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Wenn auch nur für einen Tag
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eBook409 Seiten5 Stunden

Wenn auch nur für einen Tag

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Über dieses E-Book

Lukas steht vor dem Nichts. Unter Zeugenschutz muss er alles verleugnen: seine Herkunft, seine Familie, sogar seinen richtigen Namen. Erst als er Jana kennen lernt, kann er sein neues Leben langsam akzeptieren.
Jana trauert um ihren Bruder Florian. Um den Schmerz zu lindern, verdrängt sie seinen Tod und verstrickt sich dadurch immer mehr in ein Gewirr aus Lügen.
Keiner von beiden ahnt, dass ihre Schicksale ausgerechnet durch Florians Tod verknüpft sind. Die Lügen drohen ihre Liebe zu zerstören. Dennoch wünschen sich Lukas und Jana nichts sehnlicher, als einmal ungetrübt glücklich sein zu dürfen - wenn auch nur für einen Tag.
SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Verlag
Erscheinungsdatum16. Dez. 2013
ISBN9783732001040
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    Buchvorschau

    Wenn auch nur für einen Tag - Annette Moser

    Titelseite

    Manchmal gerät unser Leben derart durcheinander,

    dass wir gezwungen sind,

    aufzuräumen und Platz zu schaffen,

    bis nichts mehr übrig bleibt

    außer uns selbst.

    PROLOG

    Zwei Monate vorher

    Der junge Mann lief in der Menge der anderen Fluggäste den endlosen Gang hinunter. Ohne stehen zu bleiben, passierte er die Gepäckausgabebänder – er hatte nichts aufgegeben. Sein Blick konzentrierte sich auf die Ausgangsschilder des Hamburger Flughafens. Hinter der riesigen Glasfront tummelten sich unzählige Wartende, die die Hälse nach ankommenden Bekannten und Familienmitgliedern reckten. Es wurde sich umarmt, geküsst und überschwänglich begrüßt. Der Junge entdeckte den Kaffeekiosk und lief darauf zu. Hier war ihr Treffpunkt. Während seine Finger seinen Personalausweis umklammerten, blickte er sich suchend um. Er hatte keine Ahnung, auf wen er wartete. Kein Foto, keine Altersangabe, keine sonstige Beschreibung. Den Namen hatte sein Vater zwar ein- oder zweimal erwähnt, aber er hatte ihn in der ganzen Aufregung wieder vergessen. Es war etwas Banales, Klangloses gewesen. Ein unauffälliger Name, was in diesem Fall wahrscheinlich von Vorteil war. Egal, es hatte geheißen, er brauche sich um nichts zu kümmern, man würde ihn finden.

    Als sein Blick erneut die Glasscheibe streifte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Vage zeichnete sich dort sein eigenes Spiegelbild ab. Am deutlichsten stachen die blonden Strähnen hervor, die ihm in die Stirn fielen. Sie umrahmten sein ebenmäßiges Gesicht wie selbstverständlich, aber in seinen Augen ließen sie jedes Detail fremd erscheinen: die gerade Nase, die schmalen Lippen, die Augen, die unter dichten Brauen lagen und deren ungewohnte grüne Farbe er glücklicherweise nicht erkennen konnte. Er ließ seinen Blick an sich hinabwandern. Wenigstens seine Statur erinnerte ihn noch an sich selbst. Zwar hatte sein Körper in den vergangenen Wochen ein wenig an Muskelmasse verloren und wirkte insgesamt etwas schmaler, aber seine Schultern waren nach wie vor kräftig, und mit ein bisschen Training würde er auch den Rest schnell wieder in Form bringen. Er schluckte. Je länger er hier herumstand und sich anstarrte, desto stärker wurde dieses beklemmende Gefühl in ihm. Nach den Vorbereitungen, der Hektik und der Flut an Informationen, die man ihm in der kurzen Zeit eingeimpft hatte, hatte er keine Ruhe gehabt, über das Geschehene, geschweige denn über das, was noch auf ihn zukommen konnte, nachzudenken. Erst jetzt, bei seinem eigenen Anblick, wurde ihm langsam wieder bewusst, weshalb er eigentlich hier war.

    Jemand fasste ihn von hinten an der Schulter, exakt dort, wo sich seine Narbe befand. Erschrocken fuhr er herum.

    »Lukas Richter?«

    Er nickte zögerlich und musterte den Mann, der vor ihm stand, mit skeptischem Blick. Er trug einen schwarzen Mantel, hatte grau durchsträhntes dunkles Haar, eine schmale Nase und eine hohe furchige Stirn. Auch der Mann betrachtete sein Gegenüber einen Moment lang kritisch, dann lächelte er zufrieden, zog den Jungen an sich und umarmte ihn.

    »He, scusi, was –«

    »Willkommen in Hamburg, Lukas. Ich bin dein Onkel Fred.«

    »Mein – was?« Der Junge machte sich los und wich mit Unbehagen einen Schritt zurück.

    Der Fremde zog seine linke Augenbraue hoch. »Was denn, so zimperlich? Ich dachte, ihr Italiener umarmt euch ständig«, bemerkte er leise und mit einer nicht zu überhörenden Ironie in der Stimme. »Gewöhn dich lieber gleich an unser inniges Verhältnis, ab heute sind wir verwandt.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Sporttasche, die der Junge über der Schulter trug. »Mehr hast du nicht dabei?«

    »Nein … ich durfte nicht.« Den Jungen überkam ein leichtes Schwindelgefühl und obwohl er fließend Deutsch sprach, fiel es ihm plötzlich schwer, dieser Flut an Worten, die auf ihn einströmte, zu folgen. Es war alles so schnell gegangen, man hatte ihn noch nicht einmal für eine Stunde nach Hause gelassen, damit er seine wichtigsten Sachen zusammenpacken konnte. Noch im Krankenhaus war er notdürftig mit Klamotten ausgestattet worden. Dann hatte man ihn direkt zum Flughafen gebracht.

    Der Mann, den er Onkel Fred nennen sollte, machte ein Zeichen, ihm zu folgen. »Du wirst Zeit genug haben, dich neu einzukleiden, keine Sorge«, hörte er ihn wie aus weiter Ferne sagen. In seinen Ohren rauschte es dumpf, während er dem Mann mechanisch zum Ausgang des Flughafens folgte. Vielleicht war das hier alles nur ein Traum, aus dem er gleich aufwachen würde.

    Erst als ihm draußen die kalte Februarluft ins Gesicht schlug, begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Zugleich durchflutete ihn ein Gefühl von Hilflosigkeit. Wie hatte es bloß so weit kommen können? Es fühlte sich falsch an, er gehörte einfach nicht hierher.

    »Merda!«, fluchte der Junge leise vor sich hin und fuhr sich über die Stirn. »Was für eine verfluchte Scheiße!«

    »Da hast du verdammt noch mal recht, aber es lässt sich nicht ändern«, entgegnete der Mann ungerührt. »Was passiert ist, ist passiert. Machen wir das Beste draus.« Er öffnete die Fahrertür eines Taxis und forderte den Jungen mit einer Geste auf, auf der anderen Seite einzusteigen. Dieser starrte verwirrt auf den alten Mercedes.

    »Scusi, aber ich dachte, Sie sind Detektiv oder verdeckter Ermittler oder so etwas in der Art. Auf jeden Fall kein Taxifahrer!«

    Der Mann hielt inne, seine Miene verfinsterte sich. Dann machte er ein paar schnelle Schritte auf den Jungen zu, bis nur noch wenige Zentimeter sie trennten. Er sah ihm fest in die Augen. »Einsteigen«, befahl er leise. »Sofort. Und schreib dir eines hinter die Ohren, Lukas Richter: Keine Äußerungen dieser Art in der Öffentlichkeit und vor allem nicht in einer solchen Lautstärke. Sonst kannst du sofort ins nächste Flugzeug zurück nach Rom steigen. Ich verwette meinen Arsch darauf, dass es dort den einen oder anderen gibt, der dich mit Freuden empfangen wird.«

    Der junge Mann hielt einen Moment lang dem Blick seines Gegenübers Stand, dann stieg er wortlos in das Taxi ein. Calmati, reg dich nicht auf, auch wenn dir dieser Typ jetzt schon tierisch auf die Eier geht, beschwor er sich. Er hatte im Moment keine andere Wahl, als mitzuspielen. Bald schon würde die ganze Sache überstanden sein und er konnte zurück nach Hause und sein Leben weiterführen wie gewohnt. Alles würde so sein wie früher – bevor alles aus dem Ruder gelaufen war. Inzwischen musste er einfach versuchen, sich zu entspannen und das hier als erholsame siesta zu betrachten, als eine kleine Auszeit. Vielleicht konnte er sogar einen gewissen Nutzen aus der Situation ziehen. Immerhin kannte ihn hier niemand und somit hatte er auch keinen Ruf zu verlieren. Lukas Richter würde eines Tages wieder aus der Stadt verschwunden sein, so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Dieser Gedanke stimmte ihn etwas positiver.

    »Also, wohin fahren wir?«, fragte er, nachdem der Mann den Motor gestartet hatte.

    »Zu mir nach Hause.«

    »Dio mio, jetzt erzählen Sie mir nicht, ich muss bei Ihnen wohnen!«

    »Obwohl es seine Vorteile hätte, würde ich das mir und meiner Familie nicht antun«, war die schroffe Antwort. »Und nur, damit du Bescheid weißt: Du bist der Sohn eines der unzähligen Halbbrüder meiner Frau. Ihre Mutter hatte vier Ehemänner und mit jedem mindestens zwei Kinder, die unter allen möglichen Namen in der Welt verstreut leben und jeweils wieder einen Haufen Kinder haben. Da verliert man schnell den Überblick. Niemand wird sich über das plötzliche Erscheinen irgendeines Neffen wundern.«

    »Hört sich ja super an!«

    »Und noch etwas: Das hier ist eine absolute Ausnahme. Ich bin schon seit mehr als fünf Jahren nicht mehr im Zeugenschutz tätig und diesen Auftrag habe ich nur deshalb angenommen, weil mich deine Eltern auf Knien darum angebettelt haben.«

    »Scheiße, und in welchem Bereich arbeiten Sie dann?«

    »In diesem hier.« Er klopfte auf das Lenkrad. »Ich fahre Taxi, so wie ich es schon wollte, als ich zehn war.«

    »Oh Mann, sehr beruhigend. Da fühle ich mich doch gleich wahnsinnig sicher.« Der junge Mann schüttelte den Kopf und fragte sich, was sein Vater sich dabei gedacht hatte, diesen lächerlichen Typen zu seinem persönlichen Schutz anzuheuern. Er hatte behauptet, der Kerl sei ein Profi.

    »Keine Angst, Kleiner, ich bin top in Form«, erklärte sein Begleiter gelangweilt. »Ab und zu übernehme ich noch Jobs im Sicherheitsdienst, die schnell erledigt sind und nebenbei ein nettes Sümmchen einbringen.«

    »Und das wäre?«

    »Ich bewahre alberne Möchtegern-Stars während ihrer Auftritte und Dreharbeiten vor Angriffen, die manchmal mehr als berechtigt wären. Danach mache ich es mir dann mit einer Tüte Chips auf der Couch bequem und sehe mir mit meinem Sohn Cartoons an.«

    »Hört sich nach ’ner Menge Verantwortung an«, murmelte der Junge sarkastisch. Das wurde ja immer besser. Sein Vater schleuderte sein Geld aus dem Fenster, so viel stand fest.

    »Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin mehr als zufrieden mit meinem Leben und die Kohle ist weiß Gott leichter verdient, als auf Typen wie dich aufzupassen. Also, wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann strapazier meine Nerven nicht unnötig und mach das, was ich dir sage. Damit wirst du im Übrigen auch selbst am besten fahren und dich schneller an dein neues Leben gewöhnen.«

    Der Junge starrte den Mann perplex an. »Cosa? An mein … neues Leben? Wie lange, glauben Sie, wird dieser Irrsinn dauern? Ich hatte vor, in ein paar Monaten wieder abzuhauen.«

    Der Fahrer erwiderte nichts, sondern hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet.

    Alles klar, er geht davon aus, dass es länger dauert, dachte der Junge. Genau wie die Ermittler zu Hause. Keiner hatte es direkt ausgesprochen, nur ihre betretenen Gesichter hatten es verraten. Aber was hieß länger? Ein halbes Jahr? Zwei Jahre? Oder etwa … Er versuchte, den Gedanken an für immer lieber schnell von sich zu schieben.

    »Also, wenn nicht bei Ihnen, wo werde ich dann in der nächsten Zeit wohnen, Bodyguard?«, fragte er.

    »Du hast einen Platz im Studentenwohnheim. In zwei Monaten startet das Sommersemester an der Uni. Auf diese Weise findest du schnell Anschluss und kannst wieder anfangen zu studieren. Dein Deutsch ist ja zum Glück so gut wie perfekt, sprachlich wirst du also keine Probleme haben.«

    Der Junge fuhr sich über seine brennenden Augen und gähnte. Er hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen, außerdem war er die grünen Kontaktlinsen noch immer nicht gewohnt, die man speziell für ihn angefertigt hatte.

    »Meine Mutter wurde, wie Sie wahrscheinlich wissen, in München geboren«, sagte er. »Sie hat mich und meinen Bruder zweisprachig erzogen. Und unser Kindermädchen kam aus Frankfurt, also …«

    Wieder schwiegen sie eine Zeit lang und er blickte aus dem Fenster, ohne auf die vorbeiziehende Umgebung zu achten. Er dachte an seine Uni in Rom, an die Sommerabende auf den Piazze, die Motorini-Rennen am Strand von Ostia, die anschließenden Strandpartys und eisgekühlten Cocktails, die belle ragazze, die nur darauf warteten, ihre Bikinioberteile abzulegen … Ob er dieses Jahr auf all das verzichten musste? Ob er … Plötzlich blitzte ein anderes Bild vor ihm auf. Er verkrampfte sich und kniff schnell ein paarmal die Augen zu, um es wieder loszuwerden. Augen voller nackter Angst, zitternde Lippen, die ansetzen, etwas zu sagen, aber keine Chance mehr haben, einen Ton hervorzubringen, dann nur noch Blut, das sich zäh und doch unaufhaltsam schnell auf dem Asphalt ausbreitet …

    »Alles klar?« Der Mann sah ihn über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg prüfend an.

    »Ja, ja … Tutto al posto.« Der Junge straffte seine Schultern und versuchte, sich wieder zu fassen. Auch das würde irgendwann aufhören. Zeit, hieß es immerhin, Zeit ist die Lösung aller Probleme. Irgendwann würde er das Geschehene vergessen können. Er musste sich nur oft genug sagen, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Er hatte schließlich nicht gewollt, dass das passierte, und nie im Leben wäre er auf den Gedanken gekommen, dass diese verdammte Knarre wirklich losgehen würde.

    »Übrigens«, setzte er an, um sich selbst abzulenken, »laut meinem Ausweis bin ich am 15. Januar neunzehn geworden. Ich meine, ich verstehe ja, dass Sie mir einen neuen Geburtstag verpassen mussten, das gehört wohl zum Paket, aber … neunzehn

    »Gern geschehen. Du musst dich nicht bedanken.«

    »Das hatte ich auch nicht vor, Mann. Wieso haben Sie mich um ein ganzes Jahr jünger gemacht? Ich werde nächsten Monat zwanzig!«

    »Du wirst dieses Extra-Jahr brauchen, Junge. Und glaube mir, du wirst mir noch dankbar sein dafür. Wie im Übrigen auch für vieles andere.«

    Der Junge warf dem Fahrer einen vernichtenden Blick zu. Ihn nervte das Gelaber seines Begleiters, seit dieser den Mund zum ersten Mal aufgemacht hatte. In ihm herrschte ohnehin schon ein irrsinniges Durcheinander, aber nun merkte er, wie seine Geduld ihren Tiefpunkt erreichte und es in ihm zu kochen begann. Konnte dieser stronzo nicht einen Satz von sich geben, ohne dabei seine Arroganz raushängen zu lassen? Was bildete sich dieser Amateur mit seinem Pokerface bloß ein?

    »Hören Sie«, platzte es aus ihm heraus, »Sie denken wohl, Sie haben den absoluten Überblick, habe ich recht, Möchtegern-007? Sie glauben, Sie sind der Coolste und allem und jedem überlegen. Am Abend mixen Sie sich wahrscheinlich Ihren Martini – gerührt, nicht geschüttelt. Und Ihre Frau ist vielleicht kein heißes Bondgirl, aber trotzdem versichert sie Ihnen, was für ein toller Typ Sie sind, nur weil Sie dem neuen Milchgesicht von Deutschland sucht den Superstar einen Strohhalm für seine Limo gebracht haben.«

    Der Mann legte mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung hin, sodass der Junge nach vorne geschleudert wurde. Der Gurt schnitt in seine Schulter.

    »Cazzo!«, rief er. »Verdammt, haben Sie noch alle Teller im Schrank?«

    Der Fahrer lächelte messerscharf, nahm seine Sonnenbrille ab und beugte sich ein Stück zu ihm nach vorne, sodass sie sich direkt in die Augen sahen. »Tassen, Schmalspur-Mafioso, es heißt Tassen. Und um Folgendes klarzustellen« – er zog seine linke Augenbraue nach oben, »erstens: Ja, ich denke, ich habe den Überblick. Und zweitens: Meine Name ist nicht Bond, sondern Beck. Alfred Beck.«

    Jana

    Carla hämmert so energisch gegen die Tür, dass mir vor Schreck beinahe der Föhn aus der Hand fällt. Ich mache eine ruckartige Bewegung und stoße dabei die Shampooflasche vom Badewannenrand. Sie knallt auf den Boden, die Kappe springt ab und augenblicklich verteilt sich mein kostbares Shiny Blonde mit Glanzpartikeln auf den Fliesen. So ein Mist! Es ist eins dieser teuren Friseurprodukte, die man sich nur alle Jubeljahre mal gönnt.

    »Jaaa, gleich!« Ich schalte den Föhn ab, schnappe mir mein Handtuch und wische leise vor mich hin fluchend den goldglänzenden, nach Vanille duftenden Schlamassel auf. Das Zeug ist zäh wie Honig und man bekommt es kaum aus den Fugen raus. Wie schön, dass ich diese Woche mit Putzen dran bin.

    Als ich das Gröbste beseitigt habe, fahre ich mir durch die frisch gewaschenen Haare und betrachte mich kritisch in unserem großen Wandspiegel. Zum Glück wirke ich nicht mehr ganz so blass und zerbrechlich wie noch vor ein paar Wochen. So richtig knackig braun werde ich ja sowieso nie, aber die ersten sonnigen Frühlingstage haben wenigstens einen leicht bronzefarbenen Schimmer auf meine Haut gezaubert, sodass ich nicht mehr aussehe wie ein wandelndes Schreckgespenst. Außerdem habe ich zugenommen und schon beinahe wieder mein altes Gewicht erreicht. Da kann sich selbst meine Cousine nicht beschweren, die peinlich genau darauf achtet, dass ich meinen Teller auch ja brav leer esse.

    Ich binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz und übe ein letztes schnelles Lächeln vor dem Spiegel. Na also, sogar meine Grübchen, die alle so niedlich finden, sind zurückgekehrt.

    Ich bin startklar für heute Abend und nicht einmal Carla wird mir ansehen, dass ich eigentlich gar keine Lust auf Party habe. Wie immer in letzter Zeit. Stattdessen würde ich mich am liebsten mit einer Tasse heißer Schokolade und einer Zeitschrift unter die Bettdecke verkrümeln. Meine arme Cousine hat sich in den vergangenen vier Monaten wirklich rund um die Uhr bemüht, für mich da zu sein und mich aufzubauen, was bestimmt nicht leicht für sie war. Jetzt, wo der Unialltag wieder anfängt, wird es höchste Zeit, dass ich mich zusammenreiße. Nicht nur Carla zuliebe. Ich will mich ja besser fühlen! Wenn doch nur diese Lustlosigkeit in mir weniger würde. Ich weiß, dass sich Flo nichts mehr wünschen würde, als dass ich ganz normal weitermache und Spaß am Leben habe, aber ich kriege die Kurve nicht. Seit seinem Tod fühle ich mich wie ausgebremst. So, als würde ich vor einem Fenster stehen und von außen allen anderen beim Leben und Fröhlichsein zuschauen, ohne zu wissen, wie ich selbst hineingelangen kann.

    »Mensch, Jana, bist du in der Badewanne abgesoffen? Was um alles in der Welt treibst du so lange da drinnen? Lass mich wenigstens noch schnell duschen, damit Alex sich daran erinnert, warum er sich in mich verknallt hat!«

    Meine Mitbewohnerin hört sich jetzt wirklich genervt an, was in der letzten Zeit höchst selten vorkam. Wahrscheinlich aus Rücksichtnahme. Dabei mag ich Carlas temperamentvolle Art und habe sie schon oft darum beneidet. Sie sagt immer, was sie denkt, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

    »Sorry, Cousinchen, bin schon fertig!« Ich verstaue meine Haarbürste und mein Duschgel im Schrank, werfe das shampooverschmierte Handtuch zum Trocknen über die Heizung und reiße die Tür auf. »Fertig, das Badezimmer gehört dir!«

    »Wow!« Carla mustert mich von oben bis unten, dann nickt sie zufrieden. »Okay, ich gebe zu, dein Wellnessprogramm hat sich gelohnt. Du siehst super aus!« Sie deutet auf mein neues Top. »Und das Rot passt perfekt zu deinen blonden Haaren.« Dann wird ihr Blick ernster. »Übrigens, ich freu mich wirklich, dass du mitkommst. Ich weiß, dass es dir noch schwerfällt, unter Leute zu gehen. Aber etwas Ablenkung wird dir guttun, du wirst schon sehen. Versprich, dass du dich heute ein bisschen amüsierst, okay? Und wenn es mit dieser Knalltüte Noah ist. Ich weiß ja, dass du ihn zum Anbeißen findest.«

    Da muss selbst ich kichern. Carla spielt auf meinen einmaligen, aber unvergesslichen Flirt mit Noah an. Der Typ sieht aus wie ein Model, was er allerdings auch ganz genau weiß, und ist mit einem dementsprechenden Selbstbewusstsein gesegnet.

    »Oh Mann, ich brech immer noch ab, wenn ich an diesen Abend denke.« Carla schüttelt grinsend den Kopf. »Wie krass dich dieser Schnösel angegraben hat und was er alles probiert hat, um dich zu küssen – nach gerade mal einer Stunde!«

    »Tja, wärst du nicht kichernd an der Bar gestanden, sondern mir zu Hilfe gekommen, hätte ich ihn nicht in die Schulter beißen müssen, um ihn loszuwerden«, entgegne ich zu meiner Verteidigung.

    »Ja, ich weiß, tut mir leid. Aber es wäre doch zu schade gewesen, wenn ich Noah um diese Erfahrung gebracht hätte, oder?«

    »Auch wieder wahr«, gebe ich zu.

    Carla nickt. »Wenigstens kennen wir jetzt schon einige Leute und müssen nicht mehr wie zwei kleine schüchterne Mädchen in der Ecke stehen und darauf warten, dass uns jemand fragt, ob wir mitspielen wollen. Weißt du noch, wie schrecklich wir uns auf der letzten Semesteranfangsparty gefühlt haben?« Sie lacht.

    »Klar«, sage ich. Das war vor einem halben Jahr. Carla und ich waren gerade erst nach Hamburg gezogen und ein Typ hatte vor der Uni Flyer verteilt, die für eine Studentenparty warben. »Da gehen wir hin!«, hatte Carla gemeint. »Bestimmt lernen wir nette Leute kennen.« Auf der Party hatten wir allerdings das Gefühl, in einer fremden Welt gelandet zu sein. Die meisten kannten sich schon und kaum jemand würdigte uns eines Blickes. Außerdem waren mir die Jungs dort definitiv zu glattgebügelt.

    »Der Oberknaller war, als Tamara und ihr Hofstaat aufgetaucht sind!« Ich war fest davon überzeugt, bei der Clique handele es sich um Leute von irgendeiner Promotionagentur. Sie waren top gestylt, trugen die angesagtesten Designerklamotten und hatten ihren eigenen Champagner mit passenden Gläsern dabei.

    »Pffft!« Meine Cousine macht eine abwertende Handbewegung. Auf Tamara und ihren Dunstkreis, zu dem auch Noah gehört, ist sie nicht gut zu sprechen. Die meisten von ihnen studieren BWL oder Kommunikationswissenschaften und Carla hat einige gemeinsame Kurse mit ihnen. Ihrer Meinung nach sind sie durch die Bank hirnverbrannt und nur deshalb noch nicht exmatrikuliert worden, weil ihre Papis der Uni jedes Semester ein paar Schecks mit vielen Nullen zukommen lassen. Vielleicht hat sie sogar recht, obwohl ich nicht glauben kann, dass alle von ihnen aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Selbst unter Millionärskindern muss es doch ein paar vernünftige Ausnahmen geben. Carla steckt Menschen gerne in Schubladen und verliert dann den Schlüssel, sodass sie nie wieder die Chance bekommen, sich in einem anderen Licht zu zeigen.

    »Diese Idioten mit ihrem angeberischen Getue können uns nicht mehr beeindrucken. Vor denen müssen wir uns nicht verstecken«, sagt meine Cousine bestimmt. »Außerdem steht der Sommer vor der Tür. Dieses Semester wird komplett anders als das letzte, du wirst schon sehen. Alles wird anders. Besser.«

    »Klar, ich weiß«, sage ich und wünschte, ich könnte mir selbst glauben. Um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen, füge ich hinzu: »Ab jetzt geht es bergauf.«

    »So ist es, Süße, genau das will ich hören!« Carla drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Und nun werde ich versuchen, irgendetwas halbwegs Ansehnliches aus meinen Haaren zu machen, damit du mir später nicht die ganze Show stiehlst.« Während Carlas hellbrauner Lockenkopf im Bad verschwindet, lasse ich mich auf unsere hässliche grüne Cordcouch in der Wohnküche fallen und schnappe mir mein Handy. Ich bin mir sicher, dass meine Tante Sabine schon seit ein paar Stunden auf die übliche SMS wartet, und Carla hat bestimmt wieder mal vergessen, ihr Bescheid zu geben.

    Sind gut in Hamburg angekommen. Gehen später noch auf die Semesteranfangsparty. War wie immer schön bei euch, bis bald! Carla und Jana.

    Dann, nachdem ich auf Senden gedrückt habe, suchen meine Finger wie von selbst im Menü nach der SMS vom 14. Dezember vergangenen Jahres, dem Tag, der alles verändert hat. Es ist wie eine Sucht. Ich weiß, ich sollte sie nicht lesen, nicht zum hunderttausendsten Mal. Am besten sollte ich sie endlich löschen, aber ich schaffe es einfach nicht. Es ist, als hoffte ich auf irgendeine versteckte Erklärung in den wenigen Zeilen, eine Antwort auf die Frage »Warum?«. Augenblicklich fängt mein Herz an zu klopfen, als wüsste ich nicht längst in- und auswendig, wie die Nachricht lautet.

    Ciao, Bella! Rom ist traumhaft. Ich wünschte, du könntest das alles sehen. Lern fleißig weiter deine Italienisch-Vokabeln, in den Semesterferien kommst du mich dann besuchen! Bin jetzt bei meinem Chef und seiner Frau zum Essen eingeladen. Drück mir die Daumen! Grüße auch an Carla. Lasst es krachen! Bacio, Flo.

    Er hat die Nachricht um 19.22 Uhr abgeschickt, etwa vier Stunden vor seinem Tod.

    »It’s the way I’m feeling … I just can’t deny … Hmmmm … We found love in a hopeless place, we found love in a hopeless place …«

    Carla trällert vor sich hin, während sie unter der Dusche steht. Es ist nicht zu übersehen und nicht zu überhören, dass sie schwer verliebt ist. In Alex, einen braun gelockten, immer gut gelaunten Psychologiestudenten. Anscheinend kann sie es kaum erwarten, ihn nach zwei Monaten Semesterferien wiederzusehen. Sie haben stundenlang telefoniert, während wir in der Ferienpension ihrer Eltern, Sabine und Thomas, in Sankt Peter-Ording waren. Heimlich. Aber natürlich habe ich es trotzdem mitbekommen. Ich bin froh, dass Carla seit Kurzem endlich aufgegeben hat, ihre Gefühle für Alex vor mir zu verbergen. Auch wenn ich vielleicht abwesend gewirkt haben mag, hatte ich in den letzten Monaten schließlich keine Tomaten auf den Augen. Ich weiß, dass die beiden sich kurz vor Flos Tod nähergekommen sind, und keine Frage, ich freue mich für sie. Immerhin waren Carla und ich die letzten zwei Jahre lang wie Schwestern, nachdem meine Mutter von einem Tag auf den anderen mit einem anderen Mann abgehauen ist. Aber nach dieser schrecklichen Sache mit Flo haben mich plötzlich alle behandelt, als wäre ich ein rohes Ei und könnte jeden Moment zerbrechen. Ich glaube, sie hatten einfach ein schlechtes Gewissen, wenn sie glücklich waren oder ausgelassen. Als hätte es ihn wieder lebendig gemacht, wenn sie mit Trauermiene herumgelaufen wären. Oder als hätten sie Schuld an seinem Tod.

    Wie immer wird mir übel bei der Vorstellung, dass Flos Mörder noch frei herumläuft – lebendig und ungestraft. Vielleicht hat er noch nicht mal ein schlechtes Gewissen wegen dem, was er in wenigen Sekunden angerichtet hat. Man weiß nicht, was genau passiert ist und wer hinter dem Mord steckt. Die Ermittlungen in Rom laufen zwar noch, aber ich schätze, sie werden bald eingestellt. Es haben sich keine Zeugen gemeldet und auch ansonsten gibt es kaum Indizien. Die Polizei geht mittlerweile davon aus, dass es ein Junkie war, der Geld für Drogen brauchte und dann Schiss bekam und abgehauen ist, bevor er sich Flos Geldbeutel schnappen konnte. Eigentlich spielt es auch keine Rolle, wer der Typ war und weshalb er es getan hat. Ich frage mich bloß immer wieder, warum es ausgerechnet Flo treffen musste, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Das alles ist zum Verrücktwerden, so sinnlos, so schrecklich ungerecht. Es ist schwierig, die Tatsachen einfach hinzunehmen und nicht an ihnen zu verzweifeln.

    »Und? Mixt du uns zur Einstimmung einen Caipi?«

    Ich fahre herum. Carlas nasser Lockenkopf taucht in der halb geöffneten Küchentür auf. Schnell stecke ich mein Handy in die Hosentasche und rapple mich von der Couch auf. »Wow, du warst aber echt schnell.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Caipi ist ’ne super Idee. Haben wir braunen Zucker und Limetten?«

    Lukas

    »Und? Für welchen Studiengang hast du dich entschieden, Lukas? Du hast dich doch hoffentlich fristgemäß an der Uni eingeschrieben.«

    Alfred Beck zieht seine linke dunkle Braue so weit nach oben, als wollte er damit seiner Geheimratsecke ein Toupet verpassen, und mustert mich dabei prüfend. Ich hasse es, wenn er so oberlehrerhaft mit mir spricht. Auch wenn er sich etwas darauf einbildet, der Schöpfer von Lukas Richter zu sein, heißt das noch lange nicht, dass er mein tatsächlicher Erzeuger ist und sich das Recht herausnehmen darf, mich über jedes Detail meines Lebens auszuquetschen. Nach acht Wochen Dauerkontrolle brauche ich endlich mal wieder so etwas wie Privatsphäre. Davon abgesehen habe ich selbst meinem Vater längst nicht alles erzählt, was bei mir so los war. Eigentlich so gut wie gar nichts, wenn ich genauer darüber nachdenke.

    »Jetzt lass Lukas doch erst mal in Ruhe essen«, mischt sich seine Frau Anne ein, bevor mir eine patzige Antwort einfällt. »Das hier sollte zur Abwechslung ein ganz normales, entspanntes Abendessen werden und nichts … Geschäftliches. Das hatten wir doch so ausgemacht, Fred.« Sie wirft ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu und ich schenke ihr ein dankbares Lächeln. Am liebsten hätte ich der schlanken Blondine, die mit ihren achtunddreißig Jahren zugegebenermaßen gar nicht mal so übel aussieht, allerdings ins Gesicht gesagt, dass ich ihrer Einladung nicht freiwillig gefolgt, sondern nur aus reiner Höflichkeit aufgekreuzt bin.

    Auf der anderen Seite des Tisches zieht jemand geräuschvoll die Nase hoch. Ich verdrehe die Augen. Offensichtlich kennt der sechsjährige Sohn der Becks, der laut vor sich hin schmatzt und schon zweimal seinen Apfelsaft verschüttet hat, keinerlei Tischmanieren. Aber wenigstens plappert er heute nicht so viel wie sonst.

    »Lukas, bleibst du heute mal länger?«, kräht er just in diesem Moment, als habe er meine Gedanken gelesen und müsse mir sofort das Gegenteil beweisen. Ein Sprühregen aus Spucke und Tomatensoße verlässt seine Zahnlücke und besprenkelt mein neues weißes Valentino-Shirt. Angewidert greife ich nach meiner Serviette. Toll, jetzt muss ich noch mal zurück ins Studentenwohnheim, um mich umzuziehen. Welche heiße Braut steht schon auf Typen in angesabberten Klamotten? Tamara bestimmt nicht.

    »Aber Felix, man spricht doch nicht mit vollem Mund!«, ermahnt ihn seine Mutter. Allerdings sagt sie das mit so einer Engelsstimme, dass Felix noch nicht einmal zu ihr herübersieht, sondern sich eine weitere übervolle Gabel Spaghetti in den Mund schiebt und die Hälfte zurück auf den Teller flutscht. »Nimm doch bitte das Messer!«, säuselt Anne.

    Wenn ich mich in seinem Alter so bei Tisch aufgeführt hätte, hätte mir mein Vater den Teller weggenommen und mich hungrig auf mein Zimmer geschickt. Aber vermutlich kann man dem Zwerg noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Wer beigebracht bekommt, Spaghetti mit dem Messer klein zu schneiden, ist und bleibt ein hoffnungsloser Fall.

    »Lukas, tatsächlich würden wir uns freuen, wenn du nachher noch etwas bleiben könntest«, sagt Anne Beck nun an mich gewandt. »Vielleicht auf ein Bier? Du trinkst doch Bier, oder, Lukas?«

    Ich nicke stirnrunzelnd. Ist die Frage wirklich ernst gemeint? Glaubt sie etwa dem Klischee, dass Italiener nichts als Rotwein trinken und es das Bier nicht bis südlich der Alpen geschafft hat? Zuzutrauen wäre es ihr. Aber was mich besonders nervt, ist die Tatsache, dass die Becks in jeder Frage und in jedem Satz,

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