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Die Grabräuber
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eBook506 Seiten7 Stunden

Die Grabräuber

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Über dieses E-Book

Der junge Bücherwurm Gunnar hat noch nicht viel von der Welt gesehen. Die Welt in der er lebt ist gezeichnet vom Untergang alter Hochkulturen, von Kriegen, Flüchtlingsströmen und einem Wandel des Klimas. Ungünstige Bedingungen für eine Reise ins Unbekannte.
Gunnar plant diese Reise allem zum Trotz. Er plant sie schon lange. Zu lange!
Er hat sich vorgenommen die Acht Weltwunder zu sehen, beschrieben in einem alten Text, verteilt über drei Kontinente.
Auf dem Weg zum ersten dieser Wunder, der sagenumwobenen Ruinenstadt Nekropolis, begegnet er einer merkwürdigen Gruppe. Scheinbar Flüchtlinge aus dem von Kriegen zerrissenen Norden.
Diese Gruppe hat jedoch ihre ganz speziellen Gründe in den Süden zu fliehen. Und sie hat ihre ganz speziellen Gründe sich für alte Weltwunder zu interessieren.
Besonders für solche, die noch verborgene Schätze zu beherbergen scheinen.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum17. März 2020
ISBN9783740739577
Die Grabräuber
Autor

C.S. Wilm

Der Autor C.S. Wilm stammt aus Oldenburg. Dieser Roman ist sein erstes Werk!

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    Buchvorschau

    Die Grabräuber - C.S. Wilm

    zurück.

    Kapitel 1

    Er sah das Mausoleum vor sich aufragen. Es war riesig! Genau so hatte er es sich immer vorgestellt. Um dorthin zu gelangen, musste er nur noch über ein paar alte Grabplatten klettern. Ganz einfach.

    Dann wäre er endlich am Ziel. Wie lange hatte er sich schon darauf gefreut? Sein ganzes Leben!

    Er ging los, kletterte über das erste Grab. Es sah irgendwie so aus, als wäre es von innen gesprengt worden. Auch alle anderen Gräber boten diesen seltsamen Anblick.

    Der nahe Vulkan spuckte wieder Lava in die Höhe und erleuchtete die Ruinen der zerstörten Stadt um ihn herum in gespenstischem Licht. In diesem rötlichen Lichtschein riskierte er einen Blick in das offen gelegte Grab. Es war leer. Er war erleichtert.

    Den Blick nun auf das gigantische Mausoleum vor sich gerichtet, wäre er beinahe in das nächste Grab gefallen, denn auch hier klaffte ein großes Loch. Die gesprengten Platten wackelten, als er darauf stieg. Er musste gut aufpassen, wollte er nicht mit ihnen in die Tiefe stürzen.

    Er ging weiter, zielgerichtet auf das monströse, finstere Grabmal zu.

    Etwas packte ihn am Bein. Er schrie vor Schreck auf.

    Ein knochiger Arm mit verrotteten Hautfetzen hatte ihn gegriffen. Die Hand einer Leiche bohrte sich mit ihren langen Fingernägeln in seine Wade.

    Er konnte sich losreißen und lief los. Er stolperte, fiel beinahe in das nächste Grab, schlug sich die Knie wund und rannte und rannte.

    Erneut packte ihn eine Hand aus einer der dunklen Grüfte heraus. Er versuchte sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. An seinen Fuß gekrallt zog sich mit einem Ruck der Rest der morschen Leiche in die Höhe, so weit, bis das Skelett mit ihm auf Augenhöhe war.

    Nur dass es natürlich keine Augen mehr hatte. Er schrie und strampelte, trat das Skelett mit einem wuchtigen Tritt wieder zurück in seine staubige Gruft.

    Er sprang brüllend auf, machte sich damit selber Mut und rannte weiter. Immer auf das Mausoleum zu. Aber nun sah er, dass sich aus allen Grüften ringsum Leichen emporzogen. Grabplatten wurden beiseite gezogen oder einfach weggeschleudert.

    Er rannte um die Leichen herum. Die meisten waren nur noch Gerippe, aber einige sahen noch fast menschlich aus. Er rannte um sie herum so gut er konnte. Sie griffen nach ihm.

    Er stürzte in eines der offenen Gräber. Das Mausoleum und der rot leuchtende Vulkan waren mit einem Schlag aus seinem Sichtfeld verschwunden.

    Es war dunkel. Er hatte sich offenbar seine Beine gebrochen. Er konnte sich kaum mehr bewegen.

    Irgendetwas stöhnte. Es kam näher.

    In der Finsternis der Gruft brauchten seine Augen eine Weile, um sich an das Dunkel zu gewöhnen. Dann sah er es. Der Schädel einer nur halb verwesten Leiche schälte sich Stück für Stück aus der Dunkelheit, kam immer näher zu ihm heran. Sie kroch und stöhnte, kroch und stöhnte. Sie blickte auf. Schaute ihn an.

    Die Leiche hatte Augen, die schrecklich zerdrückt aussahen. Strähnige Haare hingen von ihrem Schädel herunter. Sie streckte ihre Krallen nach ihm aus.

    Er schrie. Die Leiche hustete.

    „Hallo!", rief die Leiche und schüttelte sachte seinen Arm.

    Er wand sich hin und her, versuchte das schreckliche Gerippe von sich zu stoßen.

    „Hallooo! Ich bräuchte ihre Hilfe", sagte die Leiche. Was wollte sie von ihm?

    Die Leiche nieste. Dabei flogen ihre fauligen Zähne aus dem Gesicht und landeten bei ihm auf dem Schoß.

    Schlagartig wurde er wach.

    Gunnar saß an einem Tisch, kerzengerade aufgerichtet. Vor sich ein aufgeschlagenes Buch.

    „Sie haben wohl schlecht geträumt?", fragte ihn jemand. Gunnar drehte sich um. Ein alter Mann stand neben ihm und schnaubte sich ausgiebig die Nase.

    „Ähm, ja, muss wohl." Gunnar rieb sich die Augen und dachte sich: Was für ein bescheuerter Albtraum!

    „Können sie mir helfen? Sie arbeiten doch hier, nicht wahr?"

    Gunnar nickte. Er war noch ziemlich benommen.

    „Gut. Ich suche nämlich ein Buch über, über...", sagte der Mann und musste wieder niesen.

    „Gesundheit!"

    „Danke! Also ich suche ein Buch über Allergien.

    Besonders Stauballergien. Haben sie, sie..."

    „Gesundheit!", sagte Gunnar erneut und stand auf.

    Er konnte kaum glauben, dass er nun schon bei der Arbeit eingeschlafen war.

    Er brauchte wirklich eine Veränderung in seinem Leben.

    Ein fernes Grollen kündete ein nahendes Gewitter an.

    Ein längst überfälliges Gewitter. Denn seit vielen Tagen schon war die Luft staubig und trocken, das Wasser wurde knapp und der Fluss Borgo glich nur noch einem schlammigen Rinnsal.

    Und meine Orangenbäume vertrocknen bald wenn das so weiter geht dachte Gunnar erbost, als er sich mit seiner Lektüre wieder an den Tisch setzte. Er schaute zum Fenster hinaus und sah den sich langsam aufbauenden Wolken zu. Wird Zeit dass es endlich mal wieder regnet. Da warten wir seit Tagen, ach, Wochen drauf. Zuhause auf seinem knarrenden alten Balkon standen einige Kübel mit Orangenpflänzchen, auch ein bereits weitgehend verstorbener Zitronenstrauch war dabei. Hoffentlich wehen die Kübel beim Sturm nicht weg. Bei genauerer Überlegung fing Gunnar an zu fürchten, sein ganzer Balkon würde womöglich gleich mit weggeblasen werden. Es donnerte. Nun schon recht laut.

    Ach was soll´s, und wenn meine ganze Bude weggeblasen wird, ja ganz Orea... ich bin eh bald weg!

    dachte er zuversichtlich und schlug das Buch auf, das auf dem Tisch vor ihm lag. DIE ACHT WELTWUNDER DER BEWOHNTEN WELT von Antisidon von Kyros.

    Eine Abschrift freilich, denn das Original war vermutlich schon seit über hundert Jahren verschollen. Vermutlich.

    Aber in den fast sechs Jahren, die Gunnar nun in der Bibliothek seiner Heimatstadt Orea arbeitete, die nebenbei auch das Archiv des kleinen Königreiches Trurien war, hatte ihn diese Abschrift mehr fasziniert als alle anderen alten Schriften. Und davon gab es jede Menge hier. Das ganze urige Gemäuer war bis obenhin voll mit alten Büchern, Papierrollen und ähnlichem. Doch die acht Weltwunder... Gunnar war seit rund drei Jahren fest entschlossen diese Bauwerke mit eigenen Augen sehen zu wollen. Und nun, im kommenden Sommer, wollte er endlich zu ihnen aufbrechen.

    So wie letzten Sommer. Und den davor...

    Es blitzte. Kurz darauf ertönte ein Krachen und Grollen wie die Stadt Orea es schon lange nicht mehr gehört hatte.

    Auf einmal wurde es so dunkel, dass Gunnar die sonst an diesem Ort nur äußerst ungern benutzten Kerzen auf dem Tisch anzünden musste. Er war in der Bibliothek, es war nichts mehr zu tun und er hätte schon längst wieder nach Hause gehen können, um noch vor dem Unwetter bei seinen Orangenbäumchen zu sein. Aber er wollte seine Abschrift endlich fertigstellen, seine Abschrift der Abschrift... DIE ACHT WELTWUNDER.

    Gunnar betrachtete gerade die Zeichnung des ersten dieser legendären Bauwerke, als Zeno zu ihm an den Tisch trat, zuerst seine kostbaren Augengläser und dann seine Hände auf die alte Holzplatte des Tisches legte und kritisch zum Fenster hinaus blickte. Gunnar war unendlich froh, nicht auf so ein Gestell aus geschliffenen Gläsern angewiesen zu sein. Im Gegensatz zu Zeno konnte er noch gut sehen, auch wenn ihm gelegentlich vom vielen Lesen die Augen schmerzten. Er hätte sich auch nur schwer vorstellen können, mit derart kostbaren Augengläsern in der Wildnis unterwegs sein zu wollen.

    Er dachte an Zenos an Panik grenzende Angst, auch nur der kleinste Kratzer könnte auf einem seiner Gläser seine Sicht beeinträchtigen.

    Gunnar klopfte dreimal leise an seinen hölzernen Stuhl.

    Möge ich bis an mein Lebensende von schlechten Augen verschont bleiben!

    Zeno blickte fragend zu Gunnar.

    „Du bist dir wirklich sicher, dass du bleiben willst? Deine Wunder können doch warten. Aber deine Orangen? Wer hält die fest, wenn es losgeht?" Der Leiter der Bibliothek und oberster Archivar des Landes schaute nun lächelnd zu ihm herab.

    „Ha ha. Und wenn hier der Blitz einschlägt?, fragte Gunnar und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Dann sind sie froh, wenn sie nicht alleine hier die Feuerwehr spielen müssen! Sind die Eimer alle schon gefüllt? Zur Sicherheit hatte die neue Mitarbeiterin Sophia den Auftrag erhalten, alle verfügbaren Eimer mit Wasser zu füllen. Allerdings war zu viel Wasser für eine Sammlung alter Schriftstücke beinahe genauso bedrohlich wie Feuer.

    „Jawohl Chef, der Auftrag wurde ausgeführt, sagte Zeno und salutierte zum Spaß. Dann rieb er sich seine Augen und setzte sein aus dem fernen Ankum stammendes Gestell wieder auf seine Nase. „Aber im Ernst, hier ist in den letzten hundert Jahren kein Blitz mehr eingeschlagen. Ich weiß das, ich war immer hier.

    Wieder lächelte Gunnars Vorgesetzter. Doch Gunnar war sich ziemlich sicher, sein Humor sollte nur seine Nervosität verdecken. Zeno hasste Gewitter. Welcher Bibliothekar und Archivar würde keinen Blitzschlag fürchten? Hier war fast alles aus Holz und Papier. Auch Leder und andere Materialien kamen hier vor, aber doch vor allem Papier! Es blitzte erneut und die staubigen Schriften in ihren Regalen leuchteten grell auf. Gleich auf den Blitz folgte das fürchterliche Krachen. Das Unwetter war nun schon fast über ihnen. Als es zu regnen anfing und dicke Tropfen gegen die schmutzigen Glasscheiben der Bibliothek schlugen, atmeten die beiden erleichtert auf.

    Endlich Regen. Aus einzelnen Tropfen wurde schnell ein gewaltiger Regenguss, der Dreck von Wochen wurde von den Scheiben gewaschen und die alte, knorrige Steineiche vor dem Fenster schüttelte sich im Wind.

    „Hoffentlich kracht der alte Baum nicht auf uns drauf. Ich geh mal wieder nach unten. Sag Bescheid wenn was los ist", sagte Zeno, klopfte Gunnar auf die Schulter und ging ins Archiv im Kellergewölbe zurück. Gunnar widmete sich wieder der alten Abschrift vor ihm.

    Das erste der beschriebenen Weltwunder war auch das für ihn nächst gelegene, denn Antisidon hatte seine Reise zu den bedeutendsten Bauten der bekannten Welt in der Mitte Farnesiens begonnen, wo er damals an einer Universität gelehrt hatte. An einer Universität, die es heute gar nicht mehr gab, nämlich in der nördlich von Orea gelegenen Stadt Bolona.

    Das erste Weltwunder war das Mausoleum des sagenumwobenen Königs Elmo, in der Ruinenstadt Nekropolis. Einst das Zentrum eines mächtigen Königreiches, welches für rund dreihundert Jahre fast ganz Farnesien umfasste. Nun eine Stadt der Toten.

    Eine Stadt, in der Ruinen, umgeben von vulkanischen Dämpfen, langsam aber sicher vor sich hin rotteten. So jedenfalls beschrieb dies Antisidon in seinem Buch.

    Gunnar betrachtete die Zeichnung des Mausoleum. Ein klobiges, eckiges Bauwerk ragte hier aus Schutt und Dunstschwaden hervor. In seine Gedanken vertieft, merkte er gar nicht mehr, wie sich das Gewitter verzog und der Regen nachließ. Es wurde wieder heller.

    Wenigstens diese Stadt sehen. Nekropolis! Wenigstens dieses eine Weltwunder und dann kann ich zur Not wieder zurück... so murmelte Gunnar vor sich hin und blätterte weiter.

    Das zweite Wunder waren, südlich der Totenstadt, im Schatten des verhängnisvollen Vulkans Arba, die schwebenden Gärten von Lyra. Exotische Pflanzen und Tiere aus allen nur erdenklichen Winkeln der Erde sollen dort an der Küste in den ehemaligen königlichen Palastanlagen präsentiert worden sein. Sogar Drachen wurden hier angeblich in riesigen Volieren gehalten.

    Antisidon behauptete, selbst eine dieser Donnerechsen gesehen zu haben. Angekettet in einer der überdimensionierten Anlagen, welche ohne richtige Pflege verrosten und verkommen würden. Allerdings waren derartige Beschreibungen für Gunnar nur Übertreibungen. Fantastische Ausschweifungen, dafür gedacht den Reisebericht interessanter zu machen. Für Gunnar war das alles Quatsch. Drachen, pah!

    Er hatte schon viel über Drachen und andere kaum vorstellbare Wesen gelesen, jedoch waren jene Berichte eindeutig Fiktion oder so uralt, dass sie längst vergangene Zeiten beschrieben. Drachen mochte es wohl einstmals gegeben haben, aber heute? Für Gunnar waren solche Geschöpfe ausgestorben. Zumindest in Farnesien.

    Ich kenne auch keinen, der je eines dieser Monster gesehen hätte! dachte er beim Betrachten der Zeichnung des zweiten Weltwunders. Eine Donnerechse mit Flügeln, eingeschlossen in einer Art Voliere und umgeben von Baumarten, die Gunnar absolut nicht kannte. Zwei Männer schienen den Drachen mit einer Ziege füttern zu wollen. Neben diesem Ungetüm wirkten die beiden Menschen winzig. Unsinn! Und selbst wenn Antisidon es tatsächlich so gesehen hat... sein Bericht ist über hundert Jahre alt. Der Drache wäre längst tot und die schwebenden Gärten sind wohl schon vor langer Zeit ins nahe Meer geflogen, über dem sie angeblich hingen.

    Um das zweifelsfrei herauszufinden, musste er aber nun einmal dorthin um nachzugucken. Es ging halt nicht anders...

    Gunnar blätterte weiter.

    Ein leises Grollen ließ ihn aufblicken. Das Unwetter hatte sich beruhigt, die Eiche stand noch und die Fensterscheibe schien jetzt noch schmutziger zu sein als zuvor. Immerhin gab es endlich mal wieder Regen dachte er, stand auf und streckte sich. Er öffnete das Fenster einen kleinen Spalt weit. Er liebte die Luft nach einem sommerlichen Regenguss. Sie strömte nun herein, frisch und belebend. Eine Wohltat nach wochenlanger Staubluft, und das bereits im Frühling.

    Wie Zeno immer wieder betonte: „Das Klima wird schlechter! Im Norden wird es kälter und es regnet ohne Unterlass. Und bei uns vertrocknet alles." Der olle Pessimist dachte Gunnar dann meistens. Mittlerweile fürchtete er jedoch, der kauzige Archivar könnte recht haben.

    Er betrachtete nun die Abbildung des dritten Wunders.

    Eine gigantische Statue im Hafen der größten Stadt Farnesiens, Nabel.

    Die Metropole Nabel gab es noch, ebenso wie den kolossalen Mann. Dies wusste Gunnar, war er doch schon ein paar Leuten begegnet, die diese Statue selbst gesehen hatten. Es bringt halt gewisse Vorteile mit sich, in einer Stadt zu wohnen, durch die viele Menschen kommen dachte er zufrieden. Früher oder später kommt die Welt einen besuchen. Eine Reise nach Nabel wäre wohl auch weniger gefährlich als eine Reise an den Golf von Nekropolis, welcher von den nahen Vulkanen verseucht sein sollte und gemieden wurde. Aber die beiden ersten Wunder waren nun mal die nächsten, also wollte Gunnar sie auch als erstes sehen. Das hatte er sich bereits früh in den Kopf gesetzt.

    Die Weltwunder vier und fünf lagen jenseits des Meeres östlich von Farnesien im alten Arkadien. Das sechste Bauwerk stand in der Stadt Korah, noch weiter im Osten im Lande An´korah.

    Das siebte Wunder waren die Pyramiden von Yama, weit im Süden jenseits des großen Meeres.

    Gunnar fehlte nur noch die Abschrift des achten Weltwunders, ebenfalls im tropischen Süden gelegen.

    Die Abschrift dieses Wunders dauerte jedoch nicht lange, denn die alte, ihm vorliegende Abschrift von Antisidons Original war unvollständig. Es fehlten die letzten Seiten und somit die Beschreibung des achten Weltwunders. Nur der Weg dorthin war in groben Zügen beschrieben.

    „Den Göttern sei Dank, das Gewitter ist überstanden. Zeno war aus seinem Keller hochgekommen, stand wieder neben Gunnar und schaute ihm nun über die Schulter. „Bist du mit deiner Abschrift denn jetzt endlich fertig? Tatsächlich war Gunnar eben mit den letzten Zeilen fertig geworden. Darin wurde ein Pfad durch den tropischen Urwald Rohkais zu einem Ort namens Zoom geschildert. Danach hörte die Beschreibung abrupt auf.

    „Ja endlich! Es wäre aber einfacher gewesen, ich hätte das Exemplar hier ausleihen dürfen. Aber na ja." Gunnar klappte beide Abschriften zu und pustete vorsichtig die Kerzen aus. Der Regen hatte wieder aufgehört und die Sonne setzte sich gegen die Wolkenmassen durch.

    „Dass das nicht geht, ist dir ja wohl hoffentlich klar. Wozu hätte ich dich sonst ausgebildet? Zeno sagte dies in einem freundlichen Ton und legte Gunnar die linke Hand auf die Schulter. „Du willst diese tollkühne Reise immer noch machen? Ich kann dich auch sicher nicht mehr davon abbringen?

    Gunnar war alles andere als entschlossen. Es zog ihn in die Ferne, dorthin wo er noch nie gewesen war und worüber er seit Jahren nur gelesen hatte, so viel war ihm klar. Aber bei dem Gedanken, seine Pläne auch wirklich in die Tat umzusetzen, bekam er Bauchweh. Und je entschlossener er sich anderen gegenüber gab, diese Weltreise auch tatsächlich machen zu wollen, umso unsicherer wurde er sich selbst gegenüber.

    Tollkühn war auch durchaus noch ein zurückhaltender Ausdruck für sein Vorhaben. Es war schon ganz anders genannt worden.

    „Sie wissen, dass ich das alles seit über drei Jahren plane. Wenn nicht jetzt, wann dann?" Gunnar war schon beinahe neunzehn Jahre alt und wurde auch nicht jünger. Und die Welt, so wurde Zeno nie müde zu betonen, wurde stets immer und immer schlechter. Nicht nur das Klima, nein, auch die Lage der Menschen ganz allgemein verschlechterte sich. Gunnar sah das auch. Er wollte dies so lange nicht wahr haben, aber mittlerweile wurde es auch für ihn unübersehbar. Es ging mit der Zivilisation bergab.

    Er lebte nicht irgendwo verborgen auf dem Lande. Wie die Welt außerhalb seiner Heimat war, blieb ihm nicht verborgen.

    „Wenn nicht diesen Sommer, wann dann?", fragte Gunnar noch einmal mehr sich selbst und schaute seufzend zum Fenster hinaus. Auf der alten Steineiche gegenüber hatte sich nun eine Blaudrossel niedergelassen und sang ihr schönstes Frühlingslied.

    „Du warst halt noch nie weiter als bis zur Mündung des Borgo, oder? Und dann gleich bei der ersten größeren Reise so eine Mammutaufgabe? Hm." Zeno holte eine Karte von Zentralfarnesien aus dem nächstgelegenen Regal und breitete sie auf dem Tisch aus. Beide mussten niesen, als der Staub ihnen in die Nasen stieg.

    Zeno zeigte mit dem Zeigefinger auf Orea und fuhr dann mit dem Finger die Karte hinunter nach Nekropolis. „Für diese Entfernung wirst du viele Tage brauchen, vielleicht Wochen. Du musst in der Wildnis schlafen, mit Raubtieren und Banden rechnen. Du brauchst viel Geld für die Reise. Ja ich weiß, dass du das alles weißt! Aber bist du dir auch wirklich sicher, was das alles bedeutet?

    Wie gefährlich das alles ist? Ich fürchte nicht."

    Zenos Sorgen waren natürlich auch Gunnars Sorgen, aber zugeben wollte er das nur ungern. Und so sehr er die Fürsorge seines Vorgesetzten und Freundes auch schätzte, so sehr nervte es ihn aber auch bemuttert zu werden. Zeno benahm sich seit dem Tod von Gunnars Großmutter mehr denn je wie eine Glucke.

    Es war erst im letzten Winter gewesen, als seine Großmutter an einer Grippe erkrankte und in kürzester Zeit verstarb. Sie war schon sehr alt und auch absolut nicht mehr die Fitteste gewesen, aber ihr relativ plötzlicher Tod war für ihn dann doch sehr unerwartet gekommen. Gunnar hatte seitdem keine Verwandten mehr und nur wenige wirkliche Freunde... was hielt ihn noch hier in diesem staubigen Ort?

    Nun stieß er selbst mit dem Finger auf Orea. „Die Route ist klar. Von hier einfach immer südöstlich zum Donnergebirge. Er fuhr mit dem Finger die Karte hinunter bis zu jener Ansammlung von Zacken, welche das große Bergmassiv nördlich von Nekropolis darstellen sollte. „Ich muss übers Gebirge, das steht fest. Der nördliche Weg ist wahrscheinlich viel gefährlicher als der direkte Weg durch das Gebirge. Also muss ich da durch!

    Das Königreich Kaserta befand sich nördlich von Nekropolis, zu welchem die Totenstadt auch offiziell gehörte. Doch Kaserta war unsicher, es drohte jederzeit ein Krieg mit dem weit im Norden liegenden Königreich Hulsten. Jenes Königreich, das vom Tyrannen Surwold regiert wurde, der seine Macht mehr und mehr auf ganz Farnesien ausdehnte.

    „Die Situation im Norden wir immer brenzliger, es kommen jeden Monat mehr Flüchtlinge von dort.

    Jederzeit kann auch unser Land von diesem irren Möchtegern-Kaiser gefressen werden. Also... Zeno stöhnte auf und schüttelte den Kopf. „Ich halte es wirklich, wirklich für keine gute Idee in dieser unsicheren Lage aufzubrechen. Warte doch noch ein Jahr. Überlege es dir bitte.

    Gunnar kannte Zenos Einwände. Aber wenn alle Welt nach Süden floh, warum nicht auch er? Den Plan mit der Gebirgsüberquerung fand Zeno natürlich auch eher schlecht.

    „In den Bergen warst du auch noch nie, oder irre ich mich da? Höchstens hier in den Hügeln, aber glaub mir Junge, das ist nicht dasselbe wie die Donnerberge!" Der Archivar musste es wissen, war er doch schon in Farnesien herumgekommen und hatte so einiges gesehen.

    „Aber in den Bergen und am Golf leben kaum Menschen, da bin ich doch wohl sicherer als zwischen den ganzen Burgen und Soldaten. Gunnar faltete die Karte etwas genervt wieder zusammen und gab sie Zeno zurück. Antisidon war damals ebenfalls alleine unterwegs und auch nur ein einfacher Dichter und Professor gewesen! Gunnar stand auf und streckte sich zum vielleicht hundertsten Mal an diesem Tag. Sein Rücken tat ihm weh, er brauchte Bewegung. „Ich geh jetzt nach Hause. Ich hoffe es steht noch alles auf meinem Balkon, sagte er, nahm seine nun fertige Abschrift und schloss das schmuddelige Fenster.

    Wenn du diese Weltreise wirklich machst, sind umgewehte Orangenbäumchen bald deine geringste Sorge! dachte Zeno, als Gunnar bereits gegangen war.

    „Suchst du das Wasser? Das ist schon lange fort. Musst zum Meer, wenn du es suchst." Franco kam lachend zu Gunnar auf den Damm, obwohl ihm sicherlich nicht zum Lachen zumute war.

    Der Fluss Borgo war wieder nur ein schlammiges Rinnsal, der Großteil des breiten Flussbettes ausgetrocknet. Und das, bevor der Sommer überhaupt richtig begonnen hatte.

    „Die Gewitter der letzten Tage haben nicht viel gebracht, wie ich sehe. Schade", stellte Gunnar fest, als er Franco zur Begrüßung die Hand reichte. Zwar hatte es im Laufe der letzten zwei Wochen öfter mal gewittert und geregnet, aber nicht genug um die fortschreitende Dürre aufzuhalten.

    Nun standen die zwei Freunde gemeinsam auf dem Damm und blickten besorgt auf die trockene Ebene. Das flache Land um die alte Stadt Orea herum glich immer mehr einer öden Steppe. Und wo Francos Eltern einst Wasserbüffel an den Ufern des Borgo gehalten hatten, waren jetzt magere Heckrinder auf der Suche nach frischem Gras. Eine Suche, die immer mehr zu einer Herausforderung wurde.

    „Wenn du fort bist, sollte ich deinen Platz bei den Büchern einnehmen und die Rinder und das alles hier aufgeben." Franco weitete seine Arme als wollte er die Erde umarmen. Einige der lästigen Stechfliegen vom Fluss fühlten sich durch diese Geste wohl eingeladen und umschwirrten die zwei Freunde nun. Die gingen daraufhin schnell weiter den Damm entlang, in der Hoffnung, die kleinen Plagegeister hinter sich zu lassen. Die ziemlich eintönige Landschaft um ihn herum war Gunnars Heimat. Er kannte im Grunde genommen kaum etwas anderes als diesen Fluss, den Blick auf die Hügel in der Ferne und Orea, dessen Türme man vom Damm aus gut erkennen konnte. Sein Leben hatte sich bisher fast nur in dem nahen Ort und hier auf dem Grund und Boden seiner Großeltern abgespielt. Das alles zu verlassen fiel ihm verdammt schwer. Möglicherweise kam er ja nie wieder.

    „Ich würde so gerne mitkommen, das weißt du. Alleine schon, um mal richtige Berge zu sehen. Richtige Berge!", seufzte Franco und schaute dabei wehmütig zu den fernen Hügeln. Hinter eben jenen Hügeln schien sich schon wieder ein Unwetter zusammenzubrauen.

    „Aber du weißt ja, das geht nicht. Meine Eltern brauchen mich immer mehr. Erst gestern ist Vater gestürzt. Er war nur von seinem Sessel aufgestanden und keine Ahnung warum aus dem Gleichgewicht gekommen. Mit seinem Bierkrug in der Hand ist er dann auf den Fußboden gekracht und vorher noch auf unseren alten Stubentisch geknallt. Mit seinem Bein. Franco zeigte an seinem linken Bein, welche Stelle er meinte. „Dabei hat er noch Glück gehabt. Nur das Bein tut ihm weh und der Boden ist etwas verschrammt vom Krug... aber nun ja. Und er hat jetzt am Bein den größten blauen Fleck den ich je gesehen hab! Franco lachte nun in sich hinein, wurde aber gleich darauf wieder ernst.

    „Was sagt Stella dazu?", fragte Gunnar. Er hatte die Mutter seines besten Freundes immer als eine Art Ersatzmutter gesehen, seit seine eigene Mutter vor vielen Jahren gestorben war.

    „Das macht mir ja auch Sorgen. Die hatte das gar nicht gehört, war nebenan vorm Ofen eingepennt. Aber ich hatte den Sturz gehört und war so was von schnell in der Stube, das glaubst du gar nicht!" Die beiden gingen vom Damm herunter auf das alte, erdfarbene Haus zu in dem Franco mit seinen Eltern lebte. Der ziemlich bucklige Stefano saß vor der Haustür auf einer Bank und kraulte seinen geliebten und fast ebenso buckligen Kater, welcher bei ihm auf dem Schoß saß und schon beinahe schlief.

    „Sprich ihn nicht drauf an bitte. Ich glaub das ist ihm peinlich. Franco zwinkerte Gunnar kurz zu. „Aber darum kann ich halt nicht mit, verstehst du? Aber dass du alleine losziehen willst... hm, also das schmeckt uns allen nicht so.

    „Ich muss ganz einfach weg. Basta. Obwohl ich schon gerne einen kräftigen Kerl wie dich dabei hätte. Einen, der mir die Räuber mit einem dicken Knüppel vom Leibe hält", scherzte Gunnar und klopfte seinem Freund beherzt auf den Rücken. Bei der Gelegenheit zerquetschte er eine dort sitzende Stechfliege, deren Ausflug jenseits des Dammes damit ein jähes Ende fand.

    „Da ist ja der verrückte Entdecker. Deine Großeltern hatten doch immer damit Recht gehabt, dass du nur Flausen im Kopf hast!" Stefano stand mühevoll von seiner Bank auf und sorgte so für schlechte Laune bei seinem Kater. Der trottete beleidigt davon.

    Der alte Herr umarmte Gunnar herzlich und begleitete ihn und seinen Sohn in die Stube. Dort wurde Gunnar auch von Stella gedrückt und alle setzten sich an den Tisch, um mit reichlich Eintopf versorgt zu werden.

    Eintopf kochen konnte Stella nämlich am besten, wobei die Begeisterung dafür mit dem Ansteigen der Temperaturen deutlich abnahm, denn dampfende Erbsensuppe ist nun einmal ganz einfach kein Essen für sommerliche Tage. Trotzdem waren alle zufrieden damit beieinander zu sitzen, etwas zu schwatzen und das frische Fladenbrot mit möglichst viel Suppe vollzusaugen.

    Auch gaben sich alle vier die größte Mühe, die durchaus auffällige Schramme auf dem Boden zu ignorieren.

    Gunnar fragte sich angesichts dieser enormen Delle, ob der Krug diesen Schlag wohl überstanden hatte. Er verkniff sich aber die Frage danach.

    „Die Papiere habe ich unterschrieben. Die liegen nebenan auf der Truhe. Musst du nur noch selbst unterschreiben." Stefano grinste breit, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt sich zufrieden den vollen Bauch.

    „Du willst das Haus deiner Großeltern wirklich verkaufen?", fragte Franco noch einmal nach, obwohl er schon dutzende Male mit Gunnar darüber gesprochen hatte. „Möglicherweise bist du ja in ein paar Wochen wieder zurück und willst dann nicht mehr in der stinkenden Stadt leben, sondern bei uns auf dem Land.

    Wo du hingehörst!" Franco grinste nun genauso breit wie sein Vater vorhin. Aber auf dem Land zu leben kam für Gunnar wirklich nicht infrage. Er hatte seine Kindheit und Jugend hier verbracht, das sollte reichen. Er liebte das Stadtleben auch viel zu sehr...

    „Ich bin mir mit dem Verkauf absolut sicher. Und wenn ich früher oder später wieder zurück bin, was ich fest vorhabe, dann kann ich ja auch erst mal bei euch wohnen. Aber in der Stadt findet man eigentlich immer was." Und dort wollte er ja auch leben, und nicht hier in der Steppe Schweine hüten oder Körbe flechten wie seine Großeltern.

    „Wenn du wieder kommst ist vielleicht alles mit Flüchtlingen besetzt, wer weiß? Erst gestern, oder vorgestern, kam ein ganzer Treck von drei, vier Familien hier durch. Stella schüttelte den Kopf. „Hatte mit einer der Frauen kurz gesprochen, und die meinte der Krieg kommt auch bald zu uns. Bleiben wollten die nicht, sind dann weiter Richtung Nola. Die alte Frau blickte nachdenklich auf ihren leeren Teller. „Hatte denen noch Eintopf angeboten."

    Gut gesättigt schwieg die Runde eine kurze Weile. In diese Stille hinein kam der knorrige Kater zurück, in der Hoffnung, etwas von der Mahlzeit abzubekommen. Die Erfahrung vieler Jahre hatte ihn gelehrt, dass wenn die Menschen gegessen hatten und satt am Tisch saßen, auch immer mal was für ihn abfiel. Gunnar biss von seinem letzten Stück Fladenbrot ab und schmiss den Rest, nachdem er noch ein wenig von der Erbsensuppe damit aufgewischt hatte, dem Kater vor die Pfoten. Auch der hatte von Eintopf mittlerweile genug, aß aber trotzdem gierig.

    „Gunnar kam mit seiner Mutter damals ja auch als Flüchtling, meldete sich Franco zu Wort und guckte dabei so, als wäre ihm eben der Sinn des Lebens eingefallen. „Und seine Großeltern vorher auch. Damals war auch schon Krieg da oben im Norden. Das ist also nichts Neues, würde ich sagen.

    „Nur so viele wie in den letzten Monaten kamen schon lange nicht mehr", sagte Stefano. „Darum werden wir dein Haus, Gunnar, wohl an eine dieser Familien aus Hulsten oder von weiß der Geier woher vermieten.

    Vorausgesetzt, es möchte jemand hier bleiben und nicht weiter in den Süden ziehen. Das ist dir doch recht, oder?" Alle blickten nun zu Gunnar, selbst der Kater.

    „Natürlich! Wenn ich unterschrieben hab ist das euer Haus und ihr könnt damit machen was ihr wollt. Meine Familie war damals ja auch so arm dran. Gunnar betrachtete nachdenklich seinen leeren Teller. „Meine ersten Erinnerungen überhaupt sind Erinnerungen an dieses Haus. An die Flucht mit meiner Mutter kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

    „Du warst ja auch noch sooo klein damals", sagte Stella und hielt ihre Hände auseinander. Allerdings so, dass der alte Kater wohl noch knapp dazwischen gepasst hätte, der kleine Gunnar von einst aber sicherlich nicht.

    Sooo klein war er damals bestimmt nicht mehr gewesen. Oder?

    „Jedenfalls denke ich nicht, dass ihr das Haus so einfach vermieten oder verkaufen könnt", sagte Gunnar und setzte sich gerade hin. Er hatte die schlechte Angewohnheit, viel zu schief und krumm zu sitzen.

    „Denn die meisten Trecks ziehen ja halt weiter in den Süden. Wie diese Familien die nach Nola wollten, und selbst dort kann Surwold mit seinen Truppen jederzeit einmarschieren. Den ganzen Norden von Farnesien hat er angeblich schon erobert." Gunnar hatte sich in letzter Zeit viel über die Entwicklungen in den nördlichen Ländern anhören müssen, da Zeno kaum mehr von etwas anderem sprach. Der alte Archivar plante wohl schon sein Leben lang den Norden zu bereisen, um insbesondere die sagenumwobenen Gebiete nördlich der großen Berge zu sehen. Dort sollten angeblich Mammuts, Riesen und Trolle leben.

    Ewiges Eis. Ewige Nacht.

    Allerdings hatte Zeno jahrelang gewartet, dass die Lage dort im Norden endlich einmal besser werden würde.

    Stattdessen war sie aber immer schlechter geworden.

    Und nun war er bald zu alt für eine große und derart gefährliche Reise. Gunnar wollte nicht, dass ihm so etwas auch passierte.

    „Ach hör doch mit dem elenden Surwold auf!", schimpfte Franco und schlug mit der Faust auf den Tisch. Von sich selbst erschrocken, fuhr er sich durch die Haare. „Seit ich denken kann ist der da oben König und führt Krieg.

    Andere alte Männer sterben, warum dieser verfluchte Kerl nicht?"

    Gunnar blickte kurz zu Stefano hinüber, aber der war schon fast in seinem Stuhl eingenickt und hatte das mit sterben und alte Männer nicht so richtig gehört.

    „Der stirbt nicht, bevor der sich nicht zum Kaiser von ganz Farnesien gekrönt hat, das glaub mir mal", sagte Stella mit finsterer Miene. Und da hatte sie wohl Recht.

    Bevor Stefano anfangen konnte zu schnarchen, standen alle vom Tisch auf und streckten sich. Gunnar ließ seine Hüften kreisen und bog seinen Rücken durch, Stella wischte ihrem Sohn einen seltsamen Fleck vom Rücken und der etwas verschlafen wirkende Stefano klopfte sich auf den dicken Bauch und furzte kräftig. Der Kater ging wieder nach draußen.

    „Wollen wir nun das Geschäftliche erledigen?", fragte der bucklige Hausherr schließlich mit einem Lächeln, fasste Gunnar bei der Schulter und ging mit ihm ins kleine Nebenzimmer. Dort lag auf einer speckigen Truhe aus Kiefernholz der dreiseitige Vertrag über den Verkauf von Gunnars Erbe. Den Vertrag hatte Gunnar selbst verfasst und sich dabei an einigen Vorlagen aus den Gewölben des Archivs bedient.

    Beinahe andächtig nahm er die Seiten, überflog noch einmal den Text und setzte seine Unterschrift neben die von Stefano. Damit gehörte das alte Haus seiner Großeltern mit dem bisschen Land drum herum nicht mehr Gunnar, aber dafür war sein Erbe nun in den allerbesten Händen, die er sich vorstellen konnte.

    Leben wollte er hier draußen eh nicht wieder.

    Mit relativ feierlicher Miene nahm Stefano den Vertrag entgegen. Mit einem Schlag hatte er sein Land fast verdoppelt.

    „Danke Gunnar", sagte er nur und schloss ihn in die Arme.

    Als Gegenleistung bekam Gunnar eine ordentliche Stange Geld. Zum einen auf sein Konto bei der Bank von Orea, zum anderen einige Münzen bei seinem Aufbruch. Wie weit er mit diesen Münzen kommen würde, wagte Gunnar allerdings nicht zu schätzen.

    Außerdem überließ Stefano ihm den Hengst Rengo. Ein etwas altes, aber zuverlässiges Pferd, mit dem Gunnar schon öfter ausgeritten war.

    Nachdem alle zusammen in der Stube ein paar Gläser Schnaps geleert und auf das Wohl von Gunnar angestoßen hatten, verabschiedete dieser sich und ging mit Franco zum Nachbarhaus. Das sah schon ziemlich klapprig aus, mit bröselnden Schindeln auf dem Haupt und schiefen Holunderbäumen davor. Der Garten wirkte sehr verwildert und irgendwie vertrocknet, obwohl das frische Grün sich bemühte, einen vitalen Eindruck zu vermitteln. Gunnar bekam ein etwas schlechtes Gewissen bei diesem Anblick, hätte er sich doch seit dem Tod seiner Großmutter um das Haus, und alles was zu ihm gehörte, kümmern müssen. Aber er hatte nun einmal bedauerlicherweise zwei linke Hände und Gartenarbeit war noch nie eine seiner Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Er gehörte halt in die Stadt. Die meiste Zeit meines Lebens hab ich hier verbracht... dachte Gunnar trotzdem leicht wehmütig, als er mit seinem Freund durch das kleine Weidentor

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