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Von den Herrschern der See
Von den Herrschern der See
Von den Herrschern der See
eBook724 Seiten10 Stunden

Von den Herrschern der See

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Über dieses E-Book

„Er brauchte die See, ihren Geruch, dieses Gefühl von Weite. Die Götter hatten ihn hergeschickt. Deshalb musste er kämpfen.“

Lynn und Eirik gründen ihr Heim auf dem Land, das einst Lynns Vater gehörte. Aber die Geister der Vergangenheit geben keine Ruhe.
In der Heilerin Brae findet Lynn einen Teil ihrer Kindheit wieder und erfährt die Wahrheit hinter ihrer Gabe, den Toten ins Jenseits zu folgen. Doch welche Absicht verfolgt Brae? Und wer ist die Gestalt, die im Nebel auf Lynn lauert?
Eirik kämpft derweil gegen das Misstrauen, das ihm von allen Seiten entgegenschlägt. Als der dänische Jarl Grindill Schwarzbart ihm ein Bündnis anbietet, muss er sich entscheiden. Wem gilt seine Treue? Und welchen Teil seiner selbst ist er bereit, dafür zu opfern?

Die Grenzen-Saga von Rebekka Mand endet in Skotia, wo Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen und letztlich nur eines zählt: Wer bist du – und wer willst du sein?

Die Saga in 3 Bänden:
Band 1: Von den Grenzen der Erde
Band 2: Von den Hütern der Schlange
Band 3: Von den Herrschern der See
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum22. Okt. 2017
ISBN9783961428403
Von den Herrschern der See

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    Buchvorschau

    Von den Herrschern der See - Rebekka Mand

    Rebekka Mand

    Von den

    Herrschern

    der

    See

    Historischer Roman

    Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website www.qindie.de

    Copyright © 2017 by Rebekka Mand

    Alle Rechte vorbehalten.

    Inhalte dürfen nicht ohne Zustimmung der Autorin weiterverbreitet werden.

    Korrektorat: Silke Lemberger (www.book-cats.com)

    Cover/Illustrationen: Petra Rudolf (www.dracoliche.de)

    Impressum:

    Rebekka Mand, Römerring 26, 50171 Kerpen

    autorin@rebekkamand.de

    ISBN: 978-3-96142-840-3

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Inhalt

    Vorwort

    Auftakt

    Teil I: Fremdes Land

    1. Audienz beim König

    2. Machtwechsel

    3. Bedrohung

    4. Kriegsrat

    5. Der Ausritt

    6. Annäherung

    7. Wechselbalg

    8. Beltaine

    Teil II: Freund und Feind

    9. Angriff

    10. Grindill

    11. In der Klemme

    12. Unter Feinden

    13. Auf Raubzug

    14. Geständnis

    15. Blutopfer

    16. Völva

    17. Flucht

    Teil III: Neue Bündnisse

    18. Räubernest

    19. Auf der Spur

    20. Im Feindeslager

    21. Ein Wiedersehen

    22. Verstoßen

    23. Vogelfrei

    24. Verhör

    25. Kein Weg zurück

    26. Kriegspläne

    27. Trauma

    Teil IV: Im Krieg

    28. Falle

    29. Der Weg nach Norden

    30. Ausgeliefert

    31. Auf der Klippe

    32. Mag Mor

    33. Vereint

    34. Blutadler

    35. Ein Stück Frieden

    Nachwort

    Glossar

    Zusammenfassung Teil 1 und 2 der Grenzen-Saga

    Vorwort

    Liebe Leserinnen und Leser,

    vielen Dank, dass Sie sich für den Kauf meines Buches entschieden haben. Daraus schließe ich, dass Sie die ersten beiden Bände »Von den Grenzen der Erde« und »Von den Hütern der Schlange« ebenfalls gelesen und genossen haben. Darüber freue ich mich sehr!

    Falls dies nicht der Fall sein sollte und Sie zufällig über meinen Roman gestolpert sind, lege ich Ihnen dringend ans Herz, mit dem Lesen des ersten Teils zu beginnen, da die Handlungen teilweise aufeinander aufbauen und ohne die Vorgeschichte nur schwer zu verstehen sind.

    Für alle, die eine kleine »Auffrischung« benötigen, befindet sich eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse am Ende des Buches, ebenso ein Glossar altirischer und nordischer Begriffe, die in der Geschichte verwendet werden.

    Nun bleibt mir nur noch, Ihnen viel Vergnügen beim Lesen zu wünschen. Wenn Ihnen die Geschichte gefällt, freue ich mich wie immer über Ihr Feedback in Form einer Rezension oder einer Weiterempfehlung. Gerne können Sie mich auch unter meine E-Mail-Adresse autorin@rebekkamand.de direkt kontaktieren.

    Ihre Rebekka Mand

    Auftakt

    An Samhain sind die Geister der Toten überall – man kann sie hören. Ihr Flüstern. Ihr Locken.

    Hinauf!

    Sie rannte. Ihre nackten Füße berührten kaum den Boden. Sie spürte den Nachttau unter ihren Sohlen, den Nebel, der an ihren Waden leckte, den Wind, der an ihrem Rock zerrte.

    Der Säugling weinte, krümmte sich in ihren Armen. Sein Jammern grub sich tief in ihr Herz. Dürre, kahle Äste streiften ihr Gesicht, griffen nach ihrem Haar. Geister, die sie aufzuhalten versuchten. Sie lauerten in den Schatten, lauerten seit Tagen, seit das Kind das Licht erblickt hatte. Sie ließ sich nicht beirren. Rannte weiter. Hinauf zu der Klippe, wo die Eiche die Schwelle nach Mag Mor markierte.

    Sie legte das Kind an den Fuß des Baumes, in die Arme Midirs. An Imbolc war er aus der Anderswelt zu ihr gekommen, hatte bei ihr gelegen. Als der Morgen graute, hatte sie gewusst, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal war.

    Das Kind wand sich in seiner Decke, schrie seine Furcht in die Nacht hinaus. Die Augen zugekniffen, die Fäustchen gen Himmel gereckt. Es war noch so klein, die Nacht zu kalt. Schon legte sich das Nebelkleid der Feen über den Wechselbalg, umhüllte ihn mit seinem Weiß.

    Nicht ihr Kind, niemals gewesen. Sie wandte sich ab. Die Schreie folgten ihr. Eine Träne, kalt und schwer, rann über ihre Wange.

    Hier oben umarmten sich Wind und See in inniger Leidenschaft, zeugten Sturmkinder, Nacht um Nacht. Sie tanzten um sie herum, lachten und balgten, lockten und zogen sie mit sich. Über die Klippe.

    Hinab!

    Wo Wind und Wasser sich vereinen. Wo Stille wohnt. In die Arme des Dunklen, der die See bewacht. Und die Toten heimträgt.

    ~~~

    Teil I: Fremdes Land

    (825-826 n. Chr.)

    1. Audienz beim König

    Skotia, Herbst 825 n. Chr.

    Palisaden ragten vor ihnen in der Ferne auf, demonstrierten Stärke und Furcht. Auf ihren Spitzen schlugen Krähen mit den Flügeln und trugen ihre Rufe in das trostlose Himmelsgrau.

    »Ein schlechtes Omen«, brummte Eirik und sprach aus, was Lynn fühlte. Sein Blick glitt über das Bollwerk, während sie darauf zu ritten. Die Pferde versanken bis zu den Fesseln im Schlamm. Etliche Fuhrwerke hatten tiefe Narben in die Erde gegraben. Lynn tätschelte Flockes Hals, als die Stute unwillig schnaubte. »Wir haben es bald geschafft, meine Kleine.« Sie hoffte inständig, dass es stimmte.

    Die Vorstellung, vor den rí tuath zu treten und ihn um Land zu bitten, erschien ihr mit einem Mal völlig absurd. Selbst, wenn es ihr Land war, um das sie bat. Aber vielleicht waren es auch bloß der drückend graue Himmel und ihre Müdigkeit, die sie zu so trüben Gedanken hinrissen? Immerhin hatten sie den ganzen Sommer darüber nachgedacht und Pläne geschmiedet. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten.

    Sie blinzelte vor Erschöpfung. Ihre Augen brannten, denn sie hatte in der Nacht am Lagerfeuer kaum geschlafen. Der Regen hatte sie völlig durchnässt, zermürbt. Sie fühlte sich wie ausgespuckt. Kaum die passende Stimmung, um beim König vorzusprechen, trotz des sauberen Kleides und des Schmucks, den sie kurz zuvor angelegt hatte.

    Eirik ritt vor ihr her. Er trug den Wolfspelz, den er dem »Sklavenfresser« Ratibor abgenommen hatte. Seine Haare hatte Lynn ordentlich gekämmt, geflochten und im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden. Sie hatte am Morgen beinahe eine Stunde gebraucht, um ihm die Kletten herauszuziehen, die er sich beim Ritt durch den Wald eingefangen hatte. Unter dem Pelzmantel trug er seine neue rote Tunika und eine Hose aus weichem, braunen Leder. Beides hatte Lynn in den Nächten vor ihrem Aufbruch genäht und ihm verboten, es vorher zu tragen. Den Stoff sowie den kunstvoll bestickten Gürtel, hatte Eirik bei seiner Rückkehr im Frühsommer mitgebracht, nachdem Lynn ihn fast zwei Winter lang verloren geglaubt hatte. Giftzahn, sein Langschwert, schwang unter dem weißen Pelz hervor. Er sah beeindruckend aus. Stolz und kriegerisch. Falls er sich ebenso erschöpft fühlte wie Lynn, merkte man es ihm zumindest nicht an.

    Lynn schob sich die pelzbesetzte Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht, als der Wind sich drehte und der Regen sie nun von vorn erwischte. Zum Glück war es nicht mehr weit. Sie konnte das Tor schon sehen. Eirik blickte über die Schulter zu ihr zurück, schnalzte mit der Zunge und lenkte seinen Rappen Loki neben Lynns Stute, sodass sie den Rest des Weges nebeneinanderher reiten konnten. Lynn warf ihm einen Seitenblick zu. »Glaubst du, er wird uns überhaupt anhören?«

    Eirik schnaubte. »Sag du es mir. Du kennst Malcolm besser als ich.«

    Ratlos hob Lynn die Schultern. »Ich kenne ihn nicht. Hab ihn bloß einmal gesehen und da war ich noch ein Kind.«

    »Aber du kanntest immerhin seinen Bruder.«

    »Tiarnan, ja«, gab Lynn zu. »Er war Vaters Kriegsherr.«

    Tiarnan war mit ihrem Vater gemeinsam in den Tod geritten, am Tag, als die Lochlannach kamen und Lynn ihrer Heimat, ihrer Kindheit und ihres Vaters beraubten. Zwei dieser Dinge waren unwiederbringlich verloren. Eines gedachte sie, sich heute zurückzuholen.

    Sie hielten vor dem Tor und Lynn schob die Kapuze zurück. Sie hatte ihr Haar geflochten und hochgesteckt, so gut sie es alleine vermochte. Ihre Ohren schmückten schwere Silberohrringe, die beinahe bis auf ihre Schultern reichten. Um den Hals trug sie das Keltenamulett, das Eirik ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Eirik hatte gewollt, dass sie noch mehr Schmuck anlegte, aber Lynn hatte sich geweigert. Sie hasste es, sich so herauszuputzen, um beim rí tuath Eindruck zu schinden. Sie verstand, dass es nötig war, aber sie würde den Teufel tun und sich als etwas ausgeben, was sie nicht war, um etwas zurückzubekommen, das ihr von Geburt wegen gehörte. Was damals geschehen war, war nicht ihre Schuld gewesen, auch wenn sie das lange Zeit geglaubt hatte.

    »Bereit?«, fragte Eirik.

    Lynn nickte und wartete mit erhobenem Kinn, bis ein behelmter Kopf auf dem Wachturm erschien und über die Palisade zu ihnen herunter spähte. »Wer da?«

    »Lynn Ní Ríann aus Ríanns Tír«, antwortete Lynn mit fester Stimme. Sie hatten zuvor abgemacht, dass sie das Reden übernehmen würde. Sie durften nicht riskieren, bereits am Tor abgewiesen zu werden, nur weil sie einen Lochlannach, einen Fremden aus dem Norden, als Begleitung dabei hatte. »Ich wünsche, den König zu sprechen. Mein Vater war ein guter Freund von ihm.«

    Der Wachmann betrachtete sie einen Augenblick lang interessiert. »Du kommst aus dem Geisterland im Norden? Und dein Vater war König Ríann?«

    Lynn schöpfte Mut. »Ja! Ja genau. König Ríann von Aontrim. Er starb vor langer Zeit.«

    »Und Ríanns Tochter starb damals ebenfalls, erzählt man sich.«

    Unwillkürlich straffte Lynn die Schultern. »Sehe ich etwa tot aus? Lass uns ein, damit ich mich vor dem König erklären kann.«

    Der Wachmann zögerte noch immer, dann schwenkte sein Blick zu Eirik, der in Lokis Zügel gegriffen hatte, um ihn daran zu hindern, seinem hinterlistigen Namenspatron alle Ehre zu machen und Lynns Stute in die Flanke zu beißen. »Und er?«

    »Er ist mein Gemahl«, sagte Lynn. Der Wachmann zögerte kurz, dann verschwand er hinter der Palisade. Sie atmete auf, froh, dass die Befragung vorerst vorüber war.

    »Dein Gemahl? Ist das alles?«, knurrte Eirik. Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, hinter ihr zurückzustehen, auch wenn er sich damit einverstanden erklärt hatte, um ihr Vorhaben nicht zu gefährden.

    Lynn lehnte sich leicht zu ihm herüber. »Sollte ich ihm etwa deinen Namen nennen? Er war ohnehin schon misstrauisch«, flüsterte sie.

    Das Tor öffnete sich. Zwei Wachen mit Lanzen und Schilden flankierten sie auf ihrem Weg in den Hof. Erleichtert saß Lynn vor den Stallungen ab. »Bitte, deine Waffen, Herr«, sagte ein Bursche zu Eirik und machte eine einladende Geste. Eirik schien kurz zu erstarren. Dann presste er die Lippen zusammen und legte den Schwertgurt ab. Lynn sah sich derweil um. Malcolm hatte eine gewaltige Feste errichtet. Die Palisaden bildeten einen Ring um das gesamte Gehöft, in dessen Mitte sich die Königshalle befand. Rings herum standen etliche kleinere Häuser, Werkstätten und Stallungen. Dahinter erklang das Geräusch sich kreuzender Klingen. Lynn reckte den Kopf und erspähte einen Kampfplatz, auf dem Malcolms Krieger trainierten.

    »Herrin?«

    Lynn drehte sich zu einem flachsblonden Jungen um, der verlegen dreinblickte und den Rotz hochzog, während er in Flockes Zügel griff. Lynn lächelte ihn an. »Vielen Dank«, sagte sie und überließ ihm das Tier. Sie trat an Eiriks Seite, hakte sich bei ihm unter.

    »Dort drüben ist das Küchenhaus«, erklärte der Bursche, der unter der Last von Eiriks Waffen beinahe zusammenbrach. »Dort könnt ihr euch stärken, während ich den König über euren Besuch informiere.«

    Eirik klopfte ihm so fest auf die Schulter, dass er sich ein Stöhnen nicht verkneifen konnte. »Also dann, Herrin?«, spottete er und führte Lynn über den weitläufigen Platz zu dem Gebäude.

    ~~~

    Eine Magd namens Máire brachte ihnen saubere Tücher, eine Schüssel mit heißem Wasser, einen Krug Ale, frischgebackenes Brot mit Ziegenkäse und kleine, saure Äpfel. Während Lynn sich den Dreck aus dem Gesicht wusch, langte Eirik zu. Auffordernd hielt er ihr einen Apfel hin. Lynn schüttelte den Kopf. »Ich bekomme ganz sicher nichts runter, bevor wir nicht mit Malcolm gesprochen haben.«

    Er trat hinter sie und nahm ihr das Tuch aus den Händen. »Was soll schon passieren?«, meinte er, legte das Tuch an den Schüsselrand und seine Hände auf ihre Schultern. Lynn seufzte. »Wenn er Nein sagt, gehen wir eben zurück.«

    »Und bleiben für immer als Gäste in Ciarans Haus?« Lynn schloss die Augen, als er ihre verspannten Muskeln mit dem Daumen bearbeitete.

    »In deinem Haus«, erinnerte er sie. »Ciaran hat es dir geschenkt.«

    »Es fühlt sich aber nicht wie meines an. Und das Land ist nicht groß genug für uns und all deine Schwurmänner, vergiss das nicht.« Lynn hielt seine Hände fest und drehte sich zu ihm um. »Das da oben im Norden, diese Ruine, das ist mein Haus. Dorthin möchte ich.«

    Eirik blickte sie lange an, dann nickte er ernst. »Ich weiß, Mädchen.« Sein Daumen fuhr über ihre Wange. »Wir werden es dir zurückholen.« Er küsste ihre Nasenspitze und zog sie an sich. Er roch nach Regen und Pferd, darunter lag der Geruch seines Schweißes, scharf und durchdringend. Lynn wünschte sich nichts mehr, als ihren Kopf in seiner Armbeuge zu betten und ein paar Stunden zu schlafen. Seufzend löste sie sich von ihm.

    »Du hast recht. Ich sollte etwas essen.« Sie griff nach einem Stück Brot, als sich die Tür öffnete und Máire hereinkam.

    »Der König wird euch nun in der Halle empfangen.« Sie deutete in Richtung Tür, vor der es Bindfäden regnete. Lynn legte das angebissene Brot weg, zog sich ihren Umhang über die Schultern und die Kapuze ins Gesicht. Bevor sie Máire nach draußen folgten, atmete sie tief durch.

    Vor der Halle blieben sie stehen. Eirik ergriff Lynns Hand. Schweigend blickten sie auf die Eingangstür. Lynn wusste, dass ihr Traum platzen könnte. Hier und heute. Sie drückte Eiriks Hand fester. Dann traten sie ein.

    Sie wusste nicht, was für einen Mann sie erwartet hatte. Malcolm mochte einst ein Krieger gewesen sein, aber die Jahre hatten ihn weich und fett werden lassen. Er lag beinahe in seinem Hochstuhl und hatte die Hände auf seinem gewaltigen Bauch verschränkt. In seinen dunklen Locken schimmerten silberne Strähnen, das Doppelkinn lag schwer auf seinem kurzen Hals. Damals war er jung und voller Kraft gewesen. Der schlaffe, alte Mann, der ihnen desinteressiert aus zusammengekniffenen Lidern entgegensah, erinnerte nicht im Entferntesten an den Malcolm, den sie einst gekannt hatte.

    Lynn trat vor seinen Stuhl und machte einen Kniefall. Eirik verneigte sich ebenfalls, wenn auch deutlich weniger enthusiastisch. »Herr, wir danken Euch für Eure Gunst«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Vorsichtig sah sie zu Malcolm auf.

    Er erkannte sie nicht. Sein Blick fiel auf Eirik und er schien darauf zu warten, dass auch er etwas sagte, doch als nichts weiter geschah, räusperte er sich und hieß ihnen mit einer müden Geste aufzustehen. »Was kann ich für euch tun?«, sagte er.

    Lynn knetete ihre Finger. »Ich bin Lynn, Tochter von Ríann aus Aontrim. M- mein Vater war früher ...«

    »Lynn?« Malcolm hatte die verschränkten Finger gelöst und sich aufgesetzt. Seine Augen waren vor Staunen aufgerissen. »Ríanns Tochter?«

    Sie lächelte nervös. »Ja, Herr, ganz recht. Unsere Väter waren Verbündete und Freunde. Und wenn mich nicht alles täuscht, zähltet auch Ihr zu Vaters Freunden.«

    Malcolm grinste und wirkte auf einmal sehr viel lebendiger. »So ist es. Ríann half uns damals, diesen Wurm Brian aus An Dún in die Flucht zu schlagen. Er ließ die Palisaden errichten, Krieger ausbilden. Er war ein großer Mann, dein Vater.«

    Ohne, dass sie es wollte, traten Tränen in Lynns Augen. Sie blinzelte. »Ebenso wie Euer Bruder Tiarnan.«

    Das Lächeln verschwand aus Malcolms Gesicht. »Es war ein großes Unglück, beide zu verlieren. Für ganz Aontrim. Dich hielten wir ebenfalls für tot. Ich kann nicht glauben, dass du vor mir stehst.«

    »Die Nordmänner nahmen uns mit in ihr Land – mich und meine Mutter. Wir wurden ihre Sklaven, aber ich konnte entkommen.«

    Abermals glitt Malcolms Blick über Eirik, der reglos neben ihr stand. »Aber du hast dir ein Andenken aus dem Nordland mitgebracht, wie mir scheint.«

    Lynn legte ihre Hand auf Eiriks Unterarm. Die Muskeln unter dem Stoff waren steinhart. »Das ist mein Gemahl, Eirik Karrsson aus Jütland. Er befreite mich aus der Sklaverei, beschützte mich. Ohne ihn wäre ich nicht hier.«

    Malcolm schwieg, rieb sich den Bart und sah von einem zum anderen. »Um was zu tun?«, fragte er schließlich gedehnt.

    Nun war es an ihr, zu versteinern. Ihr Mund war trocken, als sie antwortete. »Dies ist mein Zuhause, hier habe ich mein halbes Leben verbracht. Mein Vater starb, während er die Küste vor dem Feind verteidigte. Ich bin hier, um Euch um meines Vaters Land zu bitten. Mein Erbe

    Sie hatte es geübt. Stunde um Stunde im Sattel hatte sie sich die Worte leise vorgebetet, ihnen unterschiedliche Betonungen gegeben. Aber nie hatte sie die Verbitterung darin vermutet, die sie nun in ihrer Stimme hörte.

    Malcolm beugte sich vor, so weit es sein Bauch zuließ. »Dein halbes Leben, das ist richtig. Und die andere Hälfte verbrachtest du unter Heiden. Spricht er überhaupt unsere Sprache?«

    »Ich spreche sie sogar sehr gut«, sagte Eirik in klarem Gälisch, ohne eine Miene zu verziehen.

    Malcolm breitete entschuldigend die Arme aus. »Du verstehst mein Dilemma, Lynn? Die Lochlannach haben Ríanns Tír verwüstet. Kein Stein steht mehr auf dem anderen ... und jetzt soll ich einem Heiden erlauben, sich dort anzusiedeln?«

    »Ihr sollt es mir erlauben«, sagte Lynn und Verzweiflung kroch ihre Kehle hoch. Das hier drohte, ihr zu entgleiten. »Ihr seid es meinem Vater schuldig.«

    »Schuldig?« Malcolm runzelte verärgert die Stirn. »Ich bin es ihm schuldig, sein Erbe davor zu schützen, von einem Heiden entweiht zu werden! Einem wie ihm!«

    »Ich bin kein Heide«, sagte Eirik und brachte sie beide zum Schweigen. Malcolm betrachtete ihn überrascht. Lynn versuchte, seinen Blick einzufangen, aber er schien den ihren zu meiden. »Ich bin Christ, so wie Ihr.«

    Er war getauft? Es war, als machte ihre Welt einen Ruck, hob sich ein Stück aus den Angeln, um dann schief wieder aufzusetzen. Lynn sagte keinen Ton, starrte Eirik einfach nur an, doch der konzentrierte sich ganz auf Malcolm.

    »Du hast die Taufe empfangen?«, fragte der rí tuath.

    »So ist es«, sagte Eirik.

    »Wann?«, platzte es aus Lynn heraus. Sie fing sich einen warnenden Blick von Eirik ein.

    »Vor mehr als zwei Wintern.« Er griff in den Beutel an seinem Gürtel und holte etwas hervor. Es war Ben Feuernases hölzernes Kreuz. Eirik ließ es an der Kette baumeln und sah dabei Malcolm fest in die Augen. »Ich spreche Eure Sprache, bete zu Eurem Gott, nahm eine Skotin zum Weib. Ich bin einer von euch.«

    Nachdenklich kniff Malcolm die Augen zusammen. Er nickte langsam. »Ich denke darüber nach. Bis heute Abend, wenn ihr mit mir an meiner Tafel speist – als meine Ehrengäste.« Er erhob sich schnaufend und stieg von dem Podest. Dann breitete er die Arme aus und zog Lynn an sich. Sie versteifte sich in seiner Umarmung, konnte ihm sein Misstrauen nicht verzeihen. »Willkommen zu Hause in Aontrim, Lynn Ní Ríann.«

    ~~~

    »Ist das etwa wahr?«, fragte Lynn, während sie hinter Eirik her durch den Regen zurück zu ihrer Unterkunft hastete. Eirik antwortete nicht und sah sich nicht nach ihr um. Sie schnappte nach dem Ärmel seiner Tunika und spürte Stoff reißen, als sie zu kräftig daran zog. Nun blieb er stehen und machte sich ärgerlich los. »Was soll das, verflucht? Soll ich heute Abend etwa das Reisehemd tragen?«

    Lynn machte eine wegwerfende Handbewegung und blinzelte den Regen aus ihren Wimpern. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«

    »Ich habe es dir jetzt gesagt.«

    »Nein. Du sagtest es Malcolm.«

    »Damit er uns dein Land überlässt. Das willst du doch!«

    Sie war außer sich, wusste nicht, was sie erwidern sollte. Hieß das, er hätte es ihr für immer verschwiegen, wenn es nicht von Nöten gewesen wäre, sein Geheimnis heute vor Malcolm preiszugeben? »Eirik, ich verstehe das nicht. Warum ...?«

    Doch er schüttelte bloß ärgerlich den Kopf. »Ich möchte nicht darüber reden, Lynn. Lass gut sein.« Dann drehte er sich um und stapfte weiter.

    ~~~

    Bis zum Essen vertrieb Lynn sich die Zeit damit, den Riss in Eiriks Tunika zu nähen und sich auszuruhen. Der Regen ließ nicht nach und sie hatte keine Lust, bei diesem Wetter die Umgebung zu erkunden. Eirik schien das nicht zu stören. Er zog sein Reisehemd an, legte seinen Wolfspelz über die Schultern und verschwand ohne ein Wort nach draußen.

    Lynn wusste, dass die Zeit beim Sklavenfresser und ganz besonders Bens Tod, ihn immer noch verfolgte. Es war etwas, worüber er nicht mit ihr sprach und sie hatte gelernt, das zu akzeptieren. Aber dass er sich hatte taufen lassen, ohne ihr einen Ton davon zu sagen! Den ganzen Sommer hindurch hatte sie es nicht bemerkt, nicht einmal geahnt.

    Tränen schossen in ihre Augen und Einsamkeit überwältigte sie. Sie vermisste ihre Tochter Rhianwen, ihr strahlendes Lächeln, ihr fröhliches Geplapper. Die Trennung von ihrem kleinen Mädchen zermürbte sie mindestens so sehr wie ihr Streit mit Eirik und das Warten auf Malcolms Entscheidung.

    Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Als sie die Augen öffnete, saß Eirik neben ihr auf dem Rand ihres Lagers und begutachtete den Ärmel seiner Tunika. Seine Haare waren nass vom Regen und das Hemd klebte an seinem Rücken. Lynn streckte die Hand nach ihm aus und berührte ihn sacht. Er wandte sich ihr zu und lächelte, als sei nichts gewesen. So machte er es immer.

    »Zieh das aus, du wirst noch krank«, sagte sie und setzte sich auf.

    Er nickte und zerrte sich den nassen Stoff über den Kopf. »Konntest du etwas schlafen?«

    »Ja.« Sie zog die Beine an und beobachtete, wie er sich abtrocknete, die Tunika anzog und den Gürtel umschnallte. »Wo bist du gewesen?«

    Er zuckte mit den Schultern. »Hier und da. Habe mir die Verteidigungsanlage angesehen, die Wachtürme, den Kampfplatz. Mit ein paar Männern gesprochen.«

    »Und sie sind nicht schreiend vor dem barbarischen Heiden weggelaufen?«, spottete sie.

    Eirik schmunzelte. »Das nicht gerade. Aber sie halten uns für wahnsinnig, weil wir uns an der Nordküste niederlassen wollen. Sie alle machen sich in die Hosen vor Angst vor den Geistern. Und natürlich den Lochlannach.« Das letzte Wort flüsterte er mit unheilschwangerer Stimme, neigte sich zu ihr herüber und küsste sie flüchtig auf den Mundwinkel.

    Lynn zupfte nachdenklich an ihrem Haar, das sich während des Schlafs gelöst hatte. »Und? Wie denkst du darüber?«

    Eirik stand auf. »Wir sind die Lochlannach, Mädchen. Wovor sollten wir uns fürchten? Na los, aus den Federn. Es wird Zeit. Du siehst aus wie ein gerupftes Huhn.«

    Lynn schnaubte und steckte ihr Haar fest. Eirik blieb in der Tür stehen und beobachtete sie. Sie hielt inne, um seinen Blick zu erwidern. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen und ein nachdenklicher Ausdruck an seine Stelle getreten. »Ich wollte es dir sagen, Lynn. Ehrlich. Bloß ... die Taufe war eine Sache zwischen mir und Ben Feuernase«, sagte er leise. »Um seine Seele zu retten. Und meine. Falls wir sterben.«

    Langsam ließ sie die Hand von ihrem Haar sinken. Es war das erste Mal, dass er über Ben sprach. Auch nur seinen Namen erwähnte. Lynn wagte nicht, etwas zu erwidern. Zu sehr fürchtete sie, etwas Falsches zu sagen.

    »Ich weiß nicht mal, ob sie Gültigkeit besitzt«, fuhr er fort, das Gesicht jetzt von ihr abgewandt. »Ben sagte, man bräuchte ein Gewässer, aber wir hatten nichts als ein paar Tropfen schales Wasser.« Mit einer hilflosen Geste brach er ab.

    »Du hast es für Ben getan«, stellte Lynn fest. Sie hatte einen Knoten im Hals. Obwohl sie es nicht wollte, kein Recht dazu hatte, war sie gekränkt. Damals am Limfjord hatte er sich für sie taufen lassen wollen. Aber sie hatte ihn hintergangen und er sich von ihr abgewandt. Zu Recht. Doch nun war er getauft, hatte den angenagelten Gott, wie er ihn abfällig nannte, als den seinen anerkannt und seinen alten Göttern abgeschworen. Für seinen Freund Ben. Nicht für sie.

    Er sah sie an, aber sein Blick glitt durch sie hindurch. »Ich weiß nicht, ob er Frieden gefunden hat. Vielleicht war es umsonst. Dieser Gott ... er spricht nicht zu mir.«

    »Es war nicht umsonst«, brachte sie hervor. »Gott hat Ben zu mir geschickt. Ich habe in seinen Augen Frieden gesehen. Und jetzt sind wir beide hier, Eirik. Du und ich! Und ... und vielleicht gibt Malcolm uns das Land zurück, das meinem Vater gehörte, und alles wird gut!«

    Er sagte nichts, nickte nur. Sie schwiegen lange. Irgendwann blickte er weg, zupfte seine Tunika zurecht und wandte sich ab. »Lass uns essen gehen. Ich habe Hunger wie ein Bär.«

    ~~~

    Alle Köpfe an der langen Tafel und den Tischen, die dahinter an den Wänden aufgestellt waren, drehten sich, als sie eintraten. Die Halle war zum Bersten gefüllt mit Malcolms Edelmännern und Kriegern. Lynn sah auch ein paar Frauen und Kinder, aber die meisten Anwesenden waren Männer. Manche betrachteten sie neugierig, einige unverhohlen feindselig. Ein paar wenige nickten Eirik auf ihrem Weg zu ihren Ehrenplätzen neben Malcolm grüßend zu und nun verstand Lynn, womit der den Nachmittag verbracht hatte. Er hatte daran gearbeitet, kein Fremder mehr zu sein, kein Lochlannach. Dankbar ergriff Lynn seine Hand. Malcolm erhob sich schwerfällig, als sie ihn erreichten. »Schön, dass ihr meine Gäste seid!«, schnaufte er.

    Eirik verneigte sich steif. »Wir danken Euch für die Gastfreundschaft.«

    Malcolm wies auf ein junges Mädchen, das neben ihm saß. »Meine Frau, Königin Margret.«

    Lynn begrüßte die junge Königin mit gebeugtem Knie und Eirik küsste gar ihre Hand, bevor sie sich setzten, Lynn neben Margret und Eirik auf die andere Seite neben Malcolm. Lieber hätte Lynn neben Eirik gesessen, um ihrer Unterhaltung folgen zu können, aber sie vermutete, dass Malcolm allein mit Eirik sprechen wollte, um seine Gesinnung auszuloten. Während das Essen herumgereicht wurde, betrachtete Lynn Margret. Sie erschien ihr kaum im heiratsfähigen Alter.

    »Ihr habt ein schönes Heim, Mylady«, sagte sie freundlich. »Sehr eindrucksvoll.«

    Das Mädchen lächelte scheu. »Ja, nicht wahr?«

    »Seit wann seid Ihr verheiratet, wenn Ihr die Frage erlaubt?« Lynn nahm sich ein Stück Braten von der Platte, die eine Magd ihr hinhielt. Ihr Magen knurrte, als der Duft des Wilds sie erreichte.

    »Seit ein paar Monden erst«, entgegnete Margret.

    Lynn trank einen Schluck Wein. Er legte sich schwer und süß in ihren Magen.

    »Aber ich bin schon seit vielen Jahren an Malcolms Hof. Als Friedenspfand.«

    Langsam ließ Lynn den Becher sinken.

    »Ich bin die Tochter von Wulfreth, rí tuath von An Dún. Das liegt an der südlichen Grenze«, ergänzte sie, als ob Lynn es nicht selber wüsste.

    Lynn nickte, trank noch einen Schluck und begann, nachdenklich an ihrem Stück Fleisch herumzusäbeln. Als ein Korb mit Brot herumgereicht wurde, griff sie hinein, aber sie schmeckte kaum, was sie aß.

    Einst hatte sie Wulfreths Frau werden sollen. Ein Friedenspfand. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie nicht dank Olav Hjarmarsson, so sehr sie ihn auch gehasst hatte, ein besseres Leben hatte führen dürfen als die meisten anderen Frauen. Sie war immerhin frei. Frei von gesellschaftlichen und christlichen Zwängen. Frei von Tochterpflichten. Sicher, sie hatte einen hohen Preis gezahlt. Aber hatte nicht alles seinen Preis? Sie sah sich an der Tafel um, während sie kaute, sah in die Gesichter von Männern mit kurzen Haaren, gälischen Zungen und christlichen Symbolen. Sie dachte an die gemütlichen Abende im skáli in Jütland, an die Kinder und Frauen, mit denen sie gemeinsam gewebt, gesponnen und Geschichten erzählt hatte. Und fühlte sich fremd im eigenen Land. Seltsam enttäuscht richtete sie den Blick wieder auf das Essen vor sich. Dann bemerkte sie, dass Margret sie beobachtete.

    »Du hast bei den Heiden im hohen Norden gelebt, sagt man. Ist das wahr?«, fragte die Königin mit gesenkter Stimme und in ihren Augen blitzte eine Neugierde auf, die nicht zu ihrem scheuen Auftreten passen wollte. »Ist es so, wie alle sagen?«

    Bedächtig führte Lynn ein Stück Braten an den Mund. »Was sagen sie denn?«

    Margret beugte sich noch näher heran. »Dass sie ihre Kinder essen und die Köpfe ihrer Feinde aufpfählen und zur Schau stellen. Und dass sie es wie die Tiere alle miteinander ...«, sie brach ab, als sie merkte, dass ihre Zunge wohl mit ihr durchgegangen war, errötete und trank hastig einen Schluck Wein. »Verzeih!«

    Lynn musste wider Willen lachen. »Schon gut. Also, nein, sie essen ihre Kinder nicht. Ganz und gar nicht. Und was ihre Freizügigkeit betrifft,« nun spürte sie, wie sie selbst rot wurde und trank, um es zu überspielen, »sie haben ein anderes Verständnis von derlei Dingen als die Menschen hierzulande, das ist wahr. Aber sie sind keine Wilden

    Margret nickte enttäuscht. Vielleicht hatte sie auf ein paar Einzelheiten gehofft. »Und die Köpfe?«, flüsterte sie.

    Lynn wollte schon abwinken, aber dann dachte sie an den Tag des Überfalls, an die geschändete Órla, brennende Männer, tote Mönche, Niamh, mit durchgeschnittener Kehle. Sie dachte auch an Jon, den Eirik in Haithabu aus Rache grausam hingerichtet und in der Förde versenkt hatte. Manchmal vergaß sie es. Meistens lebte sie damit. Es war ein erschreckend normaler Teil ihres Lebens geworden. »Es ist wahr«, sagte sie knapp und widmete sich ihrem Essen, ohne weiter auf Margrets starrenden Blick zu achten.

    Den Rest ihrer Mahlzeit verbrachte sie damit, angestrengt auf das Gespräch zwischen Malcolm und Eirik zu achten, aber es war um sie herum zu laut und ihre Stimmen zu leise, um Einzelheiten herauszuhören. Als sie mitbekam, wie Malcolm über etwas lachte, das Eirik sagte, entspannte sie sich. Der Wein und das gute Essen taten ihr Übriges. Margret erwies sich zudem als interessante Gesprächspartnerin. Trotz ihrer Jugend war sie witzig, gebildet und trug außerdem ihr Herz auf der Zunge, sodass Lynn so einiges über die Situation im Land erfuhr, was Malcolm ihr sicher nicht erzählt hätte.

    So wusste sie zu berichten, dass es in den Jahren nach Ríanns Tod immer wieder heftige Kämpfe im Grenzgebiet zum südlichen Königreich gegeben hatte. Wulfreth hatte seine Chance erkannt und versucht, in Aontrim einzufallen.

    »Ich war damals noch ein kleines Kind«, sagte Margret, »aber ich erinnere mich daran, dass ich ständig Hunger hatte. Der Krieg fraß all unsere Vorräte.« Sie nippte an ihrem Wein. Lynn hörte Eirik laut auflachen und versuchte, seinen Blick einzufangen. Er hatte Malcolm vertraulich die Hand auf die Schulter gelegt und sprach leise auf ihn ein. Sein Gesicht wirkte entspannt, in seinen Mundwinkeln lauerte ein Lächeln. Als er ihren Blick bemerkte, zwinkerte er ihr zu.

    Es lief anscheinend gut. Lynns Magen zog sich vor Aufregung zusammen. Sie bemühte sich dennoch, sich weiter auf das Gespräch mit Margret zu konzentrieren.

    »Offenbar hat Wulfreth es nicht geschafft, die Provinz einzunehmen«, sagte sie.

    Margret schnaubte und winkte ab. »Fearghas - Malcolms Vater - hatte längst Ríanns Platz eingenommen. Er verstand es, das Land zu verteidigen. Meinem Vater blieb keine Wahl, als aufzugeben. Die Kassen beider Provinzen waren leer ebenso die Kornspeicher. Es waren ein paar harte Winter. Um den Frieden zu gewährleisten, vereinbarten Fearghas und mein Vater die Heirat zwischen mir und Malcolm. Malcolms erste Frau war kurz zuvor am Hunger gestorben. Kinderlos.«

    »Wie alt warst du damals?«, fragte Lynn.

    Margret lächelte bitter. »Ich war fünf.«

    »So lange lebst du schon hier?«

    Sie nickte, ohne sie anzusehen. »Seit meinem zehnten Lebensjahr warteten sie darauf, dass ich endlich blutete, um mich ihm zur Frau geben zu können. Letztes Frühjahr war es so weit. Möchtest du noch Wein?«

    Lynn hatte schon zu viel getrunken und schüttelte den Kopf. Margrets Geschichte bewegte sie. Vielleicht, weil sie selbst damals das Bindeglied zwischen den Provinzen hatte werden sollen. Es war ihr Schicksal, das die junge Frau nun trug. Sie blickte eine Weile in Gedanken versunken vor sich hin, als sich eine Hand auf ihre legte. Es war die Margrets, die wie ein scheuer Schmetterling flatterte, während sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf den König richtete, der von seinem Platz aufgestanden war. Eine Hand hatte er um seinen erhobenen Weinbecher gelegt, die andere ruhte auf Eiriks Schulter. Schlagartig kehrte Lynns Nervosität zurück. Er räusperte sich, bevor er seine Stimme erhob.

    »Ich trinke auf die Freundschaft!«, bellte er über die verklingenden Gespräche hinweg und sofort wurde es still in der Halle. »Denn Freundschaft ist das wertvollste Gut. Nur sie schafft Verbundenheit und Treue.«

    Er hob den Becher noch ein Stückchen höher, als zustimmendes Gemurmel und »Hört! Hört!«-Rufe erschallten.

    »Verbundenheit ist es, die wir brauchen, wenn die Männer aus dem Norden mit ihren Schwertern rasseln, uns unsere Frauen und Schätze rauben und unsere Klöster verbrennen! Und Treue ist es, die ich verlange, wenn ich alle Männer zu den Waffen rufe, um sich im Kampf gegen die nordischen Plagegeister zu erheben!«

    Das Raunen wurde lauter, die Männer prosteten ihrem König zu, dessen Gesicht rot vom Wein und vom Reden geworden war.

    Lynn saß wie erstarrt, der Boden unter ihren Füßen schien zu wackeln. Sie tauschte einen Blick mit Eirik, der totenbleich geworden war. Hatten sie Malcolm falsch eingeschätzt? Waren sie ihm in die Falle gegangen?

    »Und deshalb, meine Freunde«, fuhr Malcolm fort, »deshalb macht es mich stolz, heute einen alten und einen neuen Freund an meiner Tafel zu begrüßen. Lynn! Eirik! Steht auf!«

    Mit weichen Knien leistete Lynn der Aufforderung Folge, nahm nur am Rande wahr, wie Margret ihren Platz räumte und sie an Malcolms Seite schob, der umstandslos seinen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog. Er roch nach Bratenfett und altem Schweiß. Lynn hielt die Luft an.

    »Lynn Ní Ríann, bist du bereit, den Schwur deines Vaters zu erneuern, diesem Land und deinem König zu dienen und es vor jedweder Gefahr zu beschützen?« Er schob sie vor sich, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Ob er absichtlich überging, dass ihr Vater damals der König gewesen war? Dass es ihr Land war, um das sie ihn anbettelte? »Ich bin bereit«, sagte sie mit zitternder Stimme.

    Malcolm nickte und wandte sich Eirik zu. »Eirik Karrsson, Mann aus dem Norden, der sich von seinen Göttern und seinen Landsleuten abgewandt hat, bist du bereit, mir deine Treue und Freundschaft zu schwören? Deine Kraft, deine Männer und dein Wissen im Kampf gegen die Plage in meinen Dienst zu stellen und das Sakrament der Taufe erneut zu empfangen?«

    Lynn schloss kurz die Augen, dann sah sie Eirik an. Er hatte den Blick ebenfalls auf sie gerichtet, seine Miene gab nichts preis. Er musste geahnt haben, dass Malcolm ihn zu einem Eid zwingen würde. Er konnte nicht beides sein, Nordmann und Skote. Heide und Christ. Er musste wählen. Hier und heute. Sein Blick verließ sie, fand Malcolms. »Ich bin bereit«, tönte seine Stimme durch die Halle, tief und kraftvoll, und Beifall brandete auf. In Lynns Ohren klang es wie das Rauschen von Wellen, die über sie hinweg tosten, sie von den Füßen rissen. Sie war überglücklich und entsetzt zugleich, denn nun wurde ihr Traum wahr, der zugleich Eirik von allem entwurzelte, was für ihn einst von Bedeutung gewesen sein mochte. Er konnte niemals mehr zurück in sein altes Leben. Es kam ihr vor, als würde ein Teil von ihm sterben, als er vor Malcolm niederkniete und seinen Schwur leistete. Alles, was danach kam, durchlebte Lynn wie im Traum. Ein Priester wurde gerufen und sie alle folgten ihm nach draußen in den Regen. Die ganze Gesellschaft prozessierte lachend und trinkend hinter dem Kirchenmann her zu einem nahe gelegenen Weiher, Eirik in ihrer Mitte, sodass Lynn keine Chance hatte, zu ihm vorzudringen, noch einmal mit ihm zu sprechen, bevor es kein Zurück mehr gäbe. Er folgte dem Priester bis zur Hüfte ins Wasser und ließ sich von ihm untertauchen. Die Worte, die gesprochen wurden, konnte Lynn aus der Entfernung nicht verstehen. Ohnehin war sie gefangen in einem Mahlstrom aus Angst, Zweifeln und Freude. Erst als Eirik zurück ans Ufer watete, Bens Kreuz nun auf seiner nassen Brust, nicht länger versteckt in seiner Tasche, schaffte sie es, sich zu ihm durchzukämpfen. Sie hatte nichts, um ihn zu trocknen, und so löste sie kurzerhand ihren Umhang und legte ihn um Eiriks Schultern, bevor sie ihn kurz an sich zog. Er zitterte und strahlte Kälte aus.

    »Danke«, flüsterte sie ihm ins Ohr und spürte sein Nicken, bevor er wieder von ihr fortgerissen wurde und sie sich in Margrets Armen wiederfand. »Willkommen zu Hause!«, jauchzte die junge Frau, nahm sie an die Hand und zog sie mit sich zurück durch das Tor, über den Hof und in die Halle, wo die Luft stickig und warm war. Lynn hielt nach Eirik Ausschau und fand ihn im Kreise Malcolms und seiner Vertrauten. Er hielt einen dampfenden Becher in der Hand und ihr Umhang war durch eine warme Decke ersetzt worden. Malcolm hatte seinen Arm auf Eiriks Schulter gelegt und sein Lachen klang durch den ganzen Raum. Ein paar Männer packten Instrumente aus, es wurde getanzt und gefeiert.

    Lynn suchte sich einen Platz etwas abseits des Trubels und umklammerte einen Becher Wein mit beiden Händen, während sie zu verstehen versuchte, was da gerade geschehen war.

    Bedeutete Eiriks Schwur, dass Vaters Land nun ihnen gehörte? Oder hatte Malcolm sie damit bloß zu seinen Leibeigenen gemacht? Sie musste mit Eirik sprechen und herausfinden, was er zuvor mit dem König vereinbart hatte. Aber Eirik wurde völlig von Malcolm vereinnahmt, sein Krug ständig nachgefüllt, und es sah nicht so aus, als würde er sich in nächster Zeit davonstehlen können. Also stand Lynn auf und kämpfte sich durch die Menge der Tanzenden bis zu Malcolms Hochstuhl vor. Ihr Mantel lag säuberlich gefaltet über ihrem verwaisten Stuhl. Sie griff danach und wandte sich dann dem König zu.

    »Mein König, ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Aber es ist spät geworden und ich werde mich nun mit Eurer Erlaubnis zurückziehen.«

    Malcolm nickte und strahlte freudig. »Aber natürlich! Máire wird dich zum Gästehaus begleiten und dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt.«

    Lynn warf einen hilfesuchenden Blick zu Eirik. »Ich hatte gehofft, mein Gemahl würde so freundlich sein.«

    Eirik stellte seinen Becher ab und stand auf. »Natürlich. Ich bringe dich hinüber.« Er verneigte sich vollendet vor Malcolm. »Wenn Ihr mich so lange entbehren könnt?«

    Malcolm lachte und winkte sie fort. Lynn schob ihre Hand in Eiriks, während sie ihm nach draußen folgte, den Mantel über den Arm geworfen.

    Sie blieben in der Mitte des Hofes stehen. Ein paar Betrunkene standen vor den Ställen und schmetterten ein unflätiges Lied, bis eine Frau aus einem der Häuser stürmte und ihnen mit dem Reisigbesen drohte. Der Regen hatte aufgehört. Lynn verschränkte fröstelnd die Arme, während sie auf Eiriks Schatten vor sich starrte. »Was hat das zu bedeuten?«

    »Es bedeutet, dass wir bekommen, was wir wollten. Wenn auch nicht so, wie wir es wollten. Er verpachtet uns das Land. Vorerst, bis wir uns bewährt haben.« Er klang so bitter, wie Lynn sich fühlte.

    Trotzdem legte sie ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. »Das Land fiel an den König zurück, da mein Vater keine Nachkommen zurückließ. Sie hielten mich jahrelang für tot.«

    »Aber jetzt bist du hier. Und das Land ist deines! Dieser gierige Raffzahn hat kein Recht, uns dafür bezahlen zu lassen.«

    »Er misstraut uns«, sagte Lynn und biss sich auf die Unterlippe. »Deshalb wollte er den Schwur. Damit du dich gegen deine Landsleute stellen musst.«

    Eirik seufzte und rieb sich über das Gesicht. »Darum sorge ich mich nicht, Mädchen. Seit über einem Jahrzehnt gibt es dort oben an der Küste nichts mehr zu holen. Die Nordmänner haben längst das Interesse verloren. Ich weiß es, weil ich selbst zu jenen gehörte, die eines Tages erkennen mussten, dass man einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen kann. Eine kleine, unbedeutende Siedlung mit einer Handvoll Menschen wird daran nichts ändern. Soll Malcolm doch angeben mit seinem dänischen Schwurmann, soll er doch glauben, dass ein paar Nordmänner an seiner Seite den Frieden wahren können.«

    Lynn hoffte, dass Eirik recht behielt und sein Schwur sie nicht eines Tages doch noch einholte. Und noch etwas bereitete ihr Sorgen: »Was ist mit deinen Nordmännern, mit Sigurd und den anderen? Was werden sie von alldem halten?«

    Er zuckte mit den Schultern, aber sie wusste, dass es ihm nicht gleichgültig war, was sie von ihm hielten. »Ich habe sie nie belogen. Sie wussten von Anfang an, worauf sie sich einließen. Ich kann nie mehr zurück nach Jütland, also wird das hier meine Heimat werden. Sie können bleiben und damit leben oder gehen.«

    Lynn biss sich auf die Lippe. »Bist du wirklich bereit dazu? Dieses Land zu deiner Heimat zu machen?«

    Er atmete tief ein und stieß die Luft mit einem heiseren Lachen wieder aus. »Für diese Frage ist es etwas zu spät, Mädchen. Ich bin nun Malcolms Schwurmann. Sollte ich nicht bereit sein, ist es höchste Zeit, es zu werden.«

    ~~~

    Die Nacht brachte noch mehr Regen und Sturm. Lynn wälzte sich auf dem fremden Lager hin und her, sorgte sich um die Zukunft und vermisste Rhianwen. Irgendwann schlief sie doch ein und als sie aufwachte, hatte der Wind nachgelassen. Es war dunkel und sie allein. Langsam setzte sie sich auf. »Eirik?«, flüsterte sie. Aber er war offenbar noch nicht von der Feier zurückgekehrt.

    Sie lag wach und wartete auf seine Rückkehr, aber die Zeit verstrich ohne ihn. Draußen war es still geworden, die Musik schon vor Stunden verstummt. Fröstelnd schob sie die Decke fort und schlüpfte in Schuhe und Umhang. In dem kleinen Ofen in der Ecke glomm der Torf. Sie nahm einen Kienspan vom Tisch und entzündete ihn in der Glut. Irgendwo hatte sie Kerzen gesehen. Mit dem dürftigen Licht bewaffnet suchte sie den Raum ab. Sie musste sich keine Mühe geben, leise zu sein, denn niemand außer ihnen nächtigte in dem kleinen Gästehaus. Auf einem Sims über dem Ofen wurde sie fündig. Sie zündete eine Kerze an, nahm sie in die Hand und drehte sich zur Tür um. Eirik stand direkt hinter ihr. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und ließ beinahe die Kerze fallen. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«, schimpfte sie.

    »Entschuldige.«

    »Wo bist du denn so lange gewesen? Die Feier ist längst vorüber!« Ihr Herz klopfte noch immer lautstark. Sie pustete die Kerze aus und stellte sie zurück an ihren Platz.

    »Ich brauchte etwas Zeit zum Nachdenken.«

    »Das kann ich mir vorstellen.« Sie fragte nicht nach dem Ergebnis seines Nachdenkens. Wenn er es ihr anvertrauen wollte, würde sie es schon bald erfahren. Und wenn nicht, dann war es nur eines von vielen Dingen, an denen er sie nicht teilhaben ließ. Sie schälte sich aus dem Mantel und schlüpfte schnell unter die warme Decke. »Komm ins Bett, es ist eisig da draußen.«

    Er blieb stehen. Seine Silhouette groß und sperrig in der Dunkelheit. So unendlich weit fort. Etwas Fremdes haftete ihm an, seit er dem Sklavenfresser entkommen war. Es machte ihr Angst. Mehr als die ungewisse Zukunft.

    »Wann kommst du zu mir zurück?«, fragte sie leise.

    Nun, endlich, blickte er in ihre Richtung, auch wenn sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. »Was redest du für einen Unsinn, Mädchen? Ich bin doch hier.«

    Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Nicht seit Ratibor.«

    Sie dachte, er würde sich einfach umdrehen und gehen, wie er es oft tat, wenn sie seinen Namen erwähnte. Aber er blieb. Sie kletterte abermals aus dem Bett und stellte sich vor ihn. Seine Brust unter dem Hemd war eiskalt, als sie ihre Hände darauflegte. »Du frierst.« Sie schmiegte sich an ihn, stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Endlich reagierte er auf sie, erwiderte den Kuss, aber er war mit den Gedanken woanders. Das konnte sie spüren. »Lass uns jetzt schlafen, ja?«, flüsterte sie. Sie löste sich von ihm, schlüpfte unter die Decke und diesmal folgte er ihr. Seine Hände glitten ihren Rücken hinab auf ihren Po und blieben dort. Er brummte behaglich, seine Muskeln lockerten sich und sein Atem wurde ruhig, als er einschlief. Er musste völlig am Ende sein. Vielleicht ließen die Träume ihn heute Nacht in Frieden. Sie schmiegte sich an ihn, wollte ihm etwas von ihrer Wärme schenken und spürte, wie der Schlaf auch sie überwältigte. Er mochte ihr Dinge verschweigen oder verübeln: So lange er des Nachts in ihren Armen einschlief, konnte sie daran glauben, dass er eines Tages ganz heimkehren würde.

    ~~~

    2. Machtwechsel

    Jütland, Frühjahr 826 n. Chr.

    »He, Bursche!«

    »Mmmh?«

    »Wach auf!«

    Jemand rüttelte ihn herzhaft an der Schulter. Ihm wurde schlecht.

    »Hast wohl gestern ‘n bisschen zu tief ins Horn geschaut, was?«

    Ein albernes Kichern begleitete die Worte.

    Kjartan hob den Kopf und blinzelte. Hinter seiner Stirn erscholl ein schmerzhaftes Hämmern. »Au!«, maulte er und ließ den Kopf wieder auf die Felle sinken.

    »Ich soll dich wecken, haste gesagt. Wegen dem ðing

    Schlagartig war er hellwach. Der Morgen dämmerte schon. Ein dicker, ihm völlig unbekannter Mann saß ihm gegenüber am Feuer und grinste gutmütig. »Wer bis du denn?«

    »Haki.« Der Mann strecke ihm seine Flosse entgegen. »Haben uns gestern Abend kennengelernt. Hast mir von deiner Alten erzählt.« Wieder dieses Kichern.

    Kjartan spürte, dass er rot anlief, und räusperte sich, während er sich aufsetzte. »Ich bin Kjartan«, sagte er und schlug in die dargebotene Hand ein.

    »Weiß ich doch«, brummte Haki.

    »Ne Ahnung, ob das ðing schon angefangen hat?«

    »Neee, is‘ noch früh. Dachte, ich weck dich besser rechtzeitig. Haste Hunger?«

    Kjartan schüttelte den Kopf. Ein schlechter Einfall, der das Hämmern in seinem Kopf noch verstärkte. »Lieber was trinken.«

    Haki reichte ihm den Wasserschlauch. »Bier is‘ aus. Leider.«

    Kjartan trank ein paar Schlucke und hustete. Sein Magen bäumte sich auf. Er hastete auf allen vieren ins nächstliegende Gebüsch und übergab sich. Bier und Braten schossen aus seinem Inneren und landeten in einer unappetitlichen Pfütze zwischen seinen Händen auf dem Boden. Oh Mann, hatte er gebechert letzte Nacht. Nachdem alles raus war, hockte er sich auf die Fersen. Was war da bloß in ihn gefahren? Hatte er diesem Wildfremden tatsächlich sein Leid geklagt?

    Offensichtlich, denn Haki empfing ihn mit einem mitleidigen Blick, als er zurückkehrte und sich ans Feuer plumpsen ließ. Nun, da sein Magen leer war, bekam er doch Hunger. »Ich glaub, ich könnt was essen«, sagte er zu Haki, der prompt einen Laib frisches Brot und eine Speckseite hervorzauberte und mit seinem Dolch daran herumsäbelte. Es duftete herrlich. Sofort fühlte Kjartan sich besser.

    Während Haki das Essen vorbereitete, blickte Kjartan sich um. Überall im Nebel flackerten Feuerstellen, um die herum Menschen saßen. Seit gestern Abend füllte sich der Lagerplatz stetig. Auch jetzt noch rumpelten Karren heran, die in aller Frühe zum Gerichtstag anreisten. Heute wurden die unwichtigen Fälle besprochen wie Nachbarschaftsstreits, geplante Ehen oder Scheidungen. Erst morgen würde es richtig voll werden, wenn Mord, Totschlag und Diebstahl verhandelt wurden. Und am letzten Tag des ðings würde Jarl Ragnar verkünden, wohin die víking sie im nächsten Sommer führen würde. Kjartan hoffte, dabei sein zu dürfen, auch wenn seine Familiengeschichte ihm wenig Anlass dazu gab.

    Jarl Ragnar grollte Kjartans Onkel Eirik, weil er glaubte, dass der seinen Vater, den alten Jarl, getötet hatte. Fast drei Winter war das nun schon her. Dabei war es nicht Eirik gewesen, sondern diese Sklavin, Barabal, die ihm den Mord in die Schuhe geschoben hatte, um sich an ihm zu rächen. Eirik hatte seinen Tod vorgetäuscht, um zu entkommen, und so hatte Ragnar niemanden mehr, den er zur Rechenschaft ziehen konnte, weshalb er nun stellvertretend alle Karrssons hasste.

    Kjartan musste einen Weg finden, den jungen Jarl von sich zu überzeugen. Nie und nimmer konnte er zurück nach Hause.

    Haki reichte ihm eine Scheibe Brot mit Speck und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Kjartan langte zu und bedankte sich bei Haki für seine Gastfreundschaft.

    Dieser winkte ab. »Bist ein guter Junge. Hast mir leidgetan, wie du so allein am Feuer gehockt und gesoffen hast. Nu geh und regel deine Angelegenheiten. Je eher, desto besser.«

    Kjartan verabschiedete sich von seinem neuen Freund, bevor er zurück zu seiner eigenen Lagerstelle kehrte. Allein, dass er all seine Sachen unbewacht zurückgelassen hatte, zeigte, wie besoffen er gewesen sein musste. Wie verzweifelt. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Was sein Vater wohl dazu zu sagen hätte?

    Er hatte keine Zeit zu kontrollieren, ob noch alles da war, denn er wollte früh auf dem Platz sein, auf dem das ðing abgehalten wurde, um als einer der Ersten vorsprechen zu dürfen. Die Götter wussten, er würde kein Wort herausbekommen, wenn der Platz erst mit Schaulustigen gefüllt wäre.

    Also machte er sich gleich auf den Weg. Vorbei an Lagerplätzen, auf denen ganze Sippen gerade ihr Tagmahl einnahmen, und Marktständen, die sich noch im Aufbau befanden. Ganz in der Nähe entdeckte er einen Stand, an dem eine junge Magd frisches Brot feilbot. Der Duft kroch ihm in die Nase und brachte seinen Magen erneut zum Knurren. Hunger hatte er eigentlich immer.

    Die Haare frisst er uns vom Kopf!, hatte Grima, Großvaters dritte Frau, immer gesagt. Gut, dass sie gestorben war, bevor bei ihm alles so gründlich schiefgegangen war. Bestimmt hätte sie dazu einiges zu sagen gehabt, das Kjartan lieber nicht hören wollte.

    Er machte einen Abstecher zu dem Stand und kaufte ein kleines Brot für später. Über den Preis musste er schlucken, aber so war das nun einmal bei solchen Anlässen. Seine Mutter hätte das ganz sicher nicht gezahlt, sondern die Magd entweder in Grund und Boden gefeilscht oder sich ihre eigene Backgrube gegraben.

    Ihm fiel auf, wie viel er über seine Familie nachdachte, wie oft er sich an ihnen maß. Damit sollte ab sofort Schluss sein. Er war sein eigener Herr, es war sein Leben. Und bald wäre er frei und konnte tun und lassen, was er wollte. Zum Beispiel auf víking fahren mit Jarl Ragnar.

    »Bist früh dran, Junge«, sprach ihn einer der Männer an, die auf dem ðing für Ordnung sorgten.

    Kjartan lächelte ihm freundlich in das griesgrämige Gesicht. »Will eben einen guten Platz bekommen.«

    Der Mann blickte hinter sich in die gähnende Leere vor dem Podest, auf dem der Jarl und seine Beisitzenden Platz nehmen würden, und zuckte mit den Schultern. »Dürfte kein Problem sein. Hast du die Gebühr dabei?«

    Kjartan stutzte kurz. Dann fiel ihm ein, dass sein Vater ihm ein Säckchen mit Silberstücken eingesteckt und ihm eingeschärft hatte, er solle es bloß nicht für was Anderes ausgeben.

    »Wer beim Jarl vorsprechen will, muss die Gebühr entrichten«, betete der Mann den Satz herunter, den er an diesem Tag bestimmt noch dutzende Male sagen würde.

    »Ja. Ja, natürlich.« Kjartan nahm seinen Beutel von den Schultern und begann, darin herumzuwühlen. Dabei wurde er immer hektischer, als er das Säckchen nicht fand. Schließlich landeten all seine Sachen unter dem gelangweilten Blick des Wachmanns auf dem Boden. Das Säckchen war nicht dabei. Kjartan wurde es heiß und kalt. »Das kann nicht sein«, stammelte er. »Es war hier drin!«

    »Ohne Gebühr darfst du nur zusehen«, sagte der Wachmann gleichgültig.

    Was war das überhaupt für ein blödes neues Gesetz? War der neue Jarl etwa so ein Raffzahn? Er biss die Zähne zusammen und räumte seine Sachen wieder ein. Dann griff er an seinen Gürtel und zählte sein eigenes Silber ab. Fast seine gesamte Habe wechselte den Besitzer, wofür Kjartan eine lächerliche Holzscheibe mit einer Rune darauf in die Hände gedrückt bekam. »Bist als Erstes dran, also lauf nicht mehr zu weit weg«, sagte der Wachmann, bevor er den nächsten Besuchern entgegenging, die gerade eintrudelten.

    Mit heißen Ohren und rasenden Gedanken suchte Kjartan sich einen Platz etwas seitlich des Podests und lehnte sich gegen das Gatter. Das war doch dieser Kerl gewesen, Haki! Der hatte ihn abgefüllt und dann bestohlen. Und dann einen auf großzügig gemacht, indem er ihn zum Essen einlud. Verfluchter Mistkerl! Wenn er den erwischte! Aber der war bestimmt schon über alle Berge. Würde sich kaum auf dem ðing blicken lassen, mit Kjartans Börse in seinem Besitz. Wieder etwas, worüber sein Vater sich aufregen, was ihm Kjartans Unzulänglichkeit beweisen würde. Gut, dass er es nie erfahren musste!

    Kjartan versuchte, sich von seinem Ärger abzulenken, indem er die ankommenden Besucher beobachtete. Viele davon kannte er durch seinen Vater, einige erkannten ihn ebenfalls und wechselten ein paar Worte mit ihm, die immer mit »Und grüß deinen Vater von mir!« endeten. Kjartan ließ es über sich ergehen, aber er war froh, als der Jarl endlich die Bühne betrat und sich auf seinen Hochstuhl setzte. Ragnar war jung, im selben Alter wie Kjartan. Kjartan stellte sich vor, wie es sich anfühlen mochte, Jarl zu sein. Ragnar war durch den frühen Tod seines Vaters zu seiner Macht gelangt und niemand in Jütland hatte sie ihm streitig gemacht, weil sie seinen Vater für einen guten und gerechten Mann gehalten hatten. Und nun trug der junge Jarl die ganze Verantwortung, musste in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters treten. Beinahe tat er Kjartan leid, obwohl er zugeben musste, dass Ragnar sehr ehrerbietend aussah in seiner Lederkluft mit dem dicken, schweren Bärenpelz über seinen Schultern. Seine Miene war wie Stein. Die zwei Beisitzenden waren auch schon Vertraute Ragnars des Älteren gewesen. Im Gegensatz zu Ragnar wirkten sie abgeklärt und weniger unnahbar, sprachen und scherzten mit den in erster Reihe stehenden Männern.

    Gespannt erwartete Kjartan den Beginn der Versammlung. Seine Marke hielt er griffbereit in der Tasche. Er war noch nie allein auf dem ðing gewesen, obwohl er inzwischen ein Mann war. Es war ein gutes Gefühl, nun endlich auf eigenen Beinen zu stehen.

    Jarl Ragnar erhob sich, einer der Wachmänner, die rechts und links des Podests standen, klopfte mit seinem Stab auf den Holzboden und das Geraune der Männer verstummte. Kjartan blickte hinter sich. Der Platz war nicht einmal zur Hälfte mit Menschen gefüllt, aber es waren trotzdem viele, sehr viele, die schon so früh gekommen waren. Sein Herz machte einen Sprung und sein noch immer empfindlicher Magen vollführte eine Drehung.

    »Willkommen zum ðing!«, rief der Jarl und die Männer bejubelten ihn. Ragnar wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Ich lade euch alle als meine Freunde ein, die nächsten Tage mit mir zu verbringen. Wir werden Gericht halten, wir werden feiern. Und wir werden unsere víking planen, denn ich weiß, dass das der wahre Grund ist, warum

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