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Stefan George: Eine Biographie
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eBook369 Seiten4 Stunden

Stefan George: Eine Biographie

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Über dieses E-Book

Eine Biographie über Stefan George und seine ambivalente Erscheinung als Dichter und Mensch.

Stefan George war einer der bedeutendsten Lyriker des deutschen Symbolismus und Zentrum eines Kreises von Freunden und Jüngern, der sich spätestens ab 1910 als geistige Elite verstand. Das Buch schildert das Leben und Wirken Georges und versucht dabei abwägend seiner facettenreichen Persönlichkeit gerecht zu werden. Das von George selbst stilisierte Bild eines ganz im Zeichen einer dichterischen Mission stehenden Lebens wird durch die Analyse von menschlichen Beziehungen vielfältiger Art relativiert, von der tiefen Verwurzelung in seiner Binger Familie über enge Freundschaften, wie etwa zu Albert Verwey und Friedrich Gundolf, bis hin zu den bemerkenswert entspannten Aufenthalten mit Clotilde Schlayer in Minusio (Tessin), wo er mit 65 Jahren starb. In die biographische Schilderung sind Kapitel eingelegt, die Georges Gedichtbände als Stationen einer vom L'art pour l'art ausgehenden und zur Weltanschauungsdichtung führenden Werkgeschichte umreißen. Das Buch enthält zahlreiche, teilweise unbekannte Fotografien.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum1. Sept. 2014
ISBN9783835326224
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    Buchvorschau

    Stefan George - Kai Kauffmann

    CASTRUM PEREGRINI

    Neue Folge, Band 8

    Herausgegeben von

    Wolfgang Braungart, Ute Oelmann

    und Ernst Osterkamp

    Kai Kauffmann

    Stefan George

    Eine Biographie

    zwischen adler und leber

    gewonnen

    das geschliffene

    affixus sum

    Inhalt

    Zur George-Biographie

    Herkunft:

    Familie und Heimat

    Adoleszenz:

    Schulzeit in Bingen und Darmstadt

    Liminalität:

    Auf dem Weg zum Dichtertum

    Verwandlung der Affekte in Form:

    Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal

    Positionierung und Vernetzung im literarischen Feld:

    Europäische Symbolisten

    Seelenfreundin und Dichtermuse:

    Ida Coblenz

    Dichtung als Beziehungsraum und Kommunikationsmedium:

    Die Bücher und Das Jahr der Seele

    Künstlerfreunde:

    Albert Verwey, Karl Wolfskehl, Melchior Lechter

    Mehrung des kulturellen Kapitals:

    Berliner Gesellschaftskreise und Literaturkritiker

    Produktion einer Aura:

    Der Teppich des Lebens und die George-Fotografie

    Genese einer Gemeinschaft:

    Der George-Kreis als Ersatzfamilie

    Dichtung als Kultstiftung und Weltanschauung:

    Vom Siebenten Ring zum Stern des Bundes

    Der Bruch:

    Die Zeit des Ersten Weltkriegs

    Der alternde Meister und der verjüngte Kreis:

    Vom 51. bis zum 60. Lebensjahr

    Sorge ums Erbe:

    Werkpolitik der letzten Jahre

    Lebensende:

    1933

    Zum Nachleben Georges

    Anhang

    Anmerkungen

    Literaturverzeichnis

    Bildnachweise

    Zeittafel

    Danksagung

    Namen- und Werkregister

    Zur George-Biographie

    Stefan George hat über sein Leben nur in stilisierter Art berichtet. In Gesprächen und Briefen beließ er es meist bei bloßen Andeutungen oder kurzen Sentenzen. Über das, was ihn im Leben wirklich berührte und bewegte, sollte einzig die Dichtung in symbolischer Form sprechen. So beschwören Verse aus dem Siebenten Ring Vorstellungen von schweren Leiden, harten Kämpfen und rettender Liebe im Leben des Dichters herauf, die legenden- und märchenhaft gestaltet sind:

    Stern der dies jahr mir regiere!

    Der durch des keim-monats wehende fehde

    Von einem heiteren sommer mir rede

    Und auch mit blumen die ernte verziere ..

    Dass sich in lächelndem schimmer verliere

    Ernster beladener tage getöse •

    Heimliche weisheit durch fahrvolle böse

    Überfinsterte wege mich rette •

    Meine schweifenden wünsche kette

    Und meine ängstenden rätsel mir löse!

    Lag doch in jenen schenkenden nächten

    Deine wange schon auf meinen knieen

    Wenn sich die zitternden melodieen

    Rangen empor aus dumpf hallenden schächten!

    Folgtest dem spiel von sich streitenden mächten:

    Meiner geschicke vergangene gnade

    Und meine leiden am fernen gestade

    Bis zu der frühwolken rosigem klären ..

    Wie auf der schwester verschlungene mären

    Lauschte die liebliche Doniazade.

    (SW VI/VII, 69)

    Die Verse gehören zu einer erstmals 1901 in den Blättern für die Kunst veröffentlichten Gruppe von Gedichten, die allein der ständige Gefährte Georges in dieser Zeit, Friedrich Gundolf, auf ihr Verhältnis zurückbeziehen konnte.¹ Und selbst Gundolf durfte das bloß unter Vorbehalt tun, da die Chiffren der Gedichte nicht von individualisierten Erlebnissen, sondern von typisierten ›Geschicken‹ reden. Alle anderen Leser konnten und sollten aus den hier angeführten Versen nur den Eindruck eines geheimnisvollen Dichters gewinnen, der von sich behauptet, das Seelendrama des menschlichen Daseins wie kein anderer zu durchleiden, um ihm dann eine über die eigene Biographie hinaus gültige Formgestalt zu geben.

    Die biographischen Hinweise, die George seinen Freunden gelegentlich gab, lösten die poetischen Selbststilisierungen und Selbstmystifikationen nicht auf, sondern setzten sie in anderer Form fort. Im April 1905 schrieb George an Sabine Lepsius teils andeutend, teils verschweigend:

    Warum soll ich meinen freunden von den gefährlichen abgründen berichten die alle meine fahrten begleiten? – und grad von den lezten besonders furchtbaren – indessen sie die freunde nichts können als in mitleidiger ferne hilflos dastehn […] Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äussern oberherrlichkeit. was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde.²

    Wenn George konkretere Auskünfte über das eigene Leben erteilte, so verfolgte er das Ziel, das in seinen Werken entworfene Selbstbild eines Dichter-Sehers und Dichter-Führers durch die Biographie abzusichern, um letztlich wieder auf die Dichtung als die eigentliche Emanationsform zu verweisen. Dies gilt nicht erst für das von ihm in Auftrag gegebene Buch von Friedrich Wolters über Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, das die ab 1928 erscheinende Gesamtausgabe der Werke als Kommentar begleitete. Die gesteuerte Information über das eigene Leben war ein Bestandteil von Georges Inszenierung seiner Dichtermission und der damit zusammenhängenden ›Werkpolitik‹.³

    Mehr noch: Nachdem er zum Dichter geworden war, versuchte er sein Leben selbst so zu gestalten, als ob es vom Werk nicht abzutrennen wäre. Das vom Stilwillen durchdrungene Leben sollte wie das aus ihm hervorgegangene Werk zum ›Bild des Dichters‹ gehören. Entsprechend stark reglementierte George seine Lebensführung und wachte darüber, dass niemand abweichende Persönlichkeitszüge kennenlernen konnte. Zusammenfassend kommt Thomas Karlauf zu dem Ergebnis:

    Es gibt im Leben Stefan Georges so gut wie nichts, was nicht von vornherein Inszenierung gewesen wäre oder nachträglich für die Inszenierung verwertet wurde. Spuren, die über die Entwicklung seiner Persönlichkeit, sein Privatleben oder auch nur seine persönliche Meinung zu diesem oder jenem Thema Aufschluss hätten geben können, wurden verwischt; George hat Briefe, die ihm wichtig waren, nach Lektüre verbrennen lassen, Korrespondenzen am Ende einer Beziehung zurückverlangt, Vorstufen und Varianten von Gedichten oder das sonstige Futter für die Philologen vernichtet. Was nicht Eingang ins dichterische Werk gefunden hatte, gehörte für ihn nicht ans Licht der Öffentlichkeit.

    Mit diesem hohen Grad der Inszenierung und Kontrolle machte es George späteren Biographen schwer, denen es im Unterschied zu den Hagiographen des George-Kreises nicht darum geht, das von ihm stilisierte Bild getreulich zu überliefern. Robert E. Norton, der Autor einer ersten umfangreichen Biographie,⁵ hat mit bewundernswerter Akribie neue Quellen in den Archiven erschlossen, Thomas Karlauf, der Verfasser einer zweiten, die vorliegenden Zeugnisse durch ein kunstvolles Arrangement zum Sprechen gebracht. Aber die ausgewerteten Texte, die größtenteils wieder aus dem George-Kreis stammen, reproduzieren weitgehend die bekannten Züge des ›Meisters‹. Um hinter die Maske zu schauen und das in den Tiefen der Persönlichkeit vermutete Geheimnis zu entdecken, haben die beiden Biographen unterschiedliche Methoden verwendet. Norton zieht Georges Werke heran und dekodiert die Gedichte als die Chiffrenschrift eines Homosexuellen. Zugleich versucht er in ihnen die Herrschaftsideologie eines Präfaschisten zu entlarven. Karlauf präpariert dagegen aus den Schilderungen der Georgianer bestimmte Schlüsselszenen heraus, in denen sich die von George verborgenen Triebkräfte seines Lebens abzeichnen sollen. So lässt er die Initiationsriten des Kreises als Indiz für die – möglicherweise auch praktizierte – Homosexualität und Pädophilie Georges erscheinen. Doch wie der Rückschluss vom Werk auf das Leben des Dichters, so ist auch das Arrangieren von suggestiven Szenen aus dem Leben in einer Biographie nicht unbedenklich. Als alternative Methode bieten sich literatur- und mediensoziologische Analysen an, die die Mechanismen und Funktionen der Selbstinszenierung Georges untersuchen. Seit der Studie Bilderdienst von Gert Mattenklott⁶ ist dieser Weg wiederholt beschritten worden. Aber erstens lässt sich so keine Biographie erzählen, und zweitens verstärken die Analysen noch zusätzlich den Eindruck einer durchgängigen Stilisierung des Lebens.

    Die Schwierigkeiten, mit denen jede Biographie über Stefan George zu kämpfen hat, werden in diesem Buch nicht durch einen vollkommen neuen Ansatz gelöst. Sein Material verdankt sich größtenteils den kommentierten Ausgaben der Sämtlichen Werke, den Briefsammlungen und Erinnerungsbüchern aus dem Kreis, den Lebensbeschreibungen von Norton und Karlauf, der sogenannten ›Zeittafel‹⁷ und natürlich der umfangreichen Forschungsliteratur zu George. Als Summe der bisherigen Forschung sei das 2012 erschienene dreibändige Handbuch Stefan George und sein Kreis hervorgehoben, dessen dritter Band auch ein umfangreiches Personenlexikon enthält.⁸ Bei der erneuten Durcharbeitung des bereitliegenden Materials kam es dem Verfasser nicht nur darauf an, die Etappen im Leben des Dichters in kompakter und zugleich anschaulicher Form zu schildern. Vielmehr sollten verfestigte Bilder und Deutungen auf den Prüfstand gestellt, reflektiert und, wenn nötig, korrigiert werden. Der Impuls der neuen Biographie ist die Frage, ob unser Bild George gerecht wird oder aber ob wichtige Aspekte seines Lebens übersehen werden.

    Das Buch bezieht die Werke des Dichters ein. Dagegen könnten Einwände erhoben werden, die, über prinzipielle Fragen der literaturwissenschaftlichen Methode hinausgehend, das spezifische Verhältnis von Leben und Werk im Fall von George betreffen. Missachtet die Verknüpfung von Leben und Werk nicht die Autonomie der Dichtung, die besonders in der frühen Phase des L’art pour l’art (Kunst für die Kunst) wesentlich ist? Und fällt sie nicht auf die spätere Inszenierung von Georges Autorschaft herein, die Leben und Werk im Bild des Dichter-Sehers und Dichter-Führers verschmilzt? Um biographische oder hagiographische Kurzschlüsse zu vermeiden, werden Georges Gedichtbände in eigenständigen Werkkapiteln charakterisiert, die in die fortlaufende Lebensbeschreibung eingeschoben sind. Innerhalb der Werkkapitel unterliegen die Gedichtbände einer doppelten Perspektive: Zum einen werden sie als Kunstwerke analysiert, die jeweils mit bestimmten Verfahren der poetischen Sprache und Techniken der ästhetischen Komposition arbeiten. Zum anderen wird gezeigt, dass in ihnen von Anfang an Seelenkonflikte und Lebensentwürfe dargestellt werden, die auf die dahinter stehende Person ihres Autors zurückdeuten und auch zurückdeuten sollen. Es ist ein Kennzeichen von Georges Dichtung, dass sich das Autorsubjekt in die Werkstrukturen einschreibt, und zwar so, dass immer wieder auf diesen Zusammenhang in den Texten selbst aufmerksam gemacht wird. Das gehört zweifellos zu Georges Inszenierung seiner Autorschaft, ist jedoch, so die These dieser Biographie, nicht auf bloße Rollenspiele oder Reklamestrategien des Künstlers zu reduzieren.

    Die hier gewählte Methode der Darstellung teilt zwar Leben und Werk auf unterschiedliche Kapitel auf, lässt aber die Korrespondenzen zwischen beiden Seiten hervortreten und macht deutlich, in welcher Weise lebens- und werkgeschichtliche Entwicklungen miteinander zu tun haben. Im Fortgang des Buches nehmen die Verknüpfungen von Leben und Werk zu, was daran liegt, dass George seine dichterische Produktion immer stärker in zwischenmenschliche, kreisbildende und kulturpolitische Zusammenhänge eingebunden hat. Das muss die Darstellung gerade dann herausarbeiten, wenn Georges Anspruch, als Dichter zum geistigen ›Herrscher‹ des eigenen Kreises und ›Führer‹ der deutschen Nation berufen zu sein, kritisch betrachtet werden soll.

    Da George nicht zuletzt das Medium der Fotografie zur Stilisierung seines ›Bildnisses‹ eingesetzt hat, verbietet sich ein unreflektierter Umgang mit den vorhandenen Aufnahmen zum Zwecke der Illustration. Deshalb wird die von George seit Ende der 1890er Jahre gezielt betriebene Bildpolitik, die viel zur Auratisierung des Dichter-Sehers und Dichter-Führers beitrug, im Zusammenhang mit anderen Techniken der Imageproduktion lebens- und werkgeschichtlich verortet und mediensoziologisch analysiert. Nicht alle Aufnahmen, die sich von George erhalten haben, entsprechen allerdings dem um 1900 entwickelten Bildtypus des Dichter-Hauptes mit seinen angespannten Gesichtszügen, der melancholisch gesenkten Kopfhaltung oder visiönär in die Ferne gehenden Blickrichtung. Schon in dem von Robert Boehringer herausgegebenen Band Mein Bild von Stefan George (zweite, ergänzte Auflage 1967), der mit dem von der Kindheit bis zum Tod reichenden Bildmaterial eine Biographie anderer Art erzählt, wird der von George selbst autorisierte Bildkanon des Dichters zwischen ›Lebensmitte‹ und Lebensende um ein Vielfaches erweitert.⁹ Selbstverständlich ist dieser neue Bildkanon, der stärker auf den Menschen George und sein Leben im Kreis von Freunden und Jüngern hinweisen will, wiederum eine Art der Stilisierung. Die von Boehringer zusammengestellten Fotografien aus verschiedenen Lebensphasen und Lebenssituationen sind mit Ausnahme von einigen wenigen Bildern auch keine spontanen Schnappschüsse. Und sogar dort, wo sie nicht inszeniert wirken, zeigt sich George in einer bestimmten Pose, etwa in der lässigen Haltung eines jungen Künstlers unter gleichgesinnten Freunden oder der gelockerten Haltung des alten Meisters unter zugewandten Jüngern.

    Dieses Buch macht die Leser mit einem ebenso faszinierenden wie problematischen Autor bekannt und lädt sie zur näheren Beschäftigung mit seiner vielfältigen, von pathetischem Getöse bis zu melodischem Gesang reichenden Lyrik ein. Insofern könnte es auch als eine Einführung in Georges Leben und Werk dienen. Für die Bildauswahl hat der Verfasser mit der Hilfe von Ute Oelmann, der Leiterin des Stefan George Archivs in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, die dort lagernden Archivkästen mit Hunderten von Fotografien durchgesehen. Völlig neue Ansichten von George waren dabei nicht zu entdecken, kaum oder gar nicht bekannte Aufnahmen wohl. Die Abbildungen sollen zum einen die von George geschaffene Ikonographie des Dichters zeigen, zum anderen wichtige Lebensbezüge und Werkaspekte veranschaulichen. Immer sind sie in den Gang der Darstellung einbezogen.

    Herkunft:

    Familie und Heimat

    George kam am 12. Juli 1868 in Büdesheim bei Bingen am Rhein als zweites Kind des Weinhändlers und Gastwirts Stephan George (1841 – 1907) und seiner Frau Eva, geborene Schmitt (1841 – 1913), zur Welt. Aus Familientradition erhielt er den Taufnamen Stephan. Als Rufname wurde aber die französische Variante Etienne verwendet, mit der George bis zu seinem 22. Lebensjahr auch private Briefe unterschrieb. Erst als er in Paris den Dichter Stéphane Mallarmé kennengelernt hatte, ging er zu seinem Taufnamen – in der modernen Schreibweise mit ›f‹ – über.

    Die aus einem deutschsprachigen Teil von Lothringen stammenden Vorfahren des Vaters waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Büdesheim gezogen, hatten dort Grundbesitz erworben und sich mit eingesessenen Familien vermählt. Aus der Ehe der Eltern gingen drei Kinder hervor, George hatte eine ältere Schwester namens Anna Maria Ottilie (1866 – 1938) und einen jüngeren Bruder, Friedrich Johann Baptist George (1870 – 1925). Alle drei blieben ledig und kinderlos, sodass die Familie mit ihnen erlosch.¹⁰

    Im Jahr 1873 siedelten die Georges nach Bingen am Rhein um, wo der Vater ein Weingut erworben hatte und zugleich als Weinhändler im Kommissionsgeschäft tätig war. Der Familie gehörte in der Stadt ein Anwesen mit Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden. Das Haus an der Unteren Grube, in dem Stefan George bis zu seinem Wechsel an das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt aufwuchs, war der Familienwohnsitz bis zum Ableben der Mutter. Seitdem wurde es von den Geschwistern vermietet. 1932 kehrte Anna George in das Haus zurück, das der Bruder zu seinem 65. Geburtstag im Juli 1933 noch einmal besuchte. Nach dem Tod Stefan Georges und Anna Georges wurde es 1938 vom Nachlassverwalter Robert Boehringer der Stadt Bingen geschenkt; 1944 beschädigte ein Bombenangriff das Gebäude so stark, dass es abgerissen werden musste.¹¹

    Von George sind nur wenige Äußerungen über die Eltern überliefert, die, in den Jahrzehnte danach geschriebenen Erinnerungsbüchern der Freunde und Freundinnen aufgezeichnet, bis heute in der Forschungsliteratur ungeprüft wiederholt und dabei auch noch tendenziös zugespitzt werden. In einem Gespräch mit Ernst Glöckner, das 1916 stattfand, soll George sein Verhältnis zu den Eltern etwas genauer geschildert haben:

    Seinem Vater ist er besonders dankbar. In seinen zwanziger Jahren wäre er […] ein Mensch gewesen, der unbedingt uns aufgefallen wäre; hätte das Haar auch lang getragen; seine Gesichtsformen den seinen ähnlich, aber viel weicher. Von Haus her die Eltern vermögend; sein Vater hätte aber nicht das Talent gehabt, in dieser günstigen geschäftlichen Konjunktur Geld zu machen. Hätte er es getan, dann wäre er nicht »George« geworden. Die tiefen Zusammenhänge. Mutter war die treibende Kraft, daß sie von Büdesheim nach Bingen zogen. In der Kindheit hätte er alles gehabt. Sein Vater hätte »Ja« zu seinem absonderlichen, außergewöhnlichen Leben gesagt, weil er so ungeheuer sparsam gewesen wäre; davor hätte sein Vater Respekt gehabt und hätte ihn gewähren lassen; dazu die Distanz: seit dem 13., 14. Jahr wäre er nur in den Ferien bei seinen Eltern gewesen; von seinen Dichtungen hätten sie erst durch sein erstes Buch erfahren.¹²

    Die Binger Jugendfreundin Ida Coblenz erzählte (wohl in einem ihrer Gespräche mit Robert Boehringer), Georges Vater, ein lebensfroher Mensch, sei geschäftlich nicht besonders ehrgeizig und geschickt gewesen.¹³ Immerhin war er finanziell in der Lage, seinem Sohn den Besuch des Gymnasiums in Darmstadt, das Studium in Berlin, Wien und München sowie ausgedehnte Reisen durch Europa zu finanzieren. Dass er dazu viele Jahre hindurch ohne einen messbaren Gegenwert bereit war, zeigt eine erstaunliche Toleranz gegenüber der Lebensführung des Sohns. Ein Brief, den Stefan während seines ersten Aufenthalts in London erhielt, formuliert zwar gewisse Erwartungen: »Es ist sehr erfreulich zu hören daß du gute Fortschritte machst für das heidenmäßig viele Geld muß man auch die Zeit ausnutzen.«¹⁴ Doch scheint der Vater den Geldhahn auch dann nicht zugedreht zu haben, als deutlich wurde, dass der Sohn keinen Brotberuf anstrebte. Umgekehrt erwartete der junge George die Finanzierung durch seinen Vater, und zwar ohne den Zwang der Rechtfertigung. Aus Italien schrieb er eine Postkarte: »Da mein Kassenbestand fast auf nichts reduziert ist (in Ponte Tr. habe ich ungeheuer billig gelebt) so bitte ich um sofortige zusendung von Hülfstruppen.«¹⁵

    Abb. 1

    Die Eltern Eva und Stephan George.

    Über die Mutter soll George in einem Gespräch mit Edith Landmann gesagt haben:

    Sie kannte keine Sentimentalitäten, auch keine überflüssigen Liebkosungen der Kinder. Sie machte alles mit sich ab. Der Vater sagte von ihr: nun bin ich schon so viele Jahre mit dieser Frau verheiratet und weiss immer noch nicht, was hinter ihr steckt. Sie hatte keine Vertrauten. Sie sagte nie was. Sie hatte es nicht leicht, die Temperamente waren sehr verschieden.¹⁶

    Friedrich Gundolf, der von George häufig zu Besuch nach Hause mitgebracht wurde, berichtet in seinem George-Buch von 1920, sie sei eine »tieffromme strenge, sachlich ernste, unermüdlich arbeitsame« Frau gewesen.¹⁷ In die gleiche Richtung gehen spätere Bemerkungen von Ida Coblenz und Sabine Lepsius, die freilich wie nachgesprochene Formeln wirken und keinerlei Interesse an der Persönlichkeit der Mutter verraten.¹⁸

    Auf die so beschriebene Familienkonstellation – die harte, verschlossene Mutter und der weiche, aber meist abwesende Vater – führt der Soziologe Stefan Breuer zurück, dass sich bei Stefan George der kindliche Narzissmus zu einer pathologischen Form der Persönlichkeit verfestigt habe. Von den Eltern emotional vernachlässigt, habe sich das Kind seinerseits verschlossen und in einsame Größenphantasien der eigenen Machtvollkommenheit geflüchtet.¹⁹ Dass Stefan George als etwa Neunjähriger ein Spiel erfunden hat, in dem er sich die Rolle des Königs vorbehielt, geht aus den Erinnerungen seines damaligen Spielkameraden Julius Simon hervor.²⁰ Als poetische Reimagination solcher Herrschaftsspiele lässt sich das Gedicht »Kindliches Königtum« aus dem Buch der Hängenden Gärten lesen, das für George eine Urszene des eigenen Dichtertums darstellt:

    Du schufest fernab in den niederungen

    Im rätsel dichter büsche deinen staat •

    In ihrem düster ward dir vorgesungen

    Die lust an fremder pracht und ferner tat.

    Genossen die dein blick für dich entflammte

    Bedachtest du mit sold und länderei •

    Sie glaubten deinen plänen • deinem amte

    Und dass es süss für dich zu sterben sei.

    (SW III, 76)

    Abb. 2

    Elternhaus an der Hinteren Grube in Bingen.

    Zu Breuers Analyse der Mutter-Vater-Kind-Triade passt allerdings nicht recht, dass George keineswegs die Distanz von den Eltern suchte. Klammert man die Darmstädter Gymnasialzeit aus, hielt er sich bis zum Tod der Mutter meist mehrere Wochen, ja Monate des Jahres in Bingen auf.²¹ Das Elternhaus, in dem er ein nach seinen Vorstellungen umgebautes und eingerichtetes Zimmer hatte, blieb sein Dauerquartier, hierhin lud er Freunde und Bekannte zu manchmal mehrtägigen Besuchen ein. Schwer vorstellbar, dass ihn allein das Pflichtgefühl gegenüber den Eltern, das Gebot der Sparsamkeit oder der Wunsch nach Bequemlichkeit leitete. Es war eine für Schriftsteller ganz ungewöhnliche Geste, dass er 1901 die Fibel, die Sammlung seiner frühen Dichtungen, den noch lebenden Eltern widmete: »Meinem Vater und meiner Mutter als schwachen Dankes-Abtrag« (SW I, [5]).

    Nachdem die Schwester Anna das Elternhaus komplett vermietet und sich 1920 in Königstein / Taunus niedergelassen hatte, wo auch der Bruder Friedrich im Sommer wohnte, pflegte George bei ihr einige Wochen zu verbringen. Sein Verhältnis zu Anna war lebenslang eng und von wechselseitiger Zuneigung geprägt.²² Trotzdem ist das Interesse der Biographen an der Schwester genauso gering wie an der Mutter, der Annas Charakter angeblich sehr geähnelt haben soll. Geradezu diffamierend ist die Beschreibung bei Karlauf, die man eigentlich gar nicht zitieren möchte, um sie nicht weiter in Umlauf zu bringen: »Die Schwester Anna George, die in den Jahren, als diese Gedichte [aus dem 1897 erschienenen Jahr der Seele, K.K.] entstanden, bestenfalls Botendienste für ihren Bruder hatte verrichten dürfen, war in allem das Gegenteil der eleganten Tochter des Kommerziensrats Coblenz: bieder, frigide, bigott.«²³ Für Georges Beziehung zu seiner Schwester war zweifellos nicht unwichtig, dass sie sich in Bingen und Königstein um den Haushalt kümmerte, wie sie in seiner Abwesenheit auch die Post besorgte. Doch gegen die Annahme, er habe sie lediglich als ein dienstbares Wesen behandelt und geschätzt, sprechen schon die vielen gemeinsam verbrachten Urlaube. In den 1890er Jahren fuhren die beiden Geschwister immer wieder zusammen in die Sommerferien, zwischen 1902 und 1906 begleitete Anna den Bruder auf seinen jährlichen Urlaubsreisen mit Friedrich Gundolf in die Schweiz. Auch auf andere Fahrten, etwa 1897 zur Internationalen Kunstausstellung der Secession in München, nahm George sie mit. Der bis zu Georges Tod geführte Briefwechsel zeugt von emotionaler Anteilnahme und, was Anna betrifft, von einem – angesichts ihrer beschränkteren Lebenssphäre und geringeren Schulbildung – keineswegs selbstverständlichen Interesse an den dichterischen und intellektuellen Aktivitäten Georges. Umgekehrt darf man die Widmung an Anna, die George 1897 dem Jahr der Seele voranstellte, nicht einfach auf einen Akt der Rache gegenüber Ida Coblenz reduzieren, der der Band ursprünglich zugedacht war.²⁴ Dass George in dieser Widmung »der tröstenden Beschirmerin / auf manchem meiner Pfade« (SW IV, [5]) dankte, als er über das Zerwürfnis mit Ida Coblenz verzweifelt war, sagt etwas über die – nicht nur momentane – Rolle der Schwester in seiner Gefühlsökonomie aus. Wie glücklich Anna George ihrerseits über die Zueignung des Jahrs der Seele war, teilte sie in ihrem Brief vom 20. November 1897

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