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Ein bißchen Glück für später
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Ein bißchen Glück für später
eBook409 Seiten5 Stunden

Ein bißchen Glück für später

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Über dieses E-Book

Seine fast ausnahmslos in Ich-Form erzählten Kurzgeschichten führen in die skurrile Welt des nachkommunistischen Neureichtums, aber auch der bitteren Armut, der Verlierer, der Loser. Wir treffen auf Außenseiter, auf Sadismus und Zynismus, Geldsucht und Macht. Wir werden mit der Agonie der alten Welt konfrontiert. Wir staunen, mit welchem Erfindungsreichtum die neuen aufstrebenden Eliten im heutigen Bulgarien das vermeintlich Versäumte nachzuholen imstande sind.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum5. Nov. 2014
ISBN9783990470060
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    Buchvorschau

    Ein bißchen Glück für später - Palmi Ranchev

    Inder

    Ruhe und Stille

    Wahrscheinlich hatten sie am Anfang noch geklopft, und erst später begannen das Hämmern mit den Fäusten und die Tritte gegen die Tür, die nur aus einer einfachen Spanplatte bestand.

    – Hab keine Angst! – sagte ich zu dem Mädchen, das mit gespreizten Beinen im Sessel an der Wand saß. – Ich suche nach einem Ort, an dem wir es tun können.

    – Was heißt da, ich soll keine Angst haben?! – rief es aus. – Wie lang tigerst du jetzt schon durchs Zimmer? Ist doch ganz normal, daß ich mir denke, daß ich schon wieder an einen Psychopathen geraten bin.

    – Ich kann es nicht überall tun.

    – Ich hab schon kapiert, daß du keinen hochkriegst. Aber du mußt mich auch verstehen.

    – Wegen dem da draußen?

    – Ich hab ihn angerufen, weil ich es mit der Angst bekommen hab.

    – Ruf noch mal an, ich bitte dich.

    – Ich weiß nicht, wie er reagieren wird. Möglich, daß ich ein paar Ohrfeigen einstecken muß. Du weißt schon, wegen dem falschen Alarm.

    – Ich zahle noch zwanzig Leva drauf. Reicht das?

    – Das werden wir gleich rausfinden – sagte sie und flüsterte etwas in ihr Handy. – Alles okay! Wir können es tun, wo immer du willst.

    – Der Ort ist immer verschieden. Manchmal ist es der Sessel, in dem du gerade sitzt. Ein andermal liegt er ganz am anderen Ende des Zimmers. Denkst du, das ist abartig? Eine Perversion? Ein krankhafter Zustand?

    – Weiß nicht.

    – Sag schon. Was denkst du?

    – Mir sind die Nullachtfünfzehntypen lieber.

    Mir gefiel dieser ruhige Tonfall, mit dem sie die aufgetretenen Probleme erörterte. Und auf dieselbe Art und Weise, sogar noch ruhiger, werde ich versuchen zu erklären, warum ich mir Mädchen nach Hause bestelle.

    Der Hauptgrund ist ihre Pünktlichkeit. Das Finden des passenden Ortes, an dem ich die Bestellung »konsumieren« kann, wie man so sagt, ist für mich immer schwierig. Aber es ist doch erheblich leichter für mich, wenn ich weiß, um wieviel Uhr das Mädchen kommen wird. Ich sitze auf der Couch, rauche Zigaretten und bringe mich mit vor Erregung zitternden Knien in Stimmung. Höre ich die Klingel, drei Mal, wie ich es mir auserbeten habe, stehe ich immer viel zu abrupt auf, und für gewöhnlich taumle ich. Die Begrüßung, die prüfenden Blicke – meiner und ihrer –, mit denen jeder von uns beiden zu bestimmen versucht, was für ein Mensch sein Gegenüber ist, und auch alles andere in diesen ersten Minuten vergeht sehr schnell. Ich messe dem keine besondere Bedeutung bei. Das bedeutet jedoch nicht, daß ich mich mit der Zeit sicherer fühle. Ganz im Gegenteil. Je näher der hauptsächliche und wichtigste Teil des Erlebnisses rückt, desto mehr verliere ich die Orientierung. So ging es mir bis vor einer halben Stunde. Jetzt war alles schon wieder ganz anders. Ich hatte den Anfang gemacht, den wesentlicheren Teil hinter mich gebracht und wartete darauf, wann ich in der Lage sein würde, zur Tat zu schreiten.

    Ich fuhr fort, durchs Zimmer zu wandern. Ich lauschte mit verschleiertem Blick, ich schloß beinahe die Augen und erstarrte, um mich von allen äußeren Einflüssen zu befreien. Nur ab und zu sah ich zu ihr hinüber – sie saß immer noch im Sessel, hatte ein Bein hochgezogen, das Knie ragte scharf zur Seite hinaus. Sie hatte jene komischen Unterhosen an, die man »Tanga« nennt. An den Hüften war sie ein wenig breiter, als es mir gefällt. Sie hatte genau drei Falten auf dem Bauch. Deutlich umrissen und tief. Ich hasse Mädchen mit mehr als drei Falten. Ihr Äußeres stand also, wie man so sagt, auf der Kippe. Es war eher erträglich und störte mich nicht weiter. Längst schon war es wichtiger, wann sich das Auge, das sich die ganze Zeit hinter mir und über mir befand und mich verfolgte, schließen würde. Dann würde das Summen aufhören, ich würde mich beruhigen, wieder zu einem normalen Menschen werden und die erwünschte Stille hören.

    – Gefall ich dir? – fragte das Mädchen und öffnete ihre Schenkel um noch ein paar Grad. – Wenn du so weit bist, dann laß uns doch anfangen.

    – Warte noch ein bißchen.

    – Kein Problem – sagte sie, drehte sich zur Seite und zog auch das andere Bein auf den Sessel. – Es stört dich doch nicht, daß ich mich ein bißchen ausgezogen hab?

    – Ich brauche nur noch ein klein wenig Stille – flüsterte ich, während ich ihre dreieckigen, spitzen Hängebrüste anstarrte, und ich trat näher, wobei ich aufmerksam lauschte. – Ich spüre, daß ich ganz nah dran bin. Irgendwo hier ist es!

    – Mach, was du willst. Du hast bezahlt, du weißt ja, für wie lang. Plus einen Zwanziger für die Aufregung.

    – Ich brauche nur noch ein paar Minuten.

    – In letzter Zeit hab ich nur solche – murmelte sie. – Was ist bloß aus den normalen Männern geworden?

    Ich bewegte mich weiter an der Wand entlang. Mich schauderte bei dem Gedanken, sie könnte erneut zu sprechen beginnen. Und sicher deswegen, weil sich alles schon viel zu lang hinzog, wurde das Summen in meinem Kopf unerträglich. Es war nicht mehr das gewöhnliche Geräusch, an das ich mich schon gewöhnt hatte, sondern wie eine elektrische Bohrmaschine – unbarmherzig höhlte sie mein Gehirn aus. Vergeblich versuchte ich, mich zu konzentrieren. Ich wußte, daß dieser Blick, die vermeintliche Ursache für das Geräusch, nicht real war. Die Vorhänge waren dick, ich hatte auch Jalousien an den Fenstern. Es war unmöglich, daß ein fremdes Auge sah, was ich tat. Mehr noch – hinter mir und über mir – wo ich es die ganze Zeit über wähnte. Der Blick, das wußte ich, war eigentlich nur das Gefühl, daß jemand mich beobachtete. Und wie gewöhnlich in solchen Situationen kehrte ich bald zu dem Nachmittag im August zurück, als ich das Geräusch zum ersten Mal hörte.

    Ich ging bei der Eisernen Brücke spazieren, einem wichtigen Ort meiner Kindheit. Ich war unschlüssig, ob ich zum Fluß hinuntergehen oder auf einen der nahe gelegenen Hügel hinaufsteigen sollte. Ich ging bergan, sicherlich weil es noch zu kalt zum Baden war. Ich durchquerte das schüttere Wäldchen und ging weiter zu der Anhöhe, auf der ich mich gern im Gras ausstreckte. Ich stieg auf den Gipfel, und fast sofort sah ich auf der anderen Seite zwei Frauen – nackt und wunderschön. Ich duckte mich, um nicht bemerkt zu werden. Die eine war älter und kräftig gebaut, die andere, die ich als »meine« deklarierte, hatte wahrscheinlich ungefähr das gleiche Alter wie ich. Sie lagen auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, auf zwei weißen Laken. Nach einer halben Stunde, die auch ein halbes Jahr oder ein halbes Jahrhundert hätte sein können, drehte sich die kräftigere träge und ohne sich aufzurichten auf den Bauch. Ihre großen Brüste gerieten in Bewegung, hingen schwer hinab und beruhigten sich wieder, als sie ihren Platz unter den beiden Achselhöhlen gefunden hatten, aus denen schwarze Haare hervorquollen. Dann spürte ich, daß ich keine Luft mehr bekam. Mein Wunsch, ihre Schönheit wie Luft in mich aufzunehmen, sie vollständig und bis zum Ende einzuatmen, war schwindelerregend und unerträglich.

    Ich hatte mich auf die Ellenbogen gestützt und atmete stoßweise. Ohne zu begreifen, warum, begann ich zurückzuweichen, indem ich über das feuchte Gras kroch. Ich richtete mich erst auf, als ich sicher war, daß die beiden mich nicht bemerken würden. Ich betrachtete meine vorn ausgebeulte Hose und schämte mich, daß ich es nicht länger ausgehalten hatte. Ich dachte mir: Bis zum Ende! … Ich hätte bis zum Ende bleiben müssen! … Ohne sicher zu sein, was das in diesem Fall bedeutete. Unentschlossen rannte ich wieder hinunter zum Fluß. Es schien mir vollkommen natürlich, als ich im Steilen stolperte, ich fiel vornüber, der Himmel überschlug sich, er wurde zu grünem Gras – und dann wieder zu Himmel, als ich mich zum letzten Mal überkugelte. Ich hatte keine Schmerzen, ich spürte meinen Körper nicht einmal, und ich blieb liegen. Es mußte erst einige Zeit vergehen, bis ich wieder vollständig zu mir gekommen war. Die Erregung und mein schneidender Atem, an den ich mich nur unklar erinnerte – mehr erstaunt darüber, daß ich auf diese unbeherrschte, sich jeglicher Kontrolle entziehende Art und Weise atmete –, hatten keinerlei Spuren hinterlassen. So als wäre ich nie in einem solchen Zustand gewesen. Unmerklich hatte sich alles verändert. Es wurde vollkommen gewöhnlich. Am Ende starrte ich eine große Ameise an, die im Zickzackkurs umherlief und sich offenbar nicht entscheiden konnte, welche Richtung sie einschlagen sollte.

    Die Nacht verbrachte ich am selben Ort. Ich unterhielt mich ganz leise mit der Ameise über die beiden Schönheiten – eher Geräusche und Andeutungen als exakt geordnete Wörter –, und meine Erregung wurde aufs neue unerträglich. Wieder atmete ich so, daß ich mir nicht sicher war, ob ich es war, der atmete, oder ob jemand mit einem größeren Bedarf an Luft meinen Mund und meine Lunge verwendete. Ein Ausbruch, der langsam in einer sich ergießenden, weichen und beruhigenden intimen Feuchtigkeit endete, die mich mit der Erinnerung an die nachmittägliche Hitze verband. Ich wachte auf, oder mir schien es nur so, als sei ich wach, und ich glaube, fast augenblicklich schlief ich wieder ein. Am Morgen schlüpfte ich in meine Hose, die voller Grasflecken war, und ohne zu frühstücken machte ich mich auf zur Eisernen Brücke. Es kam mir so vor, als hätte ich erneut eine Chance, wenn ich noch einmal dieselbe Route wie gestern ginge. Und umgekehrt, jede Abweichung würde mich nur weiter vom bereits Erlebten entfernen. Ich war mir schon sicher gewesen, daß mein Eifer und meine Hoffnungen vergebens waren, als ich sie plötzlich wieder erblickte. Sie lagen ein wenig weiter abseits, im tiefsten Teil des kleinen Tals, und ich konnte sie von meinem alten Platz aus, das Kinn in die Handflächen gestützt, beobachten oder mich, wenn es sein mußte, hinter dem kleinen Vorsprung verstecken. Noch schwerer bemerkbar machte mich das Gras, das vor meinem Gesicht emporragte.

    Bald, ohne ein Geräusch zu hören oder jemanden zu sehen, spürte ich, daß ich nicht allein war. Einfach so, ich war mir sicher. Und trotzdem schloß ich die Augen in der Hoffnung, mich von dem unangenehmen Gefühl befreien zu können. Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich seine Gestalt in ungefähr zwanzig Metern Entfernung. Er lag wie ich auf dem Bauch. Ich sah ihn nicht sehr deutlich. Er war quasi mein Spiegelbild auf der anderen Seite des Hügels, und wie es aussah – wesentlich älter als ich. Seine unerwartete Anwesenheit hatte keine übermäßige Bedeutung. Ich versuchte mir einzureden, daß sich fast nichts verändern würde, wenn er sich nur so verhielt, wie es sich gehörte. Die Frauen würden auch mehr Beobachter aushalten. Da war genügend Schönheit für uns beide. Es gab sie sogar im Überfluß. Doch bereits nach wenigen Minuten war ich sicher, daß er die Frauen nur anfänglich beobachtet hatte. Die andere Zeit über, während ich meinen Blick über die Körper der beiden nackten Schönheiten tanzen ließ, starrte er zu dem kleinen Hügel hinüber, hinter dem ich mich befand. Das Bild nahm bald deutlichere Konturen an. Seine Pose ähnelte nur der meinen. Doch sonst war er aktiver – er hatte sich auf die Seite gedreht und auf seinen Ellenbogen gestützt, mit seiner anderen Hand holte er sich einen runter. Ich fragte mich wirklich, warum ich es nicht gleich bemerkt hatte. Ich fühlte mich wie in einem öffentlichen Bad, inmitten von häßlichen und widerwärtigen Männern. Ich robbte davon, und als ich außer Sichtweite der beiden Frauen war, sprang ich auf und rannte in einem weiten Bogen auf ihn zu. Er beobachtete mich noch eine gewisse Zeit lang, ohne sich zu rühren, dann stand er auf und rannte ebenfalls los.

    Mit ein wenig Erleichterung bemerkte ich, daß sich die Entfernung zwischen uns rasch vergrößerte. Egal wie wütend ich auch war, ich wollte ihn nur verjagen. Um dann wieder zu dem kleinen Hügel zurückzukehren. Schließlich verlor ich ganz die Lust, ihn zu verfolgen. Ich fluchte einmal laut, damit er mich hörte, und danach noch einmal nur für mich selbst. Ich drehte ihm den Rücken zu und kehrte im Laufschritt, soweit es die Steilheit des Geländes zuließ, zurück. Ich wohnte dem fälligen langsamen und noch trägeren Sich-Umdrehen auf den Bauch bei. Die Brüste schaukelten, hingen schwer hinab, danach legten sie sich auf die Seite und beruhigten sich wieder. Damals hörte ich zum ersten Mal das Summen. Jener beobachtete mich wieder. Ich konnte es nicht glauben – was für eine Unverfrorenheit! Noch verärgerter als das erste Mal robbte ich zurück. Ich stand auf und rannte zu der Stelle, von der ich ihn verjagt hatte. Doch dort war niemand. Nur das Gras war ein wenig niedergedrückt. Ich kroch zurück und hörte erneut das Summen. Bald darauf trat Stille ein, die sich erhob und sich hoch über mir hielt, danach explodierte der befreite Raum, brach in mächtigen Stößen aus und ergoß sich in unbeschreiblicher Seligkeit. Damals wußte ich noch nicht, daß ich, ohne speziell danach zu suchen, den passenden Ort gefunden hatte.

    – Laß es uns zumindest versuchen – schlug das nackte Mädchen vor.

    – Warte! Ich habe doch für zwei Stunden bezahlt.

    – Soll ich vielleicht das Licht ausschalten?

    – Nein, nein, das Licht hat keine Bedeutung – sagte ich und atmete erleichtert auf. – Da ist er, mein Ort für diesen Abend.

    Das Geräusch war verschwunden – ich fühlte schon die tiefe Stille, die sich allmählich erhob, und den Tanz auf ihrer sprudelnden Fontäne voraus – als man von neuem gegen die Tür zu hämmern begann. Wieder hörte ich die Bohrmaschine: z-z-z-z-z … Sie hörte nicht auf, sosehr ich meine Handflächen auch auf die Ohren preßte. Sie schabte und bohrte sich immer tiefer hinein. Ich war mir nicht sicher, ob in mein Gehör, in mein Gehirn oder direkt in mein ganzes Wesen. Ich begriff nicht, was vor sich ging. Ich verspürte keine Schmerzen. Aber das Gefühl von etwas Fatalem und Unvollendetem war so stark, daß ich es kaum aushielt. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Nur noch wenige Sekunden, und das Geräusch würde meinen Kopf zum Bersten bringen. Das Mädchen, gleichsam vorausahnend, was geschehen würde, begann unerwartet zu kreischen. Schließlich, nach einem stärkeren Schlag, gab die Spanplatte mit einem kurzen dumpfen Geräusch nach. Ich hatte den Kopf gesenkt und hielt mir die Ohren mit den Handflächen zu. Ich sah ihn nicht an – wer auch immer es war, der da hereingekommen war. Ich stellte mir vor, daß sein Gesicht das gleiche war wie das von jenem, den ich in meiner Kindheit aus der Ferne gesehen und später verfolgt hatte. Ohne sicher zu sein, was ich getan hätte, wenn ich ihn eingeholt hätte.

    Tittenjule und der Zauberstab

    Ich schlenderte schon seit einiger Zeit durch die Straßen rund um den »Slavejkov«-Platz, und das einzige, was ich mit vergleichsweise konstantem Interesse tat, war, zum Himmel hinaufzuschauen. Es würde Regen geben, einmal begann es sogar zu tröpfeln. Ich versuchte, dem keine weitere Beachtung zu schenken. Und es kam mir so vor, als hörte der Regen auch nur deswegen wieder auf. In diesem Moment sah ich zur Seite, überquerte mit dem Blick die Straße, wenn man so sagen kann, und sah Jule. Sie ging auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Fast augenblicklich wurde klar, daß nicht nur ich sie, sondern sie auch mich bemerkt hatte. Sie winkte und lächelte mir zu. Sonst wäre ich vielleicht weitergegangen. Keine Frage, sie gefällt mir. Aber sooft ich auch versuchte, sie mit nach Hause zu nehmen, in der Annahme, daß unsere Beziehungen dort auf eine andere Ebene übergehen würden, erlebte ich nur Enttäuschungen. Danach zischte ich machtlos, ballte die Fäuste und, ich gebe es zu, führte sogar Selbstgespräche. Gingen wir irgendwohin aus, geschah jedesmal das gleiche, sie konfrontierte mich mit anderen wie mir, also solchen, denen sie auch gefällt und die sie an denselben oder einen ähnlichen Ort mitnehmen wollen. Oder was noch schlimmer, um nicht zu sagen geradezu abstoßend war, manchmal befand ich mich plötzlich in der Gesellschaft von Leuten, die sie schon einmal dorthin mitgenommen hatten. Meine Verabredungen mit ihr verliefen immer nach demselben Drehbuch. Und beim letzten Mal hatte ich mir nicht nur geschworen, ihr keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken, sondern ihr auch ganz aus dem Weg zu gehen.

    Jetzt verstehen Sie vermutlich, warum ich mir dachte, ich wäre weitergegangen, wenn sie mich nicht gesehen hätte, auch wenn mich das seelisch ein wenig erschüttert hätte. Aber nachdem sie mir zugewinkt hatte mit ihrer kleinen Hand – schmal und mit langen Fingern, die sie vor den majestätischen Brüsten gespreizt hatte, die noch majestätischer aussahen, wenn man sie im Profil sah – und danach sogar lächelte, überquerte ich die Straße. Wir plauderten über gemeinsame Bekannte, und sie richtete das Revers meines Sakkos; sie lächelte immer noch, gerade so, als entdeckte sie immer etwas bedeutend Unterhaltsameres als das, was ich sagte. Bald fanden wir heraus, daß wir beide kein spezielles Ziel hatten. Das heißt, ohne weiter drum herumzureden, wir waren bereit, gemeinsam weiterzuziehen. Mein Wunsch, wie auch schon bei den vorhergehenden Treffen, war sogar noch konkreter.

    – Ich habe die Schnauze voll davon, allerlei Serben, Türken, Albaner und sonstigen Abschaum kennenzulernen – erklärte ich offenherzig. – Ich will mit dir allein sein. Oder daß du mir zumindest mehr Aufmerksamkeit schenkst als deinen unerwartet auftauchenden … nenn sie, wie du willst.

    – Sag schon, worauf hast du Lust? – fragte sie.

    – Ist mir egal – erwiderte ich und breitete großmütig die Arme aus. – Aber du sollst mir deine Aufmerksamkeit schenken und nicht jemand anderem.

    – Immer wenn wir zusammen sind, schenke ich dir meine volle Aufmerksamkeit. Du hältst bloß nie bis zum Schluß durch. Immer bist du wegen irgendwas beleidigt, ärgerst dich, manchmal ganz ohne Grund, und gehst, bevor der Abend richtig angefangen hat.

    Ich breitete die Arme aus, um meinem Nichteinverständnis Ausdruck zu verleihen. Ich hatte keine Lust, ihr anhand konkreter Fakten zu widersprechen. Aber es gab sie. Und so schnell wie ich sie vergaß, so schnell konnte ich mich auch wieder an sie erinnern. Zum Beispiel erinnerte ich mich, ohne lange darüber nachdenken zu müssen, daran, wie sie sich das letzte Mal hatte vollaufen lassen. Anfangs war es amüsant. Aber, wie gesagt, eben nur am Anfang. Danach begann sie, immer verrückter zu werden. Aber nicht, wie sie es normalerweise ist und wie sie mir gefällt. Und entsprechend wurde es auch immer schwieriger, ja geradezu unmöglich, sie unter Kontrolle zu halten. Nichts Besonderes, aber, sagen wir einmal, es wäre schön, würde sie nur ein wenig normaler aussehen – wie die anderen Frauen rundherum. Ich gebe zu, daß ich auch damals begeistert von ihr war, und ich verliebte mich sogar noch mehr in sie, aber gleichzeitig stellte ich schnell fest, daß sie sich von mir entfernte. Sie begann sich mit den Leuten an den benachbarten Tischen zu unterhalten, mit dem Kellner und dem Barkeeper, sie lud sie mehrere Male ein, sich zu uns zu setzen, sie brachte sie zum Lachen, und sie selbst lachte auch, und allmählich wurde sie zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

    Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Kognaks nötig waren, um zwei Albaner vom anderen Ende des Lokals an unseren Tisch zu rufen, die bald einstimmten, sie lachten und betatschten sie, so als würden sie einander schon seit vielen Jahren kennen; sie brachten ihr einige Brocken Albanisch bei, und bald holten sie ein Bündel Dollars hervor und begannen gänzlich unerwartet, sie an die Leute, die an unserem Tisch vorbeikamen, zu verteilen. Sie verfiel in eine unglaubliche Euphorie, riß ihnen das Geld aus der Hand, warf es über ihren Kopf oder verteilte es ebenfalls. Danach gingen die beiden aufs Klo, um eine Line zu ziehen, beim zweiten Mal luden sie auch sie ein, mich übrigens auch, was in diesem Fall aber keine besondere Bedeutung hatte; ich war schon drauf und dran zu gehen, als plötzlich drei uniformierte Bullen mit Schlagstöcken, Pistolen und sogar Taschenlampen auftauchten und an unserem Tisch stehenblieben. Es passierte nichts Besonderes. Die beiden versprachen, ihnen so viele Hundertdollarscheine zu geben, bis sie »Stop!« und »Wir gehen!« sagten, und die Bullen waren handzahm.

    Aber ich, sag mir, was konnte ich tun, besonders im Falle der uniformierten Bullen, denen sie, völlig unerwartet in Rage geraten, einen Vortrag darüber hielt, was für Abschaum und Arschkriecher sie doch seien. Bald begann sie auch die Albaner anzugehen. Jule ist lieb und sanft, wenn sie ihren entzückenden Unsinn erzählt, aber wenn sie erst einmal ein paar intus hat, wird sie manchmal richtig unangenehm und aggressiv. Am schlimmsten war, daß sie mir an jenem Abend, und zwar schon seit einiger Zeit, fast überhaupt keine Beachtung schenkte. Und dann, als sie wirklich zu toben begann, vergaß sie mich total.

    Ein solches Gefühl, das ist schließlich ganz normal, bringt mich aus dem Gleichgewicht. Wahrscheinlich, weil ich von Haus aus schon Probleme in dieser Richtung habe – will sagen: wer bin ich, was stelle ich dar, und wofür kämpfe ich? Beispielsweise wissen die meisten meiner Freunde und Verwandten, daß ich gern studieren würde. Aber als ich bei den Aufnahmsprüfungen antrat, schrieb ich nichts anderes als meinen Namen aufs Papier. Ach ja, das habe ich vergessen, ich malte auch meine Hand auf, zusammen mit den Namen aller Linien, Erhöhungen und Unebenheiten der Handfläche. Ich kannte sie aus einem Buch über diese Dinge – die verschiedenen Venushügel, Schicksalslinien, Glückslinien und so weiter. Ich mußte schließlich irgendwie die Zeit totschlagen, während die anderen Studienanwärter rundherum schrieben, daß ihnen die Köpfe rauchten. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Stunden man dort zu sitzen verpflichtet ist, bevor sie einem erlauben zu gehen. Ich wurde so nervös, daß ich es kaum aushielt. Aber wo ich schon einmal angefangen habe, über meine Absichten und Wünsche zu sprechen: Ich wäre gern ein Elitesoldat im Kosovo oder sogar im Irak oder Afghanistan, aber ich habe mich noch nicht erkundigt, was ich tun muß, damit sie mich hinschicken. Wie man sieht, sind meine Ambitionen bescheiden, und sie scheinen mir durchaus erfüllbar. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich kann nicht verstehen, warum ich sie bis jetzt noch nicht verwirklicht habe.

    Eine andere Position, die für solche wie mich prädestiniert zu sein scheint, zumindest in der heutigen Zeit, ist die eines Pseudomafioso. So nenne ich alle, weil der Großteil der bulgarischen Mafiosi fix angestellt ist. Genauso wie auch die Geschäftsleute, die Politiker und jeglicher andere Abschaum. Aber ich habe keine Lust, ein Pseudomafioso oder sogar ein richtiger Mafioso zu werden, weil ich weiß, was Sache ist. Nun, es ist mir nicht gelungen, mich völlig rauszuhalten. Es war nicht möglich, sich in diesen unruhigen Zeiten rauszuhalten, als einige großzügig den Staatskuchen unter sich aufteilten. Sie schnitten so große Stücke wie nur möglich ab, bildlich gesprochen, und stopften sich die Taschen voll. Was mich angeht, ich stapfte nicht nur hier und da durch den Dreck, sondern versuchte auch, mich an der Oberfläche zu halten. Und nach Möglichkeit meine Selbständigkeit zu bewahren. Ich denke, bis jetzt ist mir das gelungen. Das reicht mir unter den gegebenen Umständen.

    Ich war allen als Numismatiker bekannt, der die eine oder andere antike Münze verkauft. Es kommt schon auch mal vor, daß mir etwas wirklich Wertvolles in die Hände fällt. Aber eher selten. Die Münzen kaufe ich normalerweise von Bauerntölpeln, die sich für Schatzsucher halten. Manchmal bin ich gezwungen, in die Wildnis zu abgelegenen Dörfern und Wohngegenden zu fahren. Ich habe nie Geld dabei, das sage ich sofort bei meiner Ankunft. Sonst könnte es passieren, daß mich irgend so ein Debiler mit der stumpfen Seite der Axt erschlägt, bevor ich überhaupt gemerkt habe, was für Absichten er hegt. In letzter Zeit war ich an einer bedeutend ausgeklügelteren Sache beteiligt – ich machte den Mittelsmann bei der Befreiung von gemusterten Wehrpflichtigen aus der Kaserne. Es stimmte schon, sie sagten, wir würden bald der NATO beitreten und ein Berufsheer bekommen. Aber noch war es nicht soweit, sie zogen jeden ein, ob er nun wollte oder nicht, und deshalb lief das Business. Aber wegen der vielen Beteiligten versickerte ein Großteil meiner Einnahmen unterwegs. Es ließ sich nicht vermeiden. Auf jeden Fall, egal was ich sage, sicher ist nur, daß ich nicht bin, was ich gerne wäre.

    – Bist du mit dem Auto unterwegs? – fragte Jule. – Oder hast du noch nicht genug Kohle für eine eigene Karre beisammen?

    – Ich brauche kein Auto.

    – Und warum nicht, wenn man fragen darf? Oder ist das ein Geheimnis?

    – Es ist bequemer ohne Auto. Jetzt zum Beispiel werde ich in aller Seelenruhe ein paar Kognak mit dir trinken.

    – Ich trinke nicht!

    – Seit wann?

    – Seit gestern.

    – Wenn das so ist – ich nickte verständnisvoll, – dann gehen wir besser gleich zu mir.

    – Los, zuerst ins »Hemus«.

    – Kommt nicht in Frage. Ich habe dir schon gesagt, daß ich nirgends hingehe, wo ich mich nachher fragen muß, ob ich mit dir oder ob ich nicht doch allein dort war.

    – Ich verspreche dir, daß ich nur Augen für dich haben werde.

    – Ich glaub dir kein Wort.

    Ich glaubte ihr wirklich nicht. Aber so was von überhaupt nicht. Doch was sollte ich tun, ich schlug den Weg ein, den sie vorgab. So war es immer. Kaum stand ich ein wenig bei ihr – es mußte nicht einmal lang sein, sondern nur so wie jetzt, ein paar Minuten –, schon begannen Funken auf meinen Körper überzuschlagen. Es entstand ein Kraftfeld, dem ich mich willenlos unterordnete. Ich hörte ihre Versprechungen, in meinem Inneren begehrte ich noch auf, aber trotzdem erfüllte ich ihre Wünsche. Ich machte nicht einmal mehr den Mund auf, um ein letztes Mal zu protestieren. Ich hatte das Gefühl, als laste ein Fluch auf mir, ein Gefühl, das mir von unseren früheren Treffen her bekannt war, ohne sicher zu sein, was genau mich jetzt erwartete. Es war auch schon egal. Wichtig war nur, daß ich wieder einmal mit ihr zusammen war. Ich winkte dem ersten Taxi, das sich zeigte. Es war voll, bremste aber ab und fuhr langsam vorbei. Der Fahrer hatte offenbar ein Auge auf Jule geworfen. Das zweite hielt an, wir stiegen ein, sie legte den Kopf auf meine Schulter und sagte dem Fahrer, er solle uns zum »Hemus« fahren. Immer noch spürte ich in mir einen Anflug von Aufbegehren und Kälte, die jedoch schnell dahinschmolzen und verschwanden. Bald umarmte ich sie fester und fühlte, wie sich meine Brust wegen ihrer riesigen Brüste mit etwas Wichtigerem als Luft füllte. Und schon war ich kein gewöhnlicher kleiner Geschäftsmann oder Gauner mehr, in der heutigen Zeit oft ein und dasselbe, sondern ein Mann, der sich von den anderen rundherum unterschied. Ja, so ein Mann gleicht nicht einmal sich selbst, wenn er mit einer so schönen Frau im Taxi sitzt. Und es war unwichtig, wohin wir fuhren.

    Bevor wir vor dem »Hemus« hielten, fragte ich mich noch, ob das Begehren ehrlich war, mit dem sie mir ihre herrliche Zunge in den Mund steckte. Es war verwunderlich, daß ich trotz ihrer Nähe so viel Geistesgegenwart bewahrte und mich solche Gedanken überkamen. Ich wußte nicht genau, wessen ich sie eigentlich verdächtigte. Manchmal bin ich ganz ohne Grund mißtrauisch. Sie haben ganz richtig bemerkt, daß ich nach der Fahrt im Taxi zur Selbstbezichtigung neigte. Sonst war Jule wie immer großartig und vollkommen unschuldig, unabhängig davon, was sie irgendwann einmal unter ganz anderen Umständen getan hatte. Ich bezahlte den Fahrer, gab ihm sogar ein Trinkgeld, was ich nicht immer tue, und beeilte mich, sie einzuholen. Ich gestehe, daß ich, nachdem ich sie nicht in der Hand hatte, soll heißen, sie nicht umarmte und sie mich auch nicht umarmte, die mir von früheren Treffen her bekannte Unsicherheit verspürte. Sie war mir zwei Schritte vorausgeeilt, und jetzt sprach sie mit dem Türsteher. Das Personal aller wichtigeren Kneipen persönlich zu kennen ist nichts, worauf man stolz sein sollte. Das hatte ich ihr auch schon gesagt. Aber sie war sehr gesellig. Ich konnte zwar nicht hören, was genau sie ihn fragte und was er darauf antwortete, aber mein Gefühl sagte mir, daß der schönste Teil des Abends bereits auf dem Rücksitz des Taxis stattgefunden hatte.

    – Für sie brauchst du nicht zu bezahlen – sagte der Türsteher, als ich nach weiterem Geld in den Hosentaschen zu wühlen begann. – Mach dir gar nicht erst die Mühe.

    – Warum?

    – Die Tittenjule lassen wir umsonst rein.

    Und sofort verspürte ich den Wunsch, irgendwo weit weg zu sein, wo keiner wußte, daß Jule von allen nur noch Tittenjule genannt wurde. Aber statt dessen ging ich nur schnell hinter ihr her, holte sie ein, legte den Arm um ihre Taille, und wir begaben uns zur beleuchteten Bar. Die Krümmung der Bar erinnerte mich an eine ruhige Bucht, in die wir uns zumindest für kurze Zeit zurückziehen konnten. Aber im hinteren Teil des Lokals begannen zwei, die um einen Doppeltisch herum saßen, ihr enthusiastisch zuzuwinken. Sie schien nur darauf gewartet zu haben.

    – Das sind Bekannte von mir. Komm, wir setzen uns zu ihnen. Du siehst doch, daß es an der Bar sowieso keine freien Plätze gibt.

    – Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.

    – Du willst sagen, du läßt mich allein. Als sei ich ein leichtes Mädchen, das durch die Bars zieht.

    – Hier hast du doch, wie sich gezeigt hat, Bekannte.

    – Aber ich bin mit dir hergekommen.

    Nachdem ich begriffen hatte, daß sie nicht wollte, daß ich gehe, war mein Widerstand ziemlich schwach. Ich ging mit dem Verdacht hinter ihr her, daß ich den Abend und wahrscheinlich auch die ganze Nacht wieder in der Gesellschaft eines Haufens unverschämter Typen verbringen würde. Von denen jeder versuchen würde, sie abzuschleppen. Weil sie für sie nur die Tittenjule war. Und nicht mehr als das. Dann erkannte ich den zweiten, der sie abzuküssen begann. Ich war mir absolut sicher, und ausgerechnet ihn durfte ich an diesem Abend nicht treffen. Um ihn als ungefährlichen Psycho aus der Kaserne zu entlassen, nahm ich ihm dreitausend Euro ab. Doch dann kam es zu irgendwelchen Verwicklungen, und eine Nachzahlung war nötig. Aber er weigerte sich. Und wollte sogar sein Geld zurück. Das geht nicht, mein Junge, die Prozedur ist schon angelaufen. Das ist die Standardantwort in einem solchen Fall. Jetzt, sogar inmitten des Lärms rundherum, hörte ich ein bekanntes Geräusch. Ich habe ein gutes Gehör. Die

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