Das Grab an der Pappel
Von Jonna Bott
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Über dieses E-Book
Der Roman enthält Crime, Fantastik und Liebe, ein Konglomerat von literarischen Zutaten, das trotzdem schlüssig als Ganzes wirkt.
Jonna Bott
Jonna Bott nimmt sich immer die Zeit, um Menschen und die Motive ihres Handelns zu verstehen. Trotzdem sind die Figuren in Jonna Botts Werken stets eigenständige Charaktere und niemals Abbilder realer Personen.
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Buchvorschau
Das Grab an der Pappel - Jonna Bott
Inhaltsverzeichnis
Das Grab an der Pappel
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Impressum
Das Grab an der Pappel
von Jonna Bott
Cover: Jonna Bott
1.
Seit heute morgen hatte Alex das starke Gefühl, dass sich ihr Leben verändern würde.
Es begann bereits beim Aufstehen. Sonst vertrieb sie mit dem Öffnen der Augen energisch den nächtlichen Traumschleier, der noch den schlaftrunkenen Geist verwirrte und erhob sich rasch.
Doch an diesem Tag war es anders. Ein vager Druck lastete nicht nur auf dem Kopf, sondern auf dem gesamten Körper und sorgte für ein leichtes Unwohlsein.
Alex überlegte. Wurde sie etwa krank? Ausgerechnet am Wochenende?
Nein. Sicher nicht. Es war etwas anderes.
Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Ihr Bild war zuerst verschwommen, dann wieder klar. Und dann sah sie…
„He, du! Kannst du nicht aufpassen?"
Alex zuckte zusammen. Sie hatte gerade wieder daran gedacht, was am Morgen im Spiegel erschienen war.
Ein etwa zehnjähriger Junge kurvte wild mit seinem Fahrrad um sie herum.
Zweimal, dreimal.
Er kostete ihre Überraschung genüsslich aus.
„Pass lieber mal selber auf!"
Sie lächelte dabei.
Der Junge drehte sich noch einmal zu ihr um, strahlte sie mit seinen großen blauen Augen an und radelte die abschüssige Straße hinunter. Durch blonde, kurze Haare schimmerte die helle Kopfhaut hindurch. Das rechte Hosenbein war beschmiert und an der unteren Kante etwas aufgerissen.
Alex vermutete, dass er damit in die Kette geraten war.
Das dunkelgrüne T-Shirt klebte durchnässt an seinem Rücken. Kein Wunder, denn an diesem Julitag stiegen die Temperaturen bereits jetzt auf 22 Grad an. Nicht einmal der stürmisch wehende Wind schaffte es, Abkühlung zu bringen.
Gerade noch rechtzeitig bremste der Junge an der Straße, ließ ein paar Autos durch und fuhr auf die andere Seite hinüber.
Rasch lief Alex weiter und stand bald darauf am Friedhof von Klarentfels.
Er lag auf der kürzesten Strecke, um zu Tante Marias Wohnung zu kommen. Alex hielt dann immer unschlüssig an dem Tor an und überlegte, ob sie die Stätte der Toten betreten sollte. Und jedes Mal entschied sich die Dreißigjährige dafür.
Als sie den Friedhof das erste Mal aus einer Laune heraus besucht hatte, war nämlich etwas passiert.
Auch damals schien die Sonne. Alex war an den Gräbern vorbei spaziert und hatte die Inschriften auf den Steinen betrachtet. Allerweltsnamen fielen nicht weiter auf, aber es befanden sich auch etliche darunter, die fremdländisch aussahen. Manche versuchte Alex leise nachzusprechen.
Woher stammten diese Leute? Wo waren sie geboren? Was hatten sie erlebt? Wie waren sie gestorben?
Tante Maria erzählte oft von den Umsiedlern, die nach dem zweiten Weltkrieg hier in der Gegend ein neues Zuhause fanden. Sie kamen aus den ehemaligen Ostgebieten und hatten alles verloren. Durch schlimme Erlebnisse traumatisiert, waren die Leute froh gewesen, dass sie wenigstens überlebt hatten.
Etwas abseits von den Gräbern stand ein langgezogener Schuppen aus Ziegelsteinen. Die schwarze Tür, die jeden Sonnenstrahl in sich aufzusaugen schien, war unheimlich. Drinnen hingen diverse Gartengeräte und Gießkannen an eisernen Haken. In einer Ecke standen etliche Spaten. Jeder Besucher konnte sich dort bedienen. Die Friedhofsverwaltung rechnete damit, dass alle Besucher die Geräte wieder zurückbrachten. Scheinbar hatte das bis jetzt gut geklappt, denn sämtliche Haken waren am späten Nachmittag immer belegt.
In der Nähe des Schuppens befand sich eine Pappel, die auffiel, weil der Friedhof sonst voller Buchen war. Davor lag ein kleiner, unscheinbarer Erdhaufen. Wild wuchernder Efeu bedeckte ihn wie eine schützende Decke. Gierig umschlangen die Triebe der Pflanzen die schwarzen Klumpen und vermischten sich am Rand mit dem Gras.
Es gab keinen Grabstein. Kein Hinweis verriet, wer unter der Erde verborgen lag. Nichts. Da war nur diese Erhebung.
Aus irgendeinem Grund war sich Alex sicher, dass darunter ein Mädchen ruhte. Es war gewiss nicht älter als zwei Jahre. Das Gefühl war stark, sie konnte ihm vertrauen. Auch bildete sie sich ein, dass da immer jemand kaum hörbar rief und bettelte.
Wenn Alex jedoch wieder ihren Verstand einschaltete und die Wahrscheinlichkeit prüfte, dass ausgerechnet hier ein Kind begraben lag, trat die Empfindung in den Hintergrund und die Stimme verschwand.
Dauernd stritten sich Intellekt und Bauchgefühl um die Vorherrschaft. Schließlich gab es eine Einigung und beide schlossen einen Kompromiss. Draußen überwog die Logik, auf dem Friedhof siegte die Inspiration, die Eingebung.
Meistens.
Ja! Die Tote war ein Mädchen.
Wahrscheinlich.
Aber warum pflegte niemand das Grab?
Gab es denn keine Eltern, Geschwister oder Großeltern?
Ein Rätsel, das Alex nicht lösen konnte.
Sie kam dann noch oft hierher.
Niemand fragte. Die anderen Leute grüßten höflich, ließen sie sonst aber in Ruhe.
Zum Glück wusste Tante Maria nichts von dem Grab. Sie würde sowieso nie begreifen, was ihre Nichte hier tat.
Alex verstand sich selbst kaum. Welche normale Frau ging auf den Friedhof, um die Ruhestätte eines unbekannten Kindes zu betrachten?
Trotzdem konnte Alex diesem Drang nicht widerstehen. Er zerrte an ihr und zwang sie dazu, an diesen Ort zu kommen.
Geschah das aus morbider Neugierde? Regte sie etwa die Fantasie an und öffnete verborgene Kammern in den Tiefen des menschlichen Geistes?
Alex wusste es nicht.
Später stellte sie einen Topf mit Eisblumen in das Gestrüpp. Dann wurde es eine Schale.
Die Frau wurde mutiger. Rigoros entfernte sie den Efeu und riss ringsherum das Gras aus.
Langsam verwandelte sich das verwilderte Grab. Die Umrandung wurde sichtbar. Unter dem Efeu lag schöner Kies, der erst jetzt zur Geltung kam. Das Grab wurde hübsch.
Alex erfreute sich an ihm. Die Arbeit war keine Last, sondern entsprang diesem merkwürdigen Bedürfnis, das sie nicht begriff.
Morbid.
Na, klar!
Eines Tages geschah es, dass jemand sie ansprach. Ein riesiger Mann schritt in leicht gebückter Haltung, als wolle er sich dadurch kleiner machen, die Gräberreihen entlang.
Plötzlich stand er neben Alex.
„Wer ist es bei Ihnen?"
„Meine Cousine."
Die Lüge kam ganz einfach über ihre Lippen, so dass sich die Frau wunderte. Sie lächelte ihr Gegenüber unsicher an.
„Bei mir ist es der Sohn."
Schmerz erschien auf dem fremden Gesicht. Er nistete sich in den Falten ein, in den Mundwinkeln. Die Augen wurden dunkel.
Alex bekam ein schlechtes Gewissen. Der andere fühlte echten Kummer. Und sie? War sie nicht eine Hochstaplerin, die bloß vorgab, zu leiden?
Der Mann wandte sich ab und ging weiter.
Mit gemischten Gefühlen sah Alex ihm nach.
Ihre Cousine. Natürlich. Wer konnte schon das Gegenteil beweisen?
Alex hatte jahrelang in Gneisberg, in einem Plattenbau auf dem Anger gewohnt.
Die einzige, die in Klarentfels wusste, dass sie keine Cousine besaß, war Tante Maria. Die ahnte nichts von dem Grab.
Und nichts von der Lüge.
2.
Auch an diesem Sonnabend öffnete Alex wieder das Tor. Es war eigentlich zu früh. Das geschäftige Treiben der Besucher, die ihre Blumen gossen und das Unkraut zupften, hatte noch nicht begonnen. Heute war sie wohl die erste.
Alex betrat den Friedhof und spürte, wie Ruhe in ihre Gedanken einzog. Neben dem Weg lag ein Notizbüchlein mit grünem Einband. Kopfschüttelnd hob sie es auf und blätterte darin herum. Daten, die ihr nichts sagten, waren fein säuberlich in ihm verzeichnet.
Wer mochte es wohl verloren haben?
Umständlich verstaute sie es in ihrem Rucksack. Nachher würde sie den Leuten der Friedhofsverwaltung Bescheid geben. Vielleicht meldete sich jemand, der es vermisste?
Langsam ging die Frau weiter, musterte die Grabsteine und rechnete anhand der Daten nach, wie lange die Leute gelebt hatten. Schon entdeckte sie den Schuppen mit den Gartengeräten darin. Er sah heute noch bedrohlicher aus als sonst, weil der hintere Teil im Schatten einer riesigen Buche lag.
Plötzlich schreckte Alex hoch. Auf dem Boden neben dem kleinen Grab lag zusammengeknüllt ein blaues Top. Es störte die Harmonie der friedlichen Stätte und passte noch weniger an diesen Ort als das Notizbüchlein.
Verwundert hob Alex das Kleidungsstück auf.
Größe 36. Es sah neu aus, obwohl der linke Träger abgerissen war. Seitlich befanden sich unregelmäßige rote Flecken drauf. Sie waren noch feucht.
Langsam dämmerte ihr, dass es Blut sein musste.
Entsetzt ließ sie den Stoff fallen und schaute sich um.
Ein nacktes Bein guckte seitlich hinter einem Grabstein hervor.
Alex trat näher. Ihre Sinne, hellwach, nahmen alles wahr. Den Geruch nach Trockenheit und Staub, das Geschrei der Krähen, die sich auf dem Hauptweg um etwas Fressbares stritten und den ekligen Geschmack von Blut, weil sie sich eben auf die Zunge gebissen hatte. Deutlich hörte die Frau auch das Geräusch, welches ihre Schuhe auf dem Boden machten. Es klang eigenartig hell und erschreckte sie.
Dann stand sie vor der Leiche. Das sichtbare Bein war rasiert. Akkurat aufgetragener blauer Nagellack betonte die zierlichen, nackten Zehen, deren Nägel in gerader Linie geschnitten waren. Die Fußsohle war dreckig.
Das andere Bein lag unnatürlich verrenkt unter der Kniekehle.
Ein dunkelblauer Jeansrock verdeckte die Schenkel. Es sah aus, als habe ihn jemand absichtlich so drapiert.
Der nackte Oberkörper war voller Blut. Alex sah die Einstiche. Automatisch zählte sie.
Eins, zwei, drei…
Die Zähne klapperten aufeinander. Das Herz raste.
Es war der Schock, die Reaktion auf diesen schrecklichen Anblick.
Trotzdem konnte Alex nicht wegsehen.
Die Tote war noch jung, etwa 20 Jahre alt. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkte grau. Dunkle Schatten im Wangenbereich verrieten, dass man die Frau geschlagen hatte.
Der rechte Arm lag angewinkelt auf der Hüfte. Auch auf den Fingernägeln glänzte blauer Nagellack.
Was hatte die Ärmste bloß durchgemacht?
Alex konnte sich nicht rühren. Es waren nur ein paar Sekunden vergangen, ihr erschienen sie wie Minuten.
Der Wind fuhr über die Gräber und ließ die Blätter der Bäume und Sträucher rascheln.
Plötzlich krümmte sich der Zeigefinger der vermeintlich Toten.
Die Bewegung elektrisierte Alex, denn sie hatte sie am frühen Morgen im Spiegel gesehen.
Fing das etwa alles wieder an?
Den Gedanken verdrängen! Schnell!
Die Frau lebte noch. Sie brauchte Hilfe, einen Arzt. Das war wichtiger.
Wie war der Notruf?
Die Nummer stand in ihrem Handy.
Endlich, nach einigen langen Sekunden meldete sich jemand.
Die Stimme des Mannes versprach, gleich jemanden vorbei zu schicken.
Hoffentlich!
Zitternd steckte Alex das Handy weg und wandte sich der Verletzten zu.
Die Wunden waren grässlich. Den Körper in eine stabile Seitenlage zu bringen, machte keinen Sinn. Vielleicht richtete eine veränderte Lage sogar noch mehr Schaden an.
Die Fremde hielt ihre Augen geschlossen.
Voller Mitleid ergriff Alex die Hand der Frau. Was für zarte, mädchenhafte Finger sie doch besaß! In ihrer alabasternen Blässe wirkten sie wie das Kunstwerk eines talentierten Bildhauers, das jemand mit roten klebrigen Flecken besudelt hatte.
„Hallo, Sie! Hören Sie mich? Wer hat Ihnen das angetan?"
Langsam, die Augen immer noch geschlossen, drehte die Fremde den Kopf zu ihr herum und blieb regungslos liegen.
In so einem Fall musste man die Verletzte beruhigen, deshalb plauderte Alex drauflos. Das Brabbeln war wie eine Brücke. Sie transportierte Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht.
Die Stimme zitterte nicht. Sie streichelte und überzeugte, obwohl Alex in ihrem Innern aufgewühlt war. Doch nichts von dem Grausen, der Furcht, dem Entsetzen drang nach außen.
Die Redende war kaum sie selbst, sondern jemand anderes, der aus ihr hervorbrach, eine Schauspielerin, die ihre unbezahlte Rolle übernommen hatte.
„Es wird alles wieder gut. Glauben Sie mir! Der Arzt kommt gleich und bringt Sie ins Krankenhaus.