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Der Widerschein
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eBook218 Seiten2 Stunden

Der Widerschein

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Über dieses E-Book

Die ungeheuerliche Geschichte des jungen Genies Ferdinand Meerten, der mit seinen Zeichnungen die Welt veränderte: Die Niederlande im 18. Jahrhundert: Als das Waisenkind Ferdinand Meerten Pfarrer Hobrecht in die Arme gelegt wird, ahnt dieser nicht, welches Genie in dem Vierjährigen steckt. Doch bald wird deutlich: Ferdinand ist kein gewöhnlicher Junge. Schon wenige Wochen nach seiner Ankunft geschehen merkwürdige Dinge in dem kleinen Dorf, die den Pfarrer verunsichern und ihn Schlimmes ahnen lassen. Als er eines Tages ein Dutzend Blätter mit Kohlezeichnungen des Jungen findet, begreift er: Diese Skizzen überragen nicht nur alles, was er bisher gesehen hat, sondern üben eine magische, geradezu gefährliche Anziehung auf ihn aus. Zu gefährlich für Hobrecht ...

David Schönherr erzählt in seinem ersten Roman die ungeheuerliche Geschichte des jungen Genies Ferdinand Meerten, der mit seinen Zeichnungen die Welt veränderte. Denn mit seinem außergewöhnlichen Talent trifft er die Menschen schon als Kind bis ins Innerste, verzaubert sie und stürzt sie ins Unglück: den Maler Bros, dem er ungeahnten Erfolg schenkt; die sagenumwobene Lucia Giannotti aus dem Wald; die schöne Magd Flora und den hartnäckigen Kunsthändler Gerlach, der sich von Ferdinands Bildern nicht weniger als Unsterblichkeit verspricht. "Der Widerschein" ist eine phantastische und geheimnisvolle Fabel über Sehnsüchte und Gier, über geheime Wünsche und Schwächen und eine unglaubliche Reise durch die Niederlande nach dem Goldenen Zeitalter.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Sept. 2013
ISBN9783627022013
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    Buchvorschau

    Der Widerschein - David Schönherr

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    DIE UNGEHEUERLICHE GESCHICHTE DES JUNGEN GENIES FERDINAND MEERTEN, DER MIT SEINEN ZEICHNUNGEN DIE WELT VERÄNDERTE.

    Die Niederlande im 18. Jahrhundert: Als das Waisenkind Ferdinand Meerten Pfarrer Hobrecht in die Arme gelegt wird, ahnt dieser nicht, welches Genie in dem Vierjährigen steckt. Doch bald wird deutlich: Ferdinand ist kein gewöhnlicher Junge. Schon wenige Wochen nach seiner Ankunft geschehen merkwürdige Dinge in dem kleinen Dorf, die den Pfarrer verunsichern und ihn Schlimmes ahnen lassen. Als er eines Tages ein Dutzend Blätter mit Kohlezeichnungen des Jungen findet, begreift er: Diese Skizzen überragen nicht nur alles, was er bisher gesehen hat, sondern üben eine magische, geradezu gefährliche Anziehung auf ihn aus. Zu gefährlich für Hobrecht …

    David Schönherr erzählt in seinem ersten Roman die ungeheuerliche Geschichte des jungen Genies Ferdinand Meerten, der mit seinen Zeichnungen die Welt veränderte. Denn mit seinem außergewöhnlichen Talent trifft er die Menschen schon als Kind bis ins Innerste, verzaubert sie und stürzt sie ins Unglück: den Maler Bros, dem er ungeahnten Erfolg schenkt; die sagenumwobene Lucia Giannotti aus dem Wald; die schöne Magd Flora und den hartnäckigen Kunsthändler Gerlach, der sich von Ferdinands Bildern nicht weniger als Unsterblichkeit verspricht.

    Der Widerschein ist eine phantastische und geheimnisvolle Fabel über Sehnsüchte und Gier, über geheime Wünsche und Schwächen und eine unglaubliche Reise durch die Niederlande nach dem Goldenen Zeitalter.

    »EIN PHANTASTISCHER ROMAN ÜBER DIE MACHT DER KUNST IN FINSTERER ZEIT: ALS HÄTTEN SICH DIE GEBRÜDER GRIMM MIT PIETER BRUEGEL ZUSAMMENGETAN.«

    Christoph Peters

    David Schönherr

    Der

    Widerschein

    Roman

    fva_Logo_Schrift.tif

    Gott erschuf die Welt;

    die Niederländer erschufen die Niederlande.

    Niederländisches Sprichwort

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Fünftes Kapitel

    Sechstes Kapitel

    Erstes Kapitel

    Die Niederlande steckten in einer schweren Krise. Jahrhundertelang hatte jener Landstrich einen Erfolg nach dem anderen errungen, so dass es nur konsequent war, diese legendäre Ära im Nachhinein als Goldenes Zeitalter zu bezeichnen.

    Im Anschluss an diese große Zeit bedauerten die Niederländer verständlicherweise das Ende jener Epoche. Denn das achtzehnte Jahrhundert meinte es mit den Bewohnern jenes flachen Landes nicht gerade gut.

    Wo früher Entdecker und Erfinder die Menschen mit Substanz und Seele bereichert hatten, machten sich nun Angst und Zweifel breit. Während in der Welt bedeutende Kriege um Geist und Materie entbrannten, legte sich über jenes Land eine bedenkliche Trägheit, dicht gefolgt von Armut und Elend. Kein einziger Niederländer machte sich nach jenen goldenen Tagen einen Namen, der nicht von den Vorbildern berühmter Staatsmänner, hervorragender Wissenschaftler und vor allem glorreicher Künstler um Längen überragt wurde.

    Aus den deutschen Landen hörte man seitdem des öfteren die Redensart, die Niederländer würden ihrem Namen nun endlich gerecht werden.

    Die Bewohner des flachen Landes taten nun das, was sie in all den Jahren zuvor offenbar nicht getan hatten: Sie blieben daheim, bestellten das baumlose Land und warteten auf bessere Zeiten. Man arbeitete von früh bis spät, um Schulden und Steuern zu begleichen, ließ sich gern vom Schlaf überwältigen und träumte insgeheim bereits am Montagmorgen vom Samstagabend.

    Man vergaß leider, was an den goldenen Zeiten früher so gut gewesen war.

    Allein der Gedanke, etwas Wichtiges vergessen zu haben, blieb in vielen Köpfen lebendig.

    Seitdem bedauerten die Niederländer vor allem sich selbst.

    * * *

    Bedauern und Sorgen waren das tägliche Brot von Pfarrer Hobrecht – was diesen jedoch in keiner Weise bedrückte, sondern den bedeutsamsten Teil seiner Arbeit ausmachte. Bereitwillig und aufmerksam hörte er sich die Nöte und Ängste seiner Kirchgänger an, sagte ihnen Hilfe und Unterstützung zu und brachte sich bei der Lösung besonders hartnäckiger Probleme regelmäßig um seinen dringend benötigten Schlaf.

    Der Pfarrer, so hieß es, sorgte sich vorbildlich darum, dass kein einziges Schäflein seiner Herde jemals verloren ging.

    Auf Grund dieser allseits bekannten Hilfsbereitschaft erreichten den Pfarrer fast täglich die unterschiedlichsten Gesuche, Bitten und Anfragen, die seine kirchlichen Pflichten mehr und mehr in den Hintergrund drängten.

    Meist ging es bloß um Brot, warme Kleidung für den drohenden Winter oder die Bitte um Almosen; einmal war Hobrecht aber im Laufe eines solchen Gespräches die Leitung der städtischen Schule übertragen worden, und kurz darauf hatte er sich überreden lassen, eine Trauung in einer der umliegenden kleineren Ortschaften zu vollziehen – woraufhin nun auch andere Dörfer und größere Gehöfte von ihm forderten, dass er bei ihnen mindestens aus der Bibel vorlesen sollte.

    Überhaupt kam man vor allem dann zu Hobrecht, wenn der Schuh wirklich drückte, wenn die Frauen unter Migräne litten oder man ein tiefes Loch in den Zähnen entdeckt hatte – Hobrecht war dafür bekannt, für alles einen Ausweg zu finden.

    * * *

    Nach dem Besuch in einer entfernten Gemeinde wurde Hobrecht wie gewohnt von zahllosen Bittstellern umringt. Die Sonne war im Begriff unterzugehen, das Ende des Tages war für den Pfarrer noch lange nicht in Sicht. Man bedrängte ihn von allen Seiten, forderte mit Nachdruck die Herausgabe von Almosen und verlangte nach Brot. Hobrecht drückte allen sein Mitgefühl aus, versprach umgehende Unterstützung und bekam kaum mit – bedingt durch die Fülle der Fragen und das gleichzeitige Nachdenken über mögliche Lösungen –, wie müde und erschöpft er eigentlich war.

    Selbst auf dem spät angetretenen Heimweg wurde Hobrecht um ein Gespräch gebeten – unglücklicherweise von einem landläufig bekannten Taugenichts, der meistens mit ausdrucksloser Miene durch die Gegend lief, gelegentlich aber lautstark das Ende der Menschheit verkündete, um danach angeblich tagelang seinen Rausch auszuschlafen.

    Überraschend deutlich begann jener Mensch zu sprechen: Er benötige den Beistand des Herrn Pfarrer, sofort, sofort! Der Verrückte machte einige hastige Bewegungen um Hobrecht herum, Schrittchen, Sprünge, Tänzeleien – ein wahnwitziges Schauspiel! Ebenso unerwartet blieb der Mann jedoch plötzlich stehen, so dass er vom letzten Licht des Horizonts beschienen wurde; ein zartes Flimmern umspielte seine nun erstarrten Umrisse.

    Erst nach einem Moment bemerkte Hobrecht, dass sein Gesprächspartner ein unförmiges Bündel aus Lumpen und zerschlissenen Decken auf dem Arm hielt, in dem er unscharf das Gesicht eines etwa drei- oder vierjährigen Kindes erblickte, tief und fest schlafend.

    In wirren Worten und Sätzen erfuhr Hobrecht nun, dass es sich bei diesem Jungen um einen gewissen Ferdinand Meerten handelte, der mittlerweile leider beide Elternteile verloren hatte: den Vater durch Einrückbefehl, die Mutter starb, vermutlich an der Schwindsucht – der Mann selbst schien ein Onkel von jenem besagten Ferdinand zu sein.

    Der Pfarrer nickte, obwohl er vor Müdigkeit kaum noch zuhören konnte. Das Tageslicht war vollständig verschwunden, Hobrecht erkannte in der Dunkelheit nur noch die Umrisse des Mannes. Zum Glück war dem Pfarrer durch seine langjährige Erfahrung schnell klar, worauf dieses Gespräch hinauslief. Bereitwillig und geduldig hörte er zu, nickte aufmunternd in die Nacht hinein und wartete, bis dieser Mensch zum Ende seiner Rede kam: Er, ein einfacher Mann, in seinem Zustand, ohne Rückhalt einer guten Familie, er sei doch völlig unfähig, für das Heranwachsen des Kindes zu sorgen, solch ein liebes Geschöpf, ein guter Junge, ein vorbildliches Kind. Er hoffe da auf das Verständnis des Herrn Pfarrer – und natürlich dessen tatkräftige Unterstützung.

    Schnell traf man eine Vereinbarung, die Hobrecht bereits erwartet hatte. Ferdinand solle noch heute durch den Herrn Pfarrer zu einer anderen Familie gegeben werden, die gegen eine entsprechende Bezahlung die Aufzucht von Waisen anbot. Sobald das Kind groß genug sei, dürfe es zudem in die vom Pfarrer geleitete Dorfschule gehen.

    Hobrecht steckte das Geld des Onkels ein und nahm den schlafenden Jungen an sich.

    Ein Räuspern, das einem Bellen gleichkam, drang aus der Kehle des Onkels.

    Allerdings gebe es da noch eine Kleinigkeit, die erwähnt werden müsse.

    Hobrecht hielt das Bündel auf dem Arm, fragend sah er in die Richtung, aus der die Stimme des Onkels gekommen war.

    Dieses Kind, der Onkel flüsterte nun, es habe zu ihm gesprochen.

    Unerwartet trat der Onkel sehr nah an den Pfarrer heran, so dass Hobrecht zum ersten Mal das Gesicht seines Gegenübers erkennen konnte: starrende Augen, ein schiefer Mund ohne Zähne, die Wangen mit Falten wie Narben. Das Flüstern steigerte sich erneut zu einem Bellen.

    Gesprochen!

    Aber nicht wie sonst, nicht wie sonst!

    Sondern, sondern!

    In seinem Kopf!

    Und nun musste sich Hobrecht trotz quälender Müdigkeit und Dunkelheit die merkwürdige Geschichte des Onkels anhören, in der von Bildern, Visionen und anderen Hirngespinsten die Rede war; der Junge sei eine Art Künstler, äußerst geschickt – aber auch unheimlich. Und die Stimmen in seinem Kopf – der Onkel riss die Augen noch weiter auf, sein Gesicht kam bedrohlich nah an Hobrechts Nasenspitze heran, dann machte er einige ausladende Handbewegungen in der kalten Luft, tänzelte unruhig auf der Stelle herum – aber nun, plötzlich, da schwieg er auf einmal. Vorsorglich erteilte der Pfarrer dem Onkel einen zusätzlichen Segen, verabschiedete sich zügig und lief in die Nacht hinein.

    Im Weggehen betrachtete der Pfarrer das Bündel, schüttelte den Kopf. Das Kind sah nicht aus, als ob es mit ihm reden wollte, schon gar nicht in seinem Kopf.

    Es schlief unbekümmert weiter.

    Ferdinand Meerten schien in der Tat ein vorbildliches Kind zu sein.

    * * *

    Hobrecht grübelte.

    Es komme ihm mittlerweile so vor, als ob man seit einiger Zeit seine Hilfsbereitschaft viel zu selbstverständlich voraussetzen würde. Jene Menschen, diese bedauernswerten Geschöpfe, die ihm von Klagen, Problemen und tief sitzenden Leiden berichteten, für die weder Gott noch er als Mann der Kirche verantwortlich sei – hier gehe es um weltliche Dinge, die mit etwas gutem Willen jeder selbst lösen könne.

    Als ob es beispielsweise seine Aufgabe sei, Findelkinder wie diesen Ferdinand Meerten aus der Welt zu schaffen.

    Seine beiden Mägde, die neben ihm saßen, nickten verständnisvoll und sahen mit warmen Augen auf das schlafende Kind. Hobrecht blickte von seinem Teller auf, zeigte mit dem Löffel nach oben.

    Ein Zeichen des Himmels sei es, dass sich in allen bisherigen Fällen ein Waisenhaus gefunden habe, welches diese gottlosen Wesen aufnehmen konnte – nur eben dieses Mal leider nicht.

    Es raschelte, der Pfarrer warf einen nachdenklichen Blick auf die Wolldecke, in die Ferdinand eingewickelt war.

    Unscheinbar sei das Kind – aber zu groß, als dass man es einfach übersehen könne.

    Die eine der Mägde streckte ihre Hand aus, strich dem Jungen zärtlich über die Wange.

    Hobrecht seufzte.

    Keines der zahllosen Waisenhäuser, die auf seinem Heimweg gelegen hätten, habe das Kind annehmen wollen.

    Dieses niedliche Wesen ins Waisenhaus zu geben, so was! Sie habe gehört, für die Kinder seien solche Orte die reinste Hölle!

    Erstaunt hob Hobrecht seinen Blick, sah, dass eine Magd das Kind auf den Schoß genommen hatte und behutsam streichelte, während die andere ihm einen Becher mit Milch an die Lippen setzte.

    Dieser goldige Junge – so ein feines Lächeln – ein wahrer Segen.

    Beide schauten den Pfarrer bittend an.

    * * *

    Von da an bekam Hobrecht über Ferdinand einiges zu hören – Ereignisse, die dem Pfarrer oftmals nicht sehr behagten. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren wurde er allerdings täglich weiter in weltliche Aufgaben und angetragene Schwierigkeiten verwickelt und konnte sich kaum die Hälfte all der Vorfälle merken, die Ferdinand betrafen. Aber schon die wenigen Gerüchte, die er über dessen offensichtliche Torheiten erzählt bekam, ließen ihm die Haare zu Berge stehen – vor allem, wenn er sich dazu die letzten Worte von Ferdinands Onkel ins Gedächtnis rief.

    Da half es auch nichts, dass die Mägde den Jungen in ihre Obhut genommen hatten oder dass Ferdinands Onkel ihm erstaunlich viel Geld gegeben hatte, um das Heranwachsen des Jungen zu sichern.

    Hobrecht spürte ein leises Unwohlsein in sich anwachsen.

    Es gab jedoch eine Eigenschaft an Ferdinand, für die Hobrecht all diese unschönen Angelegenheiten gern in Kauf nahm, ja, sich insgeheim freute, den Jungen bald täglich sehen zu können, wenn dieser dann endlich zu ihm in die Schule gehen würde.

    Dieser Junge, Ferdinand Meerten, war tatsächlich ein Künstler, genau wie es der Onkel verkündet hatte.

    Kaum dass er einen verrußten Stock in die Hand bekommen konnte, malte und zeichnete er auf Tücher und Stoffe, sogar an Hauswände oder in den Sand des Flussufers. Wo immer er ging und stand, erschuf er so exakte Abbilder von Mensch, Tier und Natur, dass die Mägde ihm von ihrem eigenen geringen Lohn Papier und Kohle besorgten, um seine Werke haltbarer zu machen. Bald wollte jeder, der von dieser wunderbaren Fähigkeit wusste, ein Bild von ihm haben.

    Auf dieses einmalige Talent war Hobrecht aus.

    In seiner Jugend hatte der Pfarrer aus einer Laune heraus ein Marienbild begonnen, welches bisher Fragment geblieben war, dessen Vollendung Hobrecht aber nach wie vor erhoffte.

    * * *

    Neue Schüler empfing Hobrecht stets Anfang Mai. Der Größe nach wurden die Kinder vor ihm aufgereiht und hatten dem Pfarrer ihren Namen, ihr Alter und den beruflichen Werdegang der Eltern zu nennen. Kaum allerdings, dass die Schüler ihre Antworten herunterleierten, spielten sich in Hobrechts Kopf umfangreiche Szenen ab: Die bloße Erwähnung von bestimmten Namen führte dem Pfarrer all die Sorgen dieser armen Geschöpfe bildlich vor Augen. Die Gesichter der Kinder, ihre wenigen Worte und die damit verbundenen Probleme der Eltern bildeten in Hobrechts Kopf endlose ineinander verschlungene Gedankenketten, vermengten sich zu einem heillosen Wirrwarr und ließen den Pfarrer völlig aus den Augen verlieren, wo er sich gerade wirklich befand.

    Erst als Hobrecht vor Ferdinand trat, blieb er einen Moment lang stehen, erwachte aus seinen Gedanken und lachte überrascht auf. Ferdinand erinnerte ihn an keine tragischen Geschichten, verband sich mit keinen traurigen Gesichtern oder sonstigen leidvollen Ereignissen. Trotzdem löste der Anblick dieses Jungen in Hobrecht eine Erinnerung aus. Nichts, was ihm jemand erzählt oder gezeigt hätte – es war etwas anderes. Hobrecht stand lange vor Ferdinand, dann begriff er auf einmal, was es war: Ferdinand erinnerte ihn an sich selbst.

    Durch das nebensächliche Betrachten dieses unscheinbaren Kindes erkannte Hobrecht, dass er eine eigene Geschichte, eigene Gedanken besaß – und damit natürlich auch ganz eigene Sorgen. Nicht viele – aber erst jetzt fiel Hobrecht auf, dass er selbst keineswegs sorgenfrei war: Da war die juckende Narbe an seinem Knöchel, die er manchmal unbewusst aufkratzte; sein enges, feuchtes Bett, in dem sich unsichtbare Wanzen und Krabbeltierchen eingenistet hatten; und zuletzt war da das unvollendete Bild, das er fast schon wieder vergessen hatte. Je länger Hobrecht da stand und nachdachte, desto mehr Unannehmlichkeiten fielen ihm ein, die ganz allein ihn selbst betrafen.

    Im Vergleich zu der ihm von anderen angetragenen Masse an Beschwerlichkeiten waren es nur wenige bedeutsame Umstände; genug jedoch, um den Pfarrer urplötzlich zu verwirren und zuletzt zu einem erneuten Lachen zu verleiten.

    Angefüllt mit den verdrängten Erinnerungen wandte Hobrecht sich abrupt dem Pult zu,

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