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Geisterhäuser: Ein Mystik-Krimi
Geisterhäuser: Ein Mystik-Krimi
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eBook295 Seiten4 Stunden

Geisterhäuser: Ein Mystik-Krimi

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Über dieses E-Book

Mystik-Krimis sind an der Grenze zwischen der sachlich-realistischen Welt und dem Land des nicht Steuerbaren angesiedelt.
Locker hüpft die Erzählung über die Demarkationslinie, einmal kritische Vernunft und man kann über skurrile Situationen lachen, dann das andere, das nicht zu fassen ist, das Grauen.
So stellt sich hier die Frage, was ist ein Teufel? Der, der mit dem Nikolaus kommt, wie ein haariges, bissiges Haustier, Hitze und Sex, ein Wutzel, vielleicht eine Habergoas mit drei Beinen und Federn, oder hat er ein menschliches Gesicht?
Woran erkennt man ihn? An Bocksfüßen? An einem Loch, wo Menschen eine Seele haben?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Sept. 2016
ISBN9783738085471
Geisterhäuser: Ein Mystik-Krimi

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    Buchvorschau

    Geisterhäuser - Sanne Prag

    NACHMITTAG

    Der junge Mann stapfte über das Hochplateau, flach, steinig, spärlich mit blassem Gras bewachsen, wie Schamhaare einer Jungfrau, dachte er. In dieser Arena der Ereignislosigkeit, vom blaugrauen Kamm der Berge eingeschlossen, spielten seine Gedanken vor allem mit Jungfrauen und mit Machtfantasien.

    Die Fläche war belegt mit runden, dunklen Steinen, abgeschliffen, als ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hätte. Überblick soweit das Auge reichte. Nicht einmal ein türkischer Ziegenhirte konnte sich hier verstecken. Ein unerwartetes Erlebnis für den Menschen der Großstadt, utopisch. Hier sollte es eigentlich Kornkreise geben, nur mangels Korn mussten die Außerirdischen in Steinkreisen landen. Er war seit Stunden keinem Menschen begegnet. Ein erhabenes Gefühl, wie der erste Mann auf dem unberührten Sand des Mondes. Vielleicht wie Gott, bevor er beschloss, die Welt zu erschaffen - um Gesellschaft zu haben? Ezra hob einen Stein auf und ließ ihn mit aller Gewalt, die er aufbringen konnte, niedersausen. Der Stein war Kopf groß und ziemlich schwer. Er spürte etwas in seinen Muskeln. Ohne Erschütterung sah er auf die Trümmer nieder – er hatte gerade einen Teufel erschlagen. Er freute sich an seiner Kraft und betrachtete das nicht als Omen. Er wusste ja nicht, was kommen sollte. Doch als er an sich hinunter blickte sah er Blut. Viel Blut quoll aus einer Wunde ober dem Knöchel. Ein scharfes Stück des zerberstenden Steines hatte ihn getroffen und er hatte es zuerst nicht bemerkt. Langsam erreichte ihn auch der Schmerz.

    Am Himmel hing eine Wolke, die nahm die Form einer riesigen Spinne an. Wirklich eine seltsame Wolke.

    In dem Steinkamm der Berge war ein Loch. Dahinter sah er nur blauen Himmel. Eine Falle? Ein Fenster ins Glück? Er kletterte unter Schmerzen steil hinauf, schließlich stand er an der Schwelle. Hinter ihm blieb eine Blutspur, vor ihm, im Jenseits, fiel ein Hang sanft in die Tiefe. Eine Wiese, saftig, weich und grün, darunter ein Weiher – so nennen es die Romantiker. Der Realist nennt es Wasseransammlung, was Ezra für einen ziemlichen Verlust hielt.

    Um das Wasser lagen ein paar Häuser, eine kleine Gruppe, aber keinesfalls Gehöfte. Es waren Kunstwerke. Jedes von ihnen – deshalb passte keines zum anderen. Jedes lebte getrennt in seiner Schönheit, fremd zum nächsten. Alle schienen ziemlich groß. Es waren vier – vier Anwesen, die seltsamste Gesellschaft, die ihm je begegnet war. Die gewohnte Kirche fehlte. Der Patriarch, der alles zusammenhält, war nicht da. Als er näher kam, war der Abstand der Gebäude größer als gedacht. Sie wollten sich nicht gegenseitig beschützen, sich nicht anlehnen. Betteln um Hilfe – das Letzte! So standen sie da und schauten ihm milde interessiert entgegen.

    Ezra lief den Hang hinunter und wurde dabei immer schneller. Die Schmerzen wollte er nicht zur Kenntnis nehmen. Die Häuser wuchsen mit jedem Schritt. Er erreichte das erste und legte schwer atmend die Hand auf die Mauer, besitzergreifend. Der Unterbau war aus großen Steinen geschichtet. Darüber zwei Stockwerke aus Holz, aber nicht nur Bretter und Balken. Nein. Holz im Sinne von Spitzenmustern, Zinnen, Türmchen, gedrehten Wunderwerken der Tischlerkunst. Hölzerne Dachrinnen mit Adlerköpfen standen weit über den Bau hinaus. Unter jeder hatte das herabstürzende Regenwasser tiefe, steinige Gruben hinterlassen. Eine Treppe führte zur Türe. Hinter den Fenstern hingen alte Spitzen, kein Kaufhaustand, Echtes. Ein Vorhang bewegte sich. Aha, die Neugier hinter dem Schutz! Da war jemand, der nicht gesehen werden wollte. Ezra schaute sich um, aber zwischen den Häusern war kein Mensch. Ein wenig unschlüssig blieb er stehen. Was wollte er da eigentlich?

    Er wollte hinein. Wer baute so teure Anwesen in solcher Höhe? Wer schuf hier statt Almhütten Schlösser?

    Müde Wandersmänner konnten um Wasser, Milch und Zimmer bitten. Wollte er das? Ja, er wollte, denn er hatte nicht die geringste Lust, gleich wieder abzusteigen. Sein Knöchel fühlte sich nicht gut an. Er wünschte sich, am Berg zu schlafen. Also klopfte er beherzt.

    Es rührte sich gar nichts. Ezra lauschte auf das Scharren eines Fußes, ein Wort, ein Schlüsselklirren, aber es war absolut still. Nichts von draußen. Nichts von drinnen. Die hinter dem Vorhang wollte ihn nicht! Vielleicht war sie behindert, konnte nicht zur Türe gehen? Vorsichtig drückte er die Klinke nieder – kein Einlass. Es war zugeschlossen.

    Es gab noch eine kleine Holztüre rückwärts, die war auch verschlossen.

    Er sah zu den anderen Häusern hin. Da war eines kaisergelb gestrichen, barock wie ein Jagdschloss. Dann ein rotes, das erinnerte ihn an eine Fabrik, und in einiger Entfernung, bei der saftig grünen Wiese, eine Häusergruppe, die schien um einen Hof gebaut, mit Kreuzgängen entlang der Blöcke. Es sah ein wenig aus wie ein Kloster. Er wanderte im Kreis zwischen den Gebäuden. In den Kreuzgängen hingen Bilder wie Kreuzwegstationen, dazwischen Türen, auch ein Fenster. Jenseits des kleinen Sees, ein Stückchen tiefer, lag eine Kapelle. Er konnte sie sehen, stand aber gerade vor einem Berg Pferdedung. Ein sauberer Kegel von Maschinen, zusammengetragen, ein perfekter Kegel. Es roch nach Pferd, aber er konnte keines sehen.

    Da war niemand. Kein Mensch, kein Tier. Keiner konnte ihm helfen, wenn er hier verblutete. In Selbstmitleid zerflossen blickte er an sich hinunter und registrierte, dass Blut seinen linken Schuh verklebte.

    Der bewegte Vorhang im ersten Haus ließ ihn denken, dass sich doch jemand versteckte. Spürte er Augen im Rücken? Fühlte er sich beobachtet? Genau genommen spürte er nichts dergleichen. Die Sonne spürte er, die war noch warm jetzt im August. Hunger spürte er. Er hatte noch ein Stück Käse in einem der Hosensäcke. Der „Weiher" lag ganz still in der späten Nachmittagssonne.

    Ezra ging um den Weiher zur Kapelle und schaute in den kleinen Raum. Er sah eine Mutter Gottes mit abgeschlagener Nase. Das Jesuskind saß auf ihrem Knie und hatte einen verrutschten Heiligenschein aus Golddraht.

    Aber was hatte sie da im Arm?

    In ihrem Arm lag etwas wie ein zweites Baby. Es war rau und in schmutzig schwarze Bandagen gewickelt, statt der üblichen weißen Tücher, eine kleine schwarze Mumie. Kein lächelndes Babygesicht, sondern eine kleiner Totenkopf mit der Maske eines Teufels. Es sah aus, als hätte Maria auch einen Teufel geboren, dem sie nun die Brust reichen musste. Ezra hielt sich selbst für aufgeklärt, aber der Anblick erzeugte einen kalten Strom auf seiner Haut, die sich in kleine Wellen faltete. Was war das da? Was war hier geschehen? Vier so kostbare, gepflegte Häuser und keiner da? Als ob die Pest oder der Krieg alle Bewohner ausgerottet hätte. Und die Madonnen hier hatten Teufel geboren?

    Immer neugieriger wurde er auf die Geschichte. Wieso stellte einer so kostbare Häuser hin und bewohnte sie dann nicht? Und was sollte dieses Teufelsbild im Arm der Mutter Gottes?

    Er wanderte zum Wasser und setzte sich an den Rand. Vorsichtig zog er den blutigen Schuh vom Fuß und schälte dann auch den Socken ab. Das Wasser war klar und sehr, sehr kalt und holte ihn von der Madonna zurück in diesen seltsam mystischen Häusergarten. Er wartete, dass die Pferde von der Weide kamen, oder die Beobachterin – sein Vorurteil, es wäre eine Frau – ihren Vorhangplatz verließ. Dass irgendjemand aus einem der Häuser trat. Still wie eine Fata Morgana war der Ort – Kostbarkeiten zum Wohnen ohne Menschen drin. Schließlich wurde es dämmrig und damit empfindlich kalt. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Wenn sich jemand nicht sprechen lassen wollte, musste er bzw. sie immerhin Licht aufdrehen. Doch da war kein Licht. Die Häuser schlossen die Augen und gingen mit der Sonne schlafen.

    ABEND

    Er hatte bereits den Regenschutz aus seinem Rucksack geholt, denn der kleine See kräuselte sich nun, und er überlegte das erste Mal ernsthaft, wie er die Nacht angenehm verbringen konnte.

    Wenn er etwas gelernt hatte, so war es, Schlösser aufzukriegen. So machte er sich auf, um passendes Werkzeug für den Einbruch zu suchen. Er würde diese fremden Häuser für sich erobern, und wenn es nur für eine Nacht war.

    Hände und Füße tasteten in der Dämmerung nach einem Nagel. Rund um den Bagger und im Hof. Das brauchte er für einen ordentlichen Einbruch. Seine Tante Rena hatte zu seinem Lernprozess in Sachen Schlösser nicht unwesentlich beigetragen. Sie hatte die Gewohnheit, interessante Dinge in Kästen zu sperren und laut und deutlich zu sagen: „Lieber Ezra, das ist auf keinen Fall etwas für dich." So sah er sich genötigt, einzubrechen, ein Übungsprogramm seiner Kindheit.

    Glucksende Heiterkeit kam mit der Erinnerung: Tante Rena hatte mit einer Zeitschrift vor seiner Nase gewedelt, auf dem Titelblatt ein nacktes Mädchen, das schenkte ihm jenen Blick, den sie und der Fotograf für ein Sexversprechen hielten, eine Aufforderung, sich den Möglichkeiten sexueller Freude im Blattinneren hinzugeben, damals eine wesentliche Beschäftigung für Ezra. „Das, so sagte Tante Rena, „ist nichts für dich, und sperrte die begehrten Bilder in den Küchenkasten. Ezra holte damals das erste Mal den Schraubenzieher, um die Rückwand abzuschrauben.

    Doch diese Komplikationen fanden ein Ende, als Wolfgang in sein Leben trat.

    Wolfgang war das Kind, gegen das alle Eltern Vorbehalte hatten. Mutter und Tante Rena erklärten ihm lang und breit, dass Wolfgang keinesfalls ein Umgang für ihn sei. Die Familie von Wolfgang - vor allem der Vater - sei - ein Naserümpfen von beiden - sehr zweifelhaft. Das bewirkte, dass Ezra am nächsten Tag die Nähe von Wolfgang suchte und fand. Es brauchte nur einige Großzügigkeiten, und Wolfi war sein Freund. Wolfi war jedes Bonbon, jedes Taschenmesser, jedes Päckchen Spielkarten wert, denn sein Vater konnte Schlösser knacken, und Wolfgang hatte so Zugang zu Möglichkeiten, von denen Ezra immer geträumt hatte.

    Er fand hinter dem Jagdschloss auf der Erde einen großen Nagel. Es war schon sehr dunkel. Er musste ihn mehr fühlen, als er ihn sah. Mit einem Stein klopfte er ihn in die richtige Form. Die Entscheidung traf er schnell. Er ging zu dem Haus, das er als erstes berührt hatte, und es dauerte nicht lange, so hatte er die kleine Türe an der Hangseite offen.

    Vor ihm lag eine düstere Halle. Falls ein Mensch da war, würde er ihn oder sie gleich treffen. Er tastete nach dem Lichtschalter – wahrscheinlich war der Strom abgeschaltet.

    Aber es wurde Licht. Über ihm erstrahlte ein mächtiger Lüster mit vielen Lampen und Elchgeweih. Ein leeres Kaminloch, tote Reste eines Hirsches darüber. Eine schöne breite Holztreppe wand sich in den ersten Stock. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Es bewegte sich nicht wirklich etwas, aber war da nicht gerade jemand nach oben gelaufen?

    Er hatte den Eindruck einer Gestalt auf dem Weg in den ersten Stock.

    Er schaute hinauf, konnte aber keinen über der Balustrade sehen. Es war absolut still. Die Treppe hatte nicht geknarrt. Kein Laut von draußen, keiner von drinnen.

    Er lief in den ersten Stock, um zu schauen, ob da vielleicht doch einer war, begann sehr laut aufzutreten, für den Fall, dass da tatsächlich jemand nach oben gelaufen war. Er brüllte: „Ist da jemand?!" Er wollte keine Überraschungen. Schweigen antwortete ihm. Da sah er oben am Treppenabsatz neben einem roten Teppich am Boden die Kontur eines Menschen. Weißlich über dem dunklen Boden. Kein Körper drin, nur die Kontur. Reste einer polizeilichen Untersuchung. Ein Mord? Wer war hier umgebracht worden?

    Er schreckte zurück. Er wollte das da jetzt nicht. Er wollte friedlich ein fremdes Haus bewohnen. Dieses Haus aber war vom Geist einer Ermordeten bewohnt. Das war belastend. Plötzlich fühlte er sich müde.

    Er ging die Treppe hinunter. Schwerfällig. Er hatte das Gefühl, er sah schlechter, der Raum schien dunkler als noch vor ein paar Minuten. Er machte die erste Türe auf, denn sie führte wohl in das Zimmer, in dem sich der Vorhang bewegt hatte. Er erkannte die Spitzenvorhänge sofort und sah zwei Fenster. Das Licht von der Halle schien hinein, der Elchlüster strahlte durch das Rechteck der Türe. Jetzt hätte er schwören können, dass sich der andere Vorhang bewegte, aber da war keiner. Ein großer, übersichtlicher Raum, untertags wohl sonnig hell. Er ging hinein und sah im Gegenlicht eine dicke, ungestörte Staubschicht auf dem Tisch. Schwere, dunkle Kästen, ein Gobelin an der Wand. Da war schon lange keiner mehr gewesen. Nur durch das Öffnen der Türe gab es Elfen. Er nannte das seit seiner Kindheit so, wenn feiner, glitzernder Staub im Licht aufschwebte. Tante Annas Sterbezimmer fiel ihm ein.

    Er ging jetzt leise. Das alte Haus wollte er nicht beunruhigen, die Toten auch nicht. Wenn keine anderen Menschen da waren, das Haus nicht beschützen konnten, wollte er nichts berühren, was nicht sein musste, sanft, nur schauen.

    Die nächste Türe führte zu einer Küche – und was für eine Küche! Eine wundervolle Küche. Ein langer Raum. Plötzlich fühlte er sich wie nach einer Sintflut gestrandet. Er hatte Hunger wie ein Wolf.

    Am Boden waren rote Steinplatten, in der Mitte des Raumes ein wunderschöner Birnholztisch mit dicker, quadratischer Platte, ein moderner Herd, die teuerste Variante. Gewölbebögen überspannten den Raum, dahinter ein Alkoven mit großem, breitem Fenster und einem einsamen Schaukelstuhl. Eine geliebte Küche. Eine persönliche Küche. Hier war an nichts gespart worden, nichts hineingetragen, das man nicht haben wollte. Ein anspruchsvoller Bauch wollte sich hier den Genüssen des Essens und Trinkens hingeben.

    Die Tote im ersten Stock konnte das alles nicht mehr benützen. Er hatte das sichere Gefühl, dass der Geist, der den Vorhang bewegt hatte einer Frau gehörte. Sie war ermordet worden und schlich jetzt noch durch ihre Räume. Vielleicht hatte sie ihn erwartet? Vielleicht freute sie sich über Besuch? Niemand hinderte ihn, die Pracht gehörte ihm und ihm allein. Von der Küche führte eine Türe in eine Speisekammer. Die Spinnennetze klebten an seinen Fingern, als er den Lichtschalter drehte. Feuchtschutzschalter – das Licht zeigte einen gedrungenen Raum, etwa wie ein Wohnzimmer in einem Gemeindebau mit schweren tiefen Balken an der Decke. Von denen hing ein Speckstück und weiter hinten ein ganzer Schinken. In Regalen stapelten sich Pakete. Ganze Reihen von Marmeladen und Kompotten, Dosen mit geräucherten Austern, eine mächtige Tiefkühltruhe, die leise surrte. Man konnte es nur hören, wenn man direkt daneben stand.

    Sie war gestorben und hatte die Pracht zurückgelassen im Leben, dachte Ezra und öffnete eine Dose Austern. Er fand ein Glas kleiner Kartoffeln und bewunderte seine Bescheidenheit im Anblick dieser Angebote. Nein, er berührte den prachtvollen Schinken nicht, er nahm nur, was mehrmals zur Verfügung stand. Schließlich war er Gast. Er konnte nicht mit diesem großen, schönen Damaszenermesser, das da auf dem Brett lag, über den Schinken herfallen, obwohl der Raum intensiv nach Geräuchertem roch. Er nahm das Damaszenermesser vorsichtig in die Hand. Es war so groß wie ein kleines Schwert und die Schneide war wirklich scharf, sehr scharf. Eine kleine Unvorsichtigkeit, und er würde in einen tiefen, roten Spalt an seinem Finger blicken. Das Wellenmuster spiegelte und er kam sich vor wie ein Seeräuber auf Beutezug. In seiner Hand lag eine mörderische Waffe, er fühlte sich sehr mächtig.

    Er schnitt ein ganz kleines, weghängendes Stück vom Speck ab. Nur um das Messer auszuprobieren. Das schmeckte vorzüglich. Er dachte an seine beiden Mütter, die ihm die schönsten Leckereien in mundgerechten Stücken anboten. Er, mit großer Mühe auf das stinklangweilige TV Programm konzentriert, lehnte ab. Er konnte nichts nehmen. Nein, er verweigerte gelangweilt alles. Seine Art zu zeigen, dass er stark war. Seine Kindheit war ein Leben in ständigem Hunger, denn er hatte sich angewöhnt, die beiden in Dauerbesorgnis zu halten. Ezra war in seinen frühen Jahren sehr klein gewesen, und das machte ihn ohnmächtig und mächtig gleichzeitig. Jetzt war er über diese Phase hinausgewachsen – schönes Essen bedeutete ihm etwas und dieser Raum gehörte ihm.

    Plötzlich hörte er ein Scharren aus der Halle.

    Schnell ließ er das halbe Glas Kartoffeln und die leere Austerndose in der Tiefkühltruhe verschwinden. Eine Salzlacke aus dem Kartoffelglas rann über den Boden. Leise, leise lief er zur Küchentüre und blieb dort mit Herzklopfen stehen, während er die feuchten Finger in die Hose wischte. Aber er konnte kein weiteres Geräusch hören. Vorsichtig sah er in die Halle. Da war keiner, und im gleißenden Licht wäre der nicht zu übersehen gewesen. Vielleicht hinter der Treppe? Vielleicht hatte jemand das Licht bemerkt und lauerte jetzt hinter der Treppe, um ihn abzuschießen? Im Gebirge hatten alle Leute Schrotflinten!

    Ezra lief leise zurück durch die Küche und versuchte, das große Alkovenfenster zu öffnen. Das ging nicht. Irgendwas klemmte. Also eilte er wie ein gefangenes Tier zu dem kleineren Seitenfenster. Das ließ sich leicht öffnen. Er hängte sich weit hinaus, um zu schauen, ob da jemand war. Im matten Licht aus der Küche und im hellen des Mondes müsste er jeden sehen, der da kam. Niemand.

    Füße voran ließ er sich hinaus gleiten. Da riss die Wunde über dem Knöchel wieder auf. Er spürte es deutlich. Überall würde Blut verschmiert sein, aber das konnte er nicht ändern. Gott sei Dank war er sehr schlank und noch immer nicht sehr groß. Er landete weich und leise auf dem Boden. Mit einem Stock schob er das Fenster vorsichtig zu – man musste ja nicht gleich entdecken, wie er verschwunden war. Er fand den Gedanken lustig, dass nichts von ihm blieb, nur angedrehtes Licht und eine Pfütze in der Speisekammer. Geister hinterlassen Pfützen, wenn sie verschwinden. Und einige Blutspuren am Fensterbrett. Der Geist im ersten Stock wusste natürlich Bescheid. Aber er war sicher zu sehr mit seiner Ermordung beschäftigt, um sich mit Kartoffeln und Austern zu befassen.

    Deckung suchend lief Ezra zu dem nächsten Haus, dem „Jagdschloss". Sein Ziel in völligem Dunkel. Ein Bau mit hohem Mittelteil und zwei lang gestreckten Seitenflügeln. Ein ganzes Heer von Schornsteinen erhob sich schlank, weiß und wohlgeformt im Mondlicht über dem Dach, nicht für Störche, nicht für Rauchfangkehrer, nur reine Romantik, verbunden mit der Illusion von rauchenden Öfen.

    Er war ganz sicher, dass dort den ganzen Abend lang kein Licht gebrannt hatte. Deutlich war sein Licht zu sehen, in der Küche. Dort hatte sich nichts verändert. „Der" lauerte noch hinter der Treppe!

    Einlass ins Jagdschloss war gefragt. Das Schloss der großen Flügeltüre war eine schwierige Sache – auch Wolfgang hätte das nicht aufgekriegt. Er ging nach rückwärts in den Hof, am Kegel aus Pferdemist vorbei und zu der kleinen Türe, die er früher gesehen hatte. Der Nagel tat seinen Dienst und er war drin. Ein kleiner Gang - das Licht ging an – er hatte es nicht aufgedreht! Strahlende Helle umgab ihn. Sein Atem erstarrte. Sein Herz wurde zu Stein. Kein Fenster, nur rechts und links eine Türe. Die Panik verschnürte seine Brust, der einzige Fluchtweg war die Türe ins Freie. Dann sah er die Anlage – ein Bewegungsmelder mit Licht. Er veratmete den Adrenalinspiegel und schaute hinter die Türen.

    Rechts waren Stallungen. Da lag noch Stroh. Er schloss diese Türe wieder. Die andere führte in ein Zimmer. Oder sollte man es Salon nennen? Er konnte einen nicht sehr großen Raum im blassen Licht des Vorraums erkennen. Die Fenster gingen auf den Hof. Haus 1 war nicht zu sehen. Er schlüpfte zuerst vorsichtig in den Raum und sah aus der hohen Fenstertüre. Da war keiner. Licht an – eine Orgie in Rot und Gold. Möbel im nachgestrickten Renaissancestil, ein bisschen auch Barock, sahen ihm und seiner Furcht ungeduldig und leicht gereizt zu. Reich geschnitzt waren die Möbel, sie wirkten nervös. Es war an nichts gespart worden. Vor allem nicht an Mustern. Diese Pracht nahm ihm irgendwie die Luft zum Atmen. Ein viel zu großer Luster, wie aus einer Hotelhalle, mächtig, birnenförmig und sehr golden, hing dicht über dem geschnitzten Tisch, so dass nur wenig Platz über der Platte blieb, und die Tapete ließ keinen Zentimeter des Raumes ungemustert. Ein offener Kamin, umkränzt von einer steinernen Rosenranke, hatte kaum Platz. An der Decke waren Stuckornamente, und eigentlich war der Raum für dieses Massenaufgebot an Farbe, Form und Ornament viel zu klein. In der Vielfalt erstarrt, fühlte er sich von fremden Gedanken eingekreist, die hektisch auf ihn einredeten, aber er konnte nicht verstehen. Es war zu viel. Hörte er Schritte? Atmete jemand? Das Zimmer erzählte mühselige Geschichten. Ein gefesselter Besucher musste zuhören, durfte nicht aufstehen und gehen. Hier hatten Freiheit, Luft und auch der Raum jedes Recht gegen das Ornament verloren.

    Wer bitte machte so ein Zimmer? Ezra wollte dringend wieder raus. Als er die Türe in den Gang öffnete, ging das Licht wieder an und löste prompt eine neuerliche heiße Krise in seinem Bauchraum aus. Die Räume nach vorne hinaus waren ihm zu unsicher, man konnte ihn womöglich von Haus 1 sehen. So wanderte er in den anderen Seitenflügel - in die Stallungen.

    Dort war ein Wohnsalon für Pferde. Der Vollmond schien inzwischen hell durchs Fenster. Nicht überall war der Boden betoniert. Es gab Stellen mit nacktem Lehm, da konnte man Abdrücke von Hufeisen erahnen. Untertags kam Licht durch die hohen Fenstertüren. Futterkrippen aus Holz, geschnitzt mit runden Kanten und seidig glänzenden Flächen, durch den Gebrauch poliert. Glänzende Holzteile trennten eine Box von der nächsten. Ezra sah förmlich die samtweichen Nasen darüber streichen, die glänzenden Leiber an ihnen entlang reiben. Es war kein Tier da, aber der Raum atmete Pferd. Wo waren sie? Auf der Weide? So vornehme Pferde konnten doch nicht nachts im Freien bleiben. Er zählte sechs Plätze. Als er eine Krippe berührte, spürte er Staub – sie waren nirgendwo.

    NACHT

    In der Ecke war ein großer Strohhaufen aufgeschichtet. Er roch feucht und ein wenig nach Alkohol. Am Ende des Raumes

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