das Kattegat und die Waelkyrige.

    Die See war unruhig, und die Waelkyrige zerrte ungeduldig an ihren Vertäuungen, als könne sie es nicht abwarten, sich wieder in die Wellen zu stürzen. Sein Mädchen.

    Als sie sich näherten, zählte Eirik schnell die Köpfe durch, die er an Deck erspähen konnte. Wehe dem, der fehlte. Aber sie hatten Glück – alle Männer befanden sich an Bord. Ein Blick zu Gunnarr genügte, und dieser begann, an seiner statt Befehle zu brüllen. „Macht die Leinen los! An die Ruder, Männer! Los, schneller ihr lahmen Ärsche, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!"

    Sie führten die Pferde an Bord und stachen unverzüglich in See. Den fragenden Blicken der Männer begegnete Eirik nicht. Was sollte er sagen, wenn einer fragte, warum sie in der Nacht rudern musste? Warum sie nicht bis zum Morgen hatten warten können? Aber niemand fragte. Sie vertrauten ihm. Bisher hatte er ihnen Glück gebracht, hatte sie mit Reichtümern überhäuft. Was würde geschehen, wenn sie erfuhren, dass das Blatt sich gewendet hatte, dass die Nornen ihm nicht mehr zulächelten?

    Sie entfernten sich schnell von der Küste, der Wind spielte ihnen zu, und sobald sie die Untiefen der Küstengewässer hinter sich gelassen hatten, wurde das Segel befreit und die Waelkyrige schoss über das Wasser wie eine Seeschlange. Sie wand sich zwischen Wellenkamm und Tal, tanzte mit Njörds Töchtern, während die Männer in verbissenem Schweigen auf ihren Plätzen ausharrten. Sie spürten, dass etwas anders war als vorher.

    Gunnarr versuchte, im Schein einer Lampe Eiriks Wunde zu nähen. Er hatte Eirik vorgewarnt, dass das Ergebnis nicht schön werden würde. Das schlechte Licht, das Schaukeln ... aber kam es darauf noch an? Eirik bestand darauf, dass Gunnarr es sofort tat. Er betrank sich und überließ sich dem Geschick seines stafnbúli. Nach wenigen Stichen wurde er ohnmächtig, vor Schmerzen oder vom Alkohol, und verschlief den Rest der Reise.

    ~~~

    Am Vormittag erreichten sie den Hof am Limfjord. Eirik war müde und hatte Kopfschmerzen, als er sich über die Reling hievte.

    Er war nie gerne zu Hause gewesen. Schon als Junge hatte er es gehasst, im Winter eingepfercht wie Vieh mit den anderen im skáli zu hocken. Lieber war er auf seinen Skiern durch die verschneiten Wälder gewandert. Stunden – manchmal tagelang. Als die Zeit seiner ersten víking kam, hatte er Karrs Schiff bei der erstbesten Gelegenheit verlassen, um auf einem Kriegsschiff als Ruderer anzuheuern. Sechs Winter hatte es gedauert, bis er nach Hause zurückgekehrt war. Grima war außer sich vor Freude gewesen, ihn wiederzusehen. Sie hatte ihn totgeglaubt. Und jetzt das.

    Eirik schluckte. Er hatte Gunnarr gebeten, ihn zu begleiten. Falls es Ärger gäbe. In Wahrheit brauchte er einen Freund.

    Der Anleger lag abseits der Gebäude, hinter einem Hügel. Schweigend gingen sie bergan auf das Langhaus zu. Als sie oben auf dem Kamm angekommen waren, löste sich eine Gestalt aus dem Türrahmen des Hauses und kam ihnen entgegen. Ihre Röcke schwangen im sanften Wind.

    Finna hatte die Hände in die Falten ihrer Schürze gesteckt und hielt den Blick auf Eirik gerichtet. Ihre Stirn runzelte sich immer mehr, je näher sie ihm kam. Das letzte Stück legte sie im Laufschritt zurück.

    „Eirik! Was ist mir dir geschehen?" Ihre Augen tasteten sein Gesicht ab, Stück für Stück, entlang der grauenhaften Naht. Eirik hatte sie noch nicht gesehen, aber er spürte, dass sein linker Mundwinkel etwas gestrafft wurde. Als wäre ihm ein schiefes Grinsen ins Gesicht geschnitzt worden. Ein grausamer Scherz.

    „Das wird wieder, meinte Gunnarr und lächelte Finna an. „Es sieht schlimmer aus, als es ist. Wenn die Wunde erst verheilt ist, wird er wieder ganz der Alte sein.

    Finna blieb skeptisch. Sie versuchte, seinen Blick einzufangen, aber Eirik wich ihr aus. Er konnte sie nicht ansehen.

    „Sind Mutter und Vater im Haus?" Wie rau seine Stimme klang.

    „Ja, aber ..."

    Er ging an ihr vorbei. Zeit, es hinter sich zu bringen.

    Wie immer brauchte er einen Moment, um sich nach der eisgrauen Helligkeit draußen an das Dämmerlicht im Inneren des skáli zu gewöhnen. Es roch nach Kohl und Fisch. Sein Magen knurrte. Auf der ganzen Heimreise hatte er nichts herunter bekommen.

    Grima hockte im hinteren Teil des Hauses, beim Ofen, und schob gerade einen Laib Brot in die Glut. Karr war nirgends zu sehen, aber aus der Schmiede, die durch einen überdachten Gang mit dem Langhaus verbunden war, erklang das rhythmische Klingen von Hammer auf Amboss.

    Eirik räusperte sich. „Mutter."

    Grima wandte sich um. Genau wie Finna blickte sie zu zuerst auf seine Wunde. Würde es von nun an immer so sein?

    „Was tust du hier?, fragte sie schroff. „Wo sind deine Brüder?

    In der Schmiede wurde die Arbeit eingestellt. Etwas rumpelte, dann ertönten humpelnde Schritte, die sich in ihre Richtung bewegten. Im letzten Winter war Karr vom Dach gefallen, als er es gemeinsam mit seinen Söhnen ausbessern wollte. Seither plagte ihn sein rechtes Bein. Eirik wartete, bis Karr bei ihnen war, bevor er antwortete. Der alte Mann schlurfte scheinbar endlos über den Weg, bevor er in der hinteren Tür, nahe dem Ofen, erschien. Einst war Karr ein großer Mann gewesen, ebenso groß wie Eirik, der sich ducken musste, um durch die meisten Türen zu passen. Doch nun hatte ihn die Last des Alters gebeugt. Sein langes Haar war ergraut und sein weißer Bart reichte ihm fast bis zur Brust. Eirik sah sich selbst in ihm, in vielen, vielen Wintern. Er hoffte, niemals so alt zu werden. Karrs dunkelbraune Augen musterten ihn abschätzig. Er hatte wohl schon immer geahnt, dass drei wohlgeratene Söhne zu viel des Glücks waren.

    „Wo sind denn alle?", brach Eirik das unangenehme Schweigen und sah sich um. Sonst wimmelte es nur so von Frauen und kleinen Kindern im skáli, seine Geschwister waren nicht untätig, was die Sicherung des Fortbestands der Sippe betraf.

    „Sie sind alle auf dem Feld, Heumachen, antwortete Finna, die hinter ihm durch die Tür getreten war. „Mutter und ich wollten gerade wieder hin, das Mittagsmahl ...

    Sie verstummte, als sie Karrs Blick auffing. „Ich warte draußen."

    Eirik war froh, als sie ging. Er liebte Finna mehr, als jeden anderen Menschen auf der Welt. So sollte sie ihn nicht sehen.

    „Also?" Karr setzte sich. Eirik blieb stehen.

    „Sie sind auf dem ðing."

    „Wo du auch sein solltest."

    „Ich war dort."

    „Und nun bist du hier, um dich mit deinem zukünftigen Weib zu versöhnen?" Hoffnung schwang in Grimas Stimme mit.

    „Svana ist hier?" Unbehaglich blickte Eirik sich um, als könne Svana plötzlich hinter einer dunklen Ecke hervorspringen.

    „Natürlich. Wo ihr doch heiraten sollt, sobald du vom ðing zurückkommst."

    Also hatte es schon vorher festgestanden. Sein Vater hatte widerstandslos akzeptiert, dass Thorir seinen Sohn als Vergewaltiger bloßstellte. Eirik verdrängte seinen Zorn. Dies war nicht der rechte Zeitpunkt dafür.

    „Ich ..., er räusperte sich erneut, was sonst nicht seine Art war. Er sagte stets rundheraus, was er dachte. „Es lief anders als offenbar von euch geplant.

    Seine Eltern schwiegen, warteten. Eirik sah zu Grima. Er wünschte, er könnte allein mit ihr reden.

    „Verzeih mir, Mutter."

    „Was? Ihre Stimme klang schrill. „Was soll ich dir verzeihen?

    Eirik straffte sich. „Egal, was Thorir erzählt, ich habe Svana nicht geschändet. Dennoch verlangte er eine absurd hohe Entschädigung dafür, und da ich nicht zahlen wollte, kam es zum Kampf."

    „Was wollte er?" Karr war kreidebleich geworden.

    „Er verlangte die Waelkyrige."

    „Dann gib sie ihm! Grima schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Erleichterung zeichnete sich in ihrer Miene ab. „Gib ihm dein Schiff. Wozu brauchst du es, wenn du ein Weib und eine Familie hast?

    Es versetzte Eirik einen Stich, dass sie ihn nach all den Wintern noch immer nicht verstand. Er war ihr Sohn, ihr Fleisch und Blut, aber er war ihr fremd.

    „Was geschah bei diesem Kampf", hakte Karr nach.

    „Ich verlor." Eirik wies auf sein Gesicht und Karr nickte.

    „Also wirst du ihm die Waelkyrige überlassen, und hier bei uns und deiner Frau bleiben. Wie es vereinbart war."

    Dies war keine Frage, sondern ein Befehl. Wie leicht wäre es, nun zu nicken, sich zu Grima zu setzen und eine Schüssel mit Kohlsuppe zu essen. Thorir würde sich mit etwas Silber leicht besänftigen lassen. Eirik könnte behaupten, er habe den Kopf verloren, oder er habe einfach noch etwas Zeit allein mit seinem Schiff gebraucht. Was sollte es schon? Nun war er hier, alles würde gut werden.

    „Nein, das werde ich nicht", sagte er stattdessen.

    Hinter ihm ertönte ein Keuchen. Als er sich umdrehte, sah er Svana in der Tür stehen, eine Hand vor dem Mund, die andere vor ihrem zart gewölbten Leib. Tränen standen in ihren Augen. Sie machte kehrt und lief davon, dicht gefolgt von Finna. Eirik wusste, dass sie sich nur aus Angst vor ihrem Vater die Geschichte mit der Vergewaltigung ausgedacht hatte, aber er hatte dennoch kein Mitleid mit ihr. Sie zerstörte sein Leben. Er verabscheute sie.

    Karr war aufgestanden, sein Kiefer mahlte unablässig unter dem Bart. Wortlos drehte auch er sich um und ging.

    Nun war er allein mit Grima. Sie zitterte am ganzen Leib, wirkte dadurch alt und gebrechlich.

    „Es tut mir leid", flüsterte er mit gesenktem Blick. „Aber ich kann nicht bleiben. Ich bin vom ðing geflohen, sie suchen mich sicher schon. Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen."

    Grima kam auf ihn zu, schwankend. Dicht vor ihm blieb sie stehen. Eirik streckte die Arme aus, wollte sie festhalten, aber sie machte einen Schritt zurück, holte aus und schlug ihn. Ihre Handfläche klatschte auf seine verletzte Wange, schallte in seinen Ohren und durch den gesamten skáli.

    Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen, aber Eirik zuckte nicht, er war wie gelähmt. Als sie nochmals ausholte und mit dem Handrücken erneut sein Gesicht traf, wich er nicht zurück. Seine Wange brannte und er glaubte, Blut zu spüren, aber der Schmerz war nicht das Schlimmste. Ihr Blick, voller Verachtung, hielt ihn gefangen.

    „Du hast Schande über uns gebracht, sagte sie mit fester Stimme. „Du bist nicht mehr mein Sohn.

    Eirik starrte sie nur an. In seinem Inneren suchte er nach einer Regung, nach Schmerz, Zorn, Trauer, Reue. Aber da war nichts. Er war leer.

    Grima kehrte ihm den Rücken. „Verlasse dieses Haus. Komm nie wieder hierher zurück. Dein Name wird nicht mehr erwähnt werden. Für uns bist du tot."

    Eirik ging. Er nahm seine wenige Habe – Silbersucher, seinen Mantel und einen Sack mit Kleidung – und verließ das Haus, ohne sich umzusehen. Erst draußen erreichte ihn die Botschaft. Verstoßen! Er taumelte. Gunnarr war da und packte ihn am Oberarm.

    „Reiß dich zusammen, nur noch ein bisschen", flüsterte er ihm ins Ohr. Jetzt sah Eirik, dass alle vom Feld gekommen waren. Seiner Geschwister Frauen und Kinder. Und Finna.

    In ihren Mienen las er Fassungslosigkeit und Verachtung. Finna weinte. Nacheinander drehten sie sich weg und gingen zurück an ihre Arbeit. Niemand würde mehr über das Geschehene sprechen. Sie würden ihn aus ihren Gedanken verbannen und weitermachen wie bisher.

    Finna blieb. „Warum hast du das getan? Ist es so furchtbar, mit uns zu leben?"

    Eirik wollte etwas sagen, aber seine Stimme versagte.

    „Ist dir dein Schiff wichtiger als deine Familie? Als dein Kind? Die Waelkyrige ist nur aus Holz, Eirik! Sie lebt nicht! Sie braucht dich nicht!"

    „Finna ... ich komme zurück, irgendwann."

    Sie reagierte nicht auf seine Worte. Ihr Blick ruhte auf einem Punkt hinter seiner Schulter, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Svana, nicht!"

    Eirik wirbelte herum, die Hand am Schwertgriff. Fast erwartete er, dass Svana sich mit einer Mistgabel bewaffnet auf ihn stürzte. Aber nein, sie stand nur da, in der einen Hand ein Huhn, das schrill gackerte und sich in ihrem Griff wand, in der anderen ein Schlachtmesser.

    „Ich verfluche dich, Eirik Karrsson." Mit einer fließenden Bewegung durchtrennte sie den Hals des Huhns, nahm es an den Füßen und schwang es hin und her. Das Blut spritzte über den Hof, traf Eiriks Schuhe und seinen Mantel. Er wich zurück, nahm wahr, dass Gunnarr sich bereits von ihm entfernt hatte.

    „Svana, ich bitte dich!", versuchte Finna zu dem Mädchen durchzudringen. Panik lag in ihrem Blick, auch sie wagte es nicht, näher heranzugehen.

    „Ich rufe dich, Fenrir, Lokis Sohn! Folge diesem Mann, dem Ausgestoßenen, dem vargr, jage ihn, solange er in Midgard weilt. Ihre Augen richteten sich auf Eirik. Sie sprühten vor Hass. „Töte ihn.

    Das Huhn flog in Eiriks Richtung, landete vor seinen Füßen. Er hatte Angst.

    „Du, Eirik Karrsson, bist verflucht. Fenrir, der Wolf, wird dich verfolgen, wenn du schläfst und wenn du wachst, bis zu deinem letzten Atemzug. Und dann", sie lächelte boshaft und hatte nichts mehr mit dem süßen Mädchen, das ihn im Heu verführt hatte, gemein, „dann jagt er dich weiter, jagt dich durch die Tiefen Utgards, denn valhöl ist ein Ort, den du nur in deinen Träumen sehen wirst. Du bist Eirik Vargsson!" Sie lachte schrill, dann brach sie zusammen. Es war, als wäre ein Geist aus ihr hinausgefahren, und hätte ihre leere Hülle zurückgelassen.

    Finna eilte zu Svana. „Sie lebt, den Göttern sei Dank."

    „Die Götter haben damit nichts zutun", murmelte Gunnarr. Er war wieder neben ihn getreten und starrte das Huhn an, das zu Eiriks Füßen ausblutete. Eirik sagte nichts. Ihm war, als wäre etwas in ihm zerbrochen.

    „Das hat nichts zu bedeuten, flehte Finna, als wolle sie sich selbst davon überzeugen, während sie über Svanas verschwitzte Stirn strich. „Sie ist keine Zauberin.

    „Ich muss gehen", sagte Eirik. Seine Stimme klang hohl, warf ein Echo in seinem Kopf. Geschah ihm dies alles tatsächlich?

    Finna nickte, sie sah ihm nicht mehr in die Augen. „Ja, es ist das

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