Wenn Leichenfresser lieben ...
Von Marius Kuhle
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Über dieses E-Book
Bei Anbruch der Nacht kommen sie an die Oberfläche.
Das Fleisch der Verstorbenen ist ihre Nahrung.
Für den Friedhofswärter Kevin gibt es nur drei Dinge im Leben: Filmmusicals, seine herrische Mutter und seinen Job.
Sein trister Alltag nimmt eine unerwartete Wendung, als drei Vandalen nachts auf dem Friedhof randalieren und nicht nur die Ruhe der Toten stören, denn unter den Totenackern dieser Welt leben die Ghule.
Als Kevin auf eine Leichenfresserin trifft, die ihn wohl schon länger beobachtet, nimmt das Schicksal seinen Lauf und eine blutig morbide Liebesgeschichte beginnt.
Marius Kuhle vermengt einen Spritzer Horror mit einem Schuss Romantik, gibt eine Prise Musik hinzu und fertig ist das Grusical über eine Horromance zwischen zwei sich Liebenden, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
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Buchvorschau
Wenn Leichenfresser lieben ... - Marius Kuhle
KAPITEL I
Für eine Beerdigung war der heutige Tag vielleicht nicht ganz so gut geeignet. Sonnig und vollkommen wolkenlos.
Die meisten Menschen nutzten das warme Wetter aus, um an den See oder in die Stadt zu gehen. Für eine kleine Gruppe von Trauernden und Hinterbliebenen bedeutete es, ein letztes Mal Abschied zu nehmen. Dunkler Anzug und Krawatte statt Badehose. Weder Eis noch Cola, dafür Kaffee und Kuchen. Kein Sonnenbaden auf der Wiese, sondern weinend in ein großes rechteckiges Loch blicken.
Im Gegensatz zu den heutigen Besuchern mochte Kevin dieses Wetter. Er arbeitete lieber bei angenehmen Temperaturen als bei Regen, Wind und Kälte.
Wie immer stand er abseits der Trauergäste mit gesenktem Blick und hatte aus Respekt seine graue Mütze von seinem wuscheligen blonden Haarschopf genommen. Mit einer Hand hielt er seine Schaufel Vanessa fest, die mit der Spitze im Erdreich steckte. Er lauschte den tröstenden Worten von Pfarrer Ittermeier, bis dieser fertig war und der zugenähte Sack in das Grab hinabgelassen wurde.
Die kleine Truppe aus Familie und Freunden verließ danach den Friedhof durch das hohe Haupttor.
Kevin nahm seine treue Gefährtin und schritt zu der Öffnung in dem strahlend giftgrünen Gras.
Sieben Fuß tief. Nicht mehr und nicht weniger. So lautete das ungeschriebene Gesetz auf diesem Friedhof. Ein mühevolles Unterfangen mit einer alten Schaufel, wo es doch moderne Handbagger gab, mit denen die Arbeit einfacher und schneller vonstattenging.
Nur war Kevin in diesen Dingen ebenso treu wie altmodisch und brachte es nicht übers Herz, seine Vanessa in den Ruhestand zu schicken und gegen ein jüngeres, besseres Modell einzutauschen.
Mit ihr hatte er sein erstes Grab ausgehoben, und sie war auch für sein letztes bestimmt.
Am Rand der Öffnung blieb Kevin stehen und sah sich das Leichentuch an, in das der Greis eingenäht worden war. Es gab teure, aufwendige Tücher, dann billige und sogar schäbige, die nicht mehr waren als alte Seesäcke.
Das gute Stück hier war aus einem feinen weißblauen Stoff mit eingesticktem Muster. Es zeigte den Stammbaum des Verstorbenen, die Namen der Familienmitglieder wuchsen wie Blätter aus den Ästen, und die wichtigsten Abschnitte in seinem Leben waren seine Wurzeln.
Kevin freute es immer, wenn sich Menschen, die zurückblieben, damit Mühe gaben, auch wenn der Stoff die Nacht nicht überstehen würde.
Er fing an, das Grab zuzuschaufeln. In der Zeit senkte sich die Sonne langsam und verschwand hinter der hohen dunkelroten Ziegelmauer des Friedhofes, die mit Stacheldraht und Glasscherben gesichert war. Auf den Ästen der zahlreichen blühenden Bäume fanden viele Krähen ihren Platz, die krächzend seine Arbeit kommentierten.
Nach knapp einer Stunde war er fertig und klopfte mit Vanessa das Erdreich fest. Mit seinem rot-weiß karierten Tuch wischte er sich über den Nacken und das Gesicht.
Kevin blieb noch einen Moment beim Grab stehen, gestützt auf seine beste und treueste Freundin. Sein Blick schweifte über seine Arbeitsstelle.
Es war ein überaus weitläufiger, sehr alter Friedhof. Die ersten Gräber mit ihren fast vollständig verwitterten Grabsteinen, stammten noch aus dem späten Mittelalter. Seither war der Ort stetig gewachsen. Jedoch nicht systematisch, sondern eher wild wuchernd wie Unkraut.
Kaum eine Außenmauer verlief wenige Schritte gerade. Die verschiedenfarbigen, scharfkantigen Glassplitter darauf glitzerten wie zerbrochene Teile des Polarlichts, das durchzogen war von dem kalten Grau des Stacheldrahtes.
In dieser Wildnis aus Grabsteinen, Mausoleen, Statuen und Grüften, die jetzt in das rotgoldene Licht der untergehenden Sonne getaucht waren, konnte man sich leicht verirren. Die gepflasterten grauen Pfade bahnten sich in Schlangenlinien ihre unebenen Wege in den abschüssigen Teilen und Anhöhen. Viele der Hecken waren so groß und dicht wie die Wände eines Labyrinths, nur nicht so ordentlich geschnitten, und durch die wild gewachsenen Büsche gab es teilweise auch kein Durchkommen.
Seit fünfzehn Jahren hegte und pflegte Kevin den Friedhof, so gut es ging, hielt ihn einigermaßen ordentlich, und sein Eifer hatte in der Zeit nie nachgelassen.
Während er die Schönheit seines Arbeitsplatzes einmal mehr bewunderte, spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen sachte, doch bemerkbar vibrierte.
Aufgescheucht flatterten die meisten Krähen davon, und nur der Wind raschelte in den Kronen der Zedern.
Ein altersschwaches Steinkreuz wackelte ein wenig. Das waren die gewohnten Zeichen, dass sie anrückten, die Wesen, die unterhalb der Erde existierten.
Tagsüber hielten sie sich bedeckt, beim Anbruch der Nacht oder wenn das gewohnte Klopfen von Vanessa, das für die Kreaturen eine Art Gongschlag zum Essenfassen war, erklang, kamen sie. Denn der Friedhof war nicht nur die letzte Ruhestätte der Toten, er war die Heimat der Ghule.
Man fand sie unter jedem Totenacker weltweit, und sie ernährten sich vom Fleisch der Leichen. Menschen wurden geboren, sie lebten, sie starben, ihre sterblichen Überreste wurden von den Leichenfressern verspeist. Das war die natürliche Ordnung. So war es schon immer gewesen, und niemand konnte sich vorstellen, dass es anders war oder sein könnte.
Obwohl die Menschen und Ghule seit Anbeginn der Zeit koexistierten, wusste niemand Genaueres über sie. Wie sahen sie aus? Von woher stammten sie ursprünglich? Wie viele lebten in ihren Nestern oder Bauten? Wie weit erstreckte sich ihr Reich in der Tiefe? …
Natürlich hatte es immer wieder Versuche gegeben, mehr über diese Spezies herauszufinden, doch mehr als wackelige, verwaschene Videoaufnahmen und unscharfe, kaum erkennbare Fotos hatte es nie gegeben. Dafür rankten sich zahllose Theorien, Mythen und Legenden über sie.
In der westlichen Religion waren sie ein Nebenprodukt von Gottes Schöpfung, die nur dafür existierte, die sterbliche Hülle wiederzuverwerten, während die Seele in das Himmelreich übersiedelte.
Evolutionstheoretiker behaupteten, sie stammten entweder von einem anderen Zweig der Menschheitsentwicklung ab oder waren überhaupt nicht mit ihnen verwandt.
Angeblich streiften die Leichenschmatzer nachts auch über die Schlachtfelder dieser Erde, um sich an den Gefallenen zu laben. Andere behaupteten, der Mensch hätte sie mit seinen Großstädten aus ihrem natürlichen Lebensraum vertrieben, und deswegen gab es scheinbar auf dem Land mehr Ghule als in den Städten. Der Freund eines Freundes hatte mal einen im Wald gesehen, und wenn irgendwo wieder einmal ein Haustier verschwand, wurde es natürlich in der Nähe des Friedhofes zuletzt gesehen.
Kevin war Anfang zwanzig gewesen, als ihm die Verantwortung für den Friedhof übertragen wurde, und seitdem, in all den Jahren, hatte er noch nie auch nur einen einzigen Ghul zu Gesicht bekommen. Nur ihre Hinterlassenschaften ab und an am Morgen: Kratzer und Krallenwetzspuren an umgestoßenen Grabsteinen, aufgewühlte Erde, niedergetrampelte und völlig zerstörte Blumenbeete, abgenagte Knochen, blutige Fleischüberreste … und natürlich ihren Kot.
In den meisten Fällen zogen die Ghule ihre Nahrung in ihr unterirdisches Reich, doch gelegentlich, vor allem in bewölkten, besonders dunklen, sternenlosen Nächten, kamen sie an die Oberfläche und hielten dann laut und hörbar ihr Festmahl ab mit schrillem, hysterischem Lachen samt Fresslauten.
Jedoch waren die Ghule harmlos. Sie taten den Lebenden nichts, und die taten ihnen nichts.
Die Mauern und Sicherheitsmaßnahmen dienten mehr dazu, Verrückte und Spinner draußenzuhalten, die unbedingt mal einen Friedhofsbewohner fangen oder fotografieren wollten.
Kevin stopfte das Tuch in seine Jeans zurück und trottete mit Vanessa auf der Schulter pfeifend zum Tor.
Die metallischen Stäbe der riesigen Pforte liefen spiralförmig ineinander über. In der Mitte war je ein Kreuz eingelassen. Kevin griff in seine Hosentasche, fand aber zunächst seine Schlüssel nicht. Sein mattgoldenes Zippo Feuerzeug, um die Grablichter anzuzünden, war noch in der Tasche, doch vom Schlüsselbund fehlte jede Spur.
Seufzend warf er den Kopf in den Nacken und spürte die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages auf seinem Gesicht. Sicher waren sie aus seiner Tasche gefallen, als er das Tuch herausgeholt hatte.
Er lehnte Vanessa gegen das Tor und eilte den Weg zurück. Die ersten Sterne zeichneten sich am dunkelblauen Himmel ab. Der frische Wind nahm stetig zu und ließ den Stacheldraht wispern.
Kevin beschleunigte sein Tempo etwas, denn er wollte nicht mehr hier sein, wenn die Nacht anbrach. Nicht dass er glaubte, die Ghule würden sich gerade heute an die Oberfläche trauen, nur warum sollte er sein bescheidenes Glück im Leben auf die Probe stellen?
Von Weitem sah Kevin seine Schlüssel im Gras funkeln. Er hob sie auf und zählte sie instinktiv nach. Alle waren da, doch etwas fehlte. Sein Anhänger. Ein großer neongrüner Skarabäus mit hellblauen Linien befand sich nicht mehr am Bund.
Kevin sah sich um, ging in die Hocke, konnte ihn aber zu seiner Überraschung nicht finden. Wie ist es möglich, dass sich ein Anhänger löst und spurlos verschwindet, wenn sich jeder Schlüssel noch am Ring befindet?
Er schob das Gras zur Seite und suchte sogar etwas weiter vom Grab entfernt, doch der Skarabäus blieb verschwunden.
Resigniert sah er hoch zum stetig dunkler werdenden Himmel. Die silbrige Mondsichel nahm immer deutlicher Kontur an. Plötzlich glaubte er, dass es in den Büschen und Sträuchern raschelte, obwohl der Wind dafür zu schwach war.
Er beschloss, die Suche auf morgen zu verschieben. Das Licht war jetzt ohnehin zu schlecht. Und es hatte nichts mit diesem aufkeimenden beklemmenden Gefühl zu tun, beobachtet zu werden.
Noch einen Takt schneller als zuvor eilte Kevin zum Tor zurück, schloss hinter sich ab und ging nach Hause.
KAPITEL II
Das Haus lag direkt an der Friedhofsmauer. Es war ein wenig heruntergekommen, windschief und schien sich dadurch ächzend und stöhnend gegen die Mauer zu lehnen. Der graue Schornstein bröckelte. Dem goldbraunen Schieferdach fehlten viele Tafeln. Das abgestorbene, knochige Gestrüpp aus Ästen und Ranken der Kletterpflanzen hatte sich tief in die kastanienfarbige Außenmauer gegraben.
Im Inneren des kleinen Gebäudes wurde es nie richtig hell, egal ob die dunklen, schweren Samtvorhänge zugezogen waren oder nicht. Jedes einzelne Möbelstück war alt und schien eine eigene Geschichte erzählen zu können. Selbst der Fernseher war ein Dinosaurier aus der Vorzeit. Ein Röhrenkasten mit Knöpfen zum Umschalten. Die farblose, geblümte Tapete blätterte an manchen Stellen schon ab.
Zu gern hätte Kevin wenigstens ein paar der Schäden behoben. Er scheute sich auch nicht vor der Arbeit, nur vor den Veränderungen, die so etwas mit sich brachte, und lieber hörte er zum millionsten Mal in seinem Leben die vierte Treppenstufe knarren, als die Erinnerungen und Gefühle dadurch auszulöschen, wenn er sie ersetzte.
Er hatte mit dem morschen Holz, den Rissen, den Löchern und den undichten Fenstern zu leben gelernt wie mit der Gewissheit, dass dieses Haus und der Friedhof das Zentrum seiner Welt waren. Der Friedhofswärter war auch noch nie weiter als bis zur Nachbarstadt gekommen. Seine Verpflichtungen ketteten ihn an diesen Ort und bestimmten sein Schicksal.
Kaum hatte Kevin die von Wind und Wetter ausgebleichte Haustür geöffnet, rief seine Mutter von oben herab: »Kevin!«
Ihre brüchige, helle Stimme hallte durch das Haus und war so angenehm wie quietschende Kreide auf einer Schiefertafel.
»Ja?«, fragte er und hängte seine Mütze und die dünne Jacke an die Haken.
Als nichts weiter kam, schnürten sich augenblicklich Brust und Magen bei ihm zu, und er eilte die Treppe hoch. Immer zwei Stufen auf einmal, auch die knarrende.
Ihr Schlafzimmer befand sich gegenüber der Treppe.
»Kevin!«
Die Stimme war so fordernd und bestimmend wie hilflos.
Als er den Raum betrat, fand er seine Befürchtung wieder einmal eingetreten vor.
Seine Mutter lag neben dem Bett auf dem Boden. Ausgestreckt auf dem Bauch sah sie zu ihm hoch. Ihre lockigen silbergrauen Strähnen hingen ihr wirr im Gesicht. Die kraftlosen dünnen Hände krallten sich in dem Läufer fest, als müsste sie sich an den Rand einer Klippe klammern. Das Fenster stand offen, dadurch wehten die langen rosafarbenen Vorhänge sachte über ihr. Sie sah ihn so Hilfe suchend an, dass es schmerzte.
»Ich bin hingefallen«, keuchte sie.
Kevin half ihr vorsichtig hoch, dabei klammerte sie sich an ihm fest. Ihr schmächtiger Körper schien ein unglaubliches Gewicht zu beherbergen. Schnaufend stemmte er sie auf die Beine und setzte sie auf das Bett.
»Was machst du denn wieder?«
Beate glättete ihr Nachthemd. »Ich wollte mir die Beerdigung ansehen. Da bin ich dann hängen geblieben.«
»Wenn es dir nicht so gut geht, sollst du doch nicht ohne mich aufstehen.«
»Tut mir leid.«
»Ja, wie das letzte Mal und das davor.«
Bisher waren ihre Stürze vom Bett ohne Konsequenzen geblieben, abgesehen von ein paar Prellungen und Abschürfungen. Das nächste Mal konnte es jedoch anders ausgehen.
»Hast du dir auch nichts getan?« Kevin nahm ihre Hände und untersuchte sie.
Zischend wedelte Beate seine Suche ab. »Mir geht es gut. Mir geht es gut.«
Der Schwächeanfall war wie ein plötzlicher Gewitterschauer vorüber. Der Sturz hatte ihrer Stimme und dem Temperament nichts an Schärfe genommen. Sie rutschte zur Seite, damit Kevin die dicke Decke hochheben konnte, schob ihre Beine darunter, und Kevin deckte