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Nach Amerika und zurück im Sarg: Roman
Nach Amerika und zurück im Sarg: Roman
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eBook410 Seiten5 Stunden

Nach Amerika und zurück im Sarg: Roman

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Über dieses E-Book

Die brillante Sophie Blind steht vor den Trümmern ihrer Ehe und beschließt, sich von Ezra, ihrem Ehemann, scheiden zu lassen. Ein fast skandalöser Schritt, und auch ihr Mann verspricht ihr, sie werde an der Scheidung zugrunde gehen, ist ihm die Ehe 1960 doch eine heilige Institution. In dieser schmerzhaften Situation erkennt Sophie, dass sich ein Riss durch ihr Leben zieht, den weder die unglückliche Ehe noch deren Ende zu heilen imstande sind. Sie beginnt sich zu erinnern: an die Kindheit in Budapest in den 1930er-Jahren, an den Vater, einen praktizierenden Psychoanalytiker, der die Affären ihrer Mutter als Symptom abhakt und der kleinen Sophie schon im Kindesalter erklärt, sie würde am Elektrakomplex leiden. 1939 emigriert die jüdische Familie in die USA, doch auch nach drei Jahrzehnten fühlt sich Sophie, als sei sie nie vom Schiff gestiegen. Einer steilen akademischen Karriere folgte die Ehe mit dem Intellektuellen Ezra, für den sie erst dann die "beste Frau der Welt" ist, wenn er sie endlich zum Schweigen gebracht hat. Haltlose Gewalt und Erniedrigung konterkarieren das nach außen perfekte Leben. Je tiefer sie ihre Vergangenheit reflektiert, desto unwirklicher erscheint ihr die Gegenwart.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Okt. 2021
ISBN9783751800556
Nach Amerika und zurück im Sarg: Roman

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    Buchvorschau

    Nach Amerika und zurück im Sarg - Susan Taubes

    I

    Mit größter Anstrengung öffnet sie die Augen, aber es ist in einem anderen Zimmer; dann eilt sie durch eine belebte Straße, an feinen Geschäften vorbei, die Auslagen an der Place Vendôme erregen ihre Aufmerksamkeit, Uhren so flach wie Münzen; aber sie weiß, es kann nicht stimmen, sie weiß, sie muss in einem Zimmer im Bett liegen, wenn sie die Augen aufschlägt. Immer wieder schließt und öffnet sie ihre Augen, jetzt liegt sie im Bett; sie erkennt das Zimmer; das Licht im oberen Stockwerk eines Hauses am Hudson River. Aber sie kann die Augen nicht lang genug offenhalten; mit jedem Augenaufschlag verändert sich das Zimmer, mal ist das Fenster auf einer anderen Seite, mal verstellt eine dunkle Masse den Blick. Jetzt erkennt sie die Gestalt eines Mannes, erinnert sich an den Schmerz, der sie zerriss, den ihr Körper nicht erwartet hatte – ist er ihr Liebhaber? –, im Mantel steht er an ihrem Bett, sie fragt sich, ob sie wie eine Wilde gebrüllt hat, ob er das wüste Rasen und Lästern gehört hat, das über ihrem hervorsprudelnden Blut ausbrach. Und wenn, er tut, als habe er nichts gehört, aus Gleichgültigkeit oder Güte, weil er das, was er sah oder hörte, lieber nicht wahrhaben will. Schön und würdevoll will er sie in Erinnerung behalten.

    Sie beginnt zu sprechen, sie ist jetzt weit weg, ihre eigene Stimme wie von ferne, überraschend schnell und flüssig. Sie lacht. Noch nie hat sie so gelacht. Die Form des Mannes ist verschwommen, eine dunkle leblose Masse, die ein wenig pendelt; jetzt erblickt sie das Weiß seiner nackten Sohlen – er hat sich erhängt!

    Sophie Blind glaubt es natürlich nicht, sie weiß, dass man etwas nicht glauben muss, nur weil es einen erschreckt hat; sie hat Philosophie und Epistemologie studiert, über das Problem der Verifizierung veröffentlicht. Außerdem sieht sie jetzt nichts mehr. Vielleicht war es nur ein aufgehängter Mantel, der, als das Flugzeug schwankte, mitschwang. Oder stroboskopisches Sehen.

    Der Schmerz ist vergangen, hat sich buchstäblich gehoben. Zuerst konnte sie nicht sehen. Was bedeutete dieses weiße Streicheln? Gott malte mit dem allerweichsten Pinsel die Welt auf ihre Netzhaut; Sterne, fallende Flocken, Blüten, Alleen blühender, wilder Kastanien, jedes Blatt ein grünes Kitzeln. So hatte sie noch nie gelacht. Aber auch das war nicht glaubhaft. Nur weil dich etwas in Verzückung versetzt, ist es nicht unbedingt glaubwürdig.

    Sie liegt in einem Zimmer im Bett; an dieser vertrauten Vorstellung hielt Sophie Blind auch während ihrer wildesten Träume fest.

    Aber träumt sie denn?

    Sie sitzt in einem Zimmer und schreibt. Das einzige Problem dabei ist, dass alle Seiten des kleinen Blocks bereits beschrieben sind mit Worten einer fremden Sprache. Sie setzt sich im Bett auf. Sie kennt das Zimmer nicht, ein hoher Raum – ein Marmorwaschtisch mit Krug, der Schrank, französische Provinz – ein altmodisches Hotelzimmer erster Klasse in einem Badeort in der Normandie. Offenbar ein Traum, denn jetzt erinnert sie sich an den Mailänder Industriellen, in dessen Alfa Romeo sie die Küste entlangsausten – Ort und Zeit wären damit bestimmt, aber was ist aus ihm geworden? Sie muss sich das alles notieren – schnell, bevor er kommt – auf dem Papierspitzendeckchen des Frühstückstabletts. Das Zimmer hat sich wieder verändert, aber daran ist sie gewöhnt. An unvertraute Zimmer ist Sophie Blind gewöhnt. Sie ist ihr ganzes Leben gereist.

    Dieses Zimmer mit den am Fensterrahmen befestigten bedruckten Musselingardinen, den Vorhängen von unbestimmbarer Farbe, dem hochaufgetürmten Bettzeug könnte in der Budapester Wohnung ihrer Großmutter gewesen sein. Bildnisse bärtiger Männer in Silberrahmen bedecken die Wand. Da ist Betriebsamkeit von Lieferanten am Dienstboteneingang; das Klopfen von Teppichen über der Brüstung, das Schrubben von Steinfliesen; Gäste werden empfangen und hinausgeleitet; die Tür der Kredenz knarrt jedes Mal, wenn ein weiteres Weinglas entnommen wird.

    Sie betrachtet eine Seite der bebilderten Bibel von Doré, eine Ansicht der Sintflut: unten im Bild wirbelndes Gedränge nackter Leiber, die Toten wollüstig über die Klippen hingebreitet, die große, weiße Arche nähert sich von oben; im nächsten Augenblick blättert jemand um: ein Hirtenidyll. Die schattenhafte Figur, die im Zimmer herumtapst und Dinge aus den Truhen hervorzieht, könnte ein Vetter oder Onkel sein. Seltsam, das kitschige Zubehör – Stiefel, Unterröcke, Hüte und Fächer aus den zwanziger und neunziger Jahren. Die rasche, sichere Grazie, mit der er die Dinge handhabt, lässt auf ihren Liebhaber schließen; ihr Liebhaber, der sie neckt, der sich den Pelzkaftan ihres Urgroßvaters überzieht, dann die Silberfuchsstola der Tante; seine Nachahmung geht zu weit. Aufhören, bettelt sie, aber da zieht er sich schon das glitzernde Paillettenkleid ihrer Mutter über den Kopf: ein geschminktes Frauengesicht erscheint, ein vollkommenes Ebenbild mit blonden Locken und dem schwarzen Schönheitspflästerchen knapp unterhalb des linken Mundwinkels; sie sitzt im engen, tief dekolletierten Kleid da, die Beine übereinandergeschlagen à la Marlene Dietrich. – Irgendwer schüttelt das Zimmer wie ein Kaleidoskop; Kronleuchter erblühen und welken in spiegelgetäfelten Ballsälen, ein Zuviel an blendendem Licht und Widerschein. Jetzt ist sich Sophie Blind nicht mehr sicher, ob sie träumt. Eine andere Frage beschäftigt sie: Wenn du unter der Wirkung ihrer teuflischen Droge stehst, kannst du dich erinnern, sie eingenommen zu haben – angenommen, sie haben sie dir nicht heimlich in den Tee gekippt, die Dreckskerle, angenommen, es war kein fauler Trick –, du Idiot hast dich freiwillig dafür hergegeben, kannst du dich unter Einfluss der Droge noch daran erinnern? Sophie Blind erinnert sich nicht.

    Sie schaut zu ihrem Geliebten auf, überrascht von seiner Redewendung: »… jenes Glück, so unwahrscheinlich, welches wir Liebe nennen …« Er sitzt an ihrem Bettrand und raucht mit ernster Miene. Den Kopf zurückgeworfen, blickt er in die Ferne; warum nur, fragt sie sich, sie möchte seine Augen sehen. »… weil du tot bist, Sophie«, hört sie eine Stimme sagen wie aus einem Brief. »Tot.«

    »All dies haben wir schon einmal durchgemacht –«, will sie sagen. Stattdessen schnellen ihre Augen hoch, um einen letzten flüchtigen Blick auf sein liebes Gesicht zu werfen. Es ist weg. Wohin? Verschwunden. In den Wandbehang? Eine mittelalterliche Jagdszene auf verblichen grünem Hintergrund; oben links schwebt in blasser Skizze eine Burg. Im Vordergrund, en face dargestellt, springen gefleckte Dalmatiner auf ihren Hinterbeinen aus dem Bild heraus – welche Virtuosität der Verkürzung im Mittelalter, erstaunlich! Moderne, Reformation, Renaissance sind also doch nur Pennälerwitze, wie sie schon immer vermutet hat – die Welt ging, wie vorgesehen, im Jahre 1274 unter, wenn man es nur geglaubt hätte. »… Warum musste es ein zwanzigstes Jahrhundert geben?« Eine ihr vertraute Stimme wiederholt die Frage eines Studenten mit schwerfälligem, deutschem Akzent. Das war in einem anderen Traum. Jetzt kann sie nichts mehr sehen. Eigentlich sieht sie zu viel und zu schnell. Es ist ganz gleich, ob sie die Augen öffnet oder schließt. Ihr Liebhaber ist im Zimmer und möchte, dass sie ganz ruhig ist. Wer veranstaltet in ihrem Kopf diese Jagdpartie? Vögel werden im Flug abgeschossen und fallen bleischwer und dunkel von allen Seiten herab, während ebenso schnell neue hineingeworfen werden, mit schrill durchdringendem Schreien.

    Sie weiß, es ist vorbei. Sie kann jetzt nicht aufhören. Sie wird sich an ihre neue Stimme gewöhnen müssen.

    Ja, ich bin tot. Schon als ich ankam wusste ich, dass ich tot bin, aber ich wollte es nicht als Erste sagen. Nicht gleich bei meiner Ankunft. Ich war mir nicht ganz sicher, weißt du. Alles sah so neu aus, die Wassertanks auf den Dächern, die breiten Straßen, die schweren Glastüren; auf dem Gehsteig Fußball spielende Buben. Als sei ich das erste Mal in New York. Meine Wahrnehmung ist manchmal verzerrt. Aber noch nie habe ich mich so quicklebendig gefühlt wie eben jetzt. Das ist das Verwirrende. Und deine Gegenwart, lauschend. Oder du betrachtest mein Gesicht im Schlaf, so friedlich, sagtest du immer. Wo ich doch weiß, dass du weit weg bist … Vielleicht sprichst du jetzt gerade die Worte, die alles klären, vielleicht sind Worte auch überflüssig. Die Frauen suchen im Grunde nur das Glück, sagtest du, das Glück eher als Macht oder Wahrheit. Mir aber liegt an der Wahrheit. Jetzt, wo ich tot bin, liegt mir allein an der Wahrheit.

    Ich starb an einem Dienstagnachmittag, von einem Auto überfahren, als ich gerade die Avenue George V überquerte. Es regnete stark. Ich kam gerade vom Friseur. Dem Verkehr nach zu urteilen, der an Heftigkeit zunahm, aber noch keinen Stau hatte, muss es kurz vor achtzehn Uhr gewesen sein. Ich entdeckte ein freies Taxi, winkte ihm zu. Ich trat vom Bordstein und versuchte nach Möglichkeit, die Straße zu überqueren. Da sah ich den Portier des Hotels gegenüber mit einem übergroßen Regenschirm auf das Taxi zusteuern und schrill in seine Pfeife blasen. Ich stürzte drauflos. Ich wurde auf die Mitte der Fahrbahn geworfen und sofort überfahren. Der Rest der Geschichte ist verschwommen. Weil es regnete, sammelten sich nur wenige Zuschauer. Die Polizei und der Krankenwagen waren in Minutenschnelle da. Und der Verkehrsstrom hatte sich binnen einer halben Stunde normalisiert.

    Es geschah so plötzlich, außerdem dachte ich gerade an etwas anderes. Aber mit ziemlicher Sicherheit bin ich tot. Es steht in der Zeitung. Der Arztbericht liegt bei der Polizei auf dem Schreibtisch, obwohl ein offizieller Totenschein erst morgen früh ausgestellt werden kann; »femme décapitée dans le XVIIIe arrondissement« hieß es im France Soir, und das Gefühl, wie mein Kopf vom Rumpf gerissen wird, lebt noch nach. Mein Körper wächst ins Unermessliche, Billionen von Zellen sind plötzlich freigesetzt, dehnen, beschleunigen, drängen sich jubelnd, eilen zu den sieben Toren von Paris hinaus: Porte de Clichy, Porte de la Chapelle, Porte d’Orléans, Porte de Versailles; die Finger meiner ausgestreckten Arme tauchen ein in die Wälder von Boulogne und Vincennes.

    Liebster,

    ich komme. Lass Dich von dem Crillon-Briefpapier nicht verwirren. Ich bin schon unterwegs, heute Nacht fliege ich von Paris ab. Fünf Tage Amsterdam (ich schrieb Dir von der Konferenz); vielleicht kann ich es auf drei Tage beschränken, dann bin ich am Sonntag, dem Elften, morgens in New York mit Icelandic Airlines. Ich telegrafiere, sobald ich es genau weiß. Leg für alle Fälle einen Schlüssel unter den losen Stein. Hoffentlich bekommst Du dies noch rechtzeitig. In den letzten Wochen konnte ich unmöglich schreiben. Arbeitstermine, die Kinder mussten für den Sommer bei meiner Schwägerin untergebracht werden, und dann der endgültige Auszug – eine deprimierende Ansammlung von Zeug. Aber jetzt ist es geschafft. Endlich bin ich frei, die Schlüssel den Nachmietern übergeben, mein einziger Koffer in der Gepäckaufbewahrung am Flughafen. Ich bin den ganzen Tag spazieren gegangen, nur mit meinen Papieren und Deinem Bild in meiner Tasche, ganz wunderbar leicht.

    Bin über verschiedene Straßenmärkte gelaufen, begaffte die ewiggleichen Käsesorten und das appetitlich zur Schau gestellte Obst, sogar die grünen Bohnen liegen ordentlich in Reih und Glied; verirrte mich auf dem Blumenmarkt. Saß fast eine Stunde lang in der Empfangshalle des Crillon und versuchte, Dir zu schreiben. Dann spazierte ich an der Place Vendôme herum und besah mir die Auslagen in den Schaufenstern. Erst als die Geschäfte alle zu Mittag schlossen, fiel mir ein, dass ich mir vielleicht für den Nachmittag etwas vornehmen sollte – einkaufen, Besuch des Musée Grévin, um mir die neue Ausstellung altchinesischer Kalligrafien anzuschauen oder einen letzten Blick auf die Kykladenköpfe im Louvre zu werfen. Aber ich ging wie betäubt weiter, an Châtelet vorbei, besah mir jeden Trödelladen entlang des Quai, ganze Straßenzüge voller Sportartikel, teurer tropischer Vögel und Zierfische, und wieder auf der anderen Seite des Flusses angekommen, empfand ich plötzlich die Sinnlosigkeit dieses ganzen Vergnügens, dazu noch der schöne blaue Himmel, und beim Anblick von Frauen, die mit ihren kleinen Kindern von den Spielplätzen heimkehrten und vor Metzgerläden und Bäckereien Grüppchen bildeten, stiegen jäher Zorn und Ungeduld in mir auf. Raffte mich zu der unumgänglichen Touristen-Flussfahrt auf der Seine bei Sonnenuntergang auf, die Fähre war vollgepackt mit irgendeiner deutschen Jugendgruppe, der »Pfadfinder«. Und jetzt wird’s Zeit.

    Verzeih mir diesen verspäteten und eiligen Schrieb; ich wollte ihn eigentlich schon früher abgeschickt haben; jetzt kann ich ihn ebenso gut am Flughafen einwerfen. Habe noch keine Ahnung, was ich in meinem Vortrag über Spinoza sagen werde. Verlass’ mich ganz auf den Genius loci. Es ist meine erste Reise nach Amsterdam.

    Alles Liebe, Sophie

    Wenn sie verreiste, führte Sophie Blind alles, was sie in etwa 35 Jahren angesammelt hatte, mit sich in Kisten, Kästen, Koffern, Frachtkartons usw. Nicht persönlich, auch nicht unbedingt als Reisegepäck. Sie selbst trug nur das Nötigste bei sich, was von der Art der Reise – ob per Schiff, Bahn oder Bus, mit dem Flugzeug oder zu Fuß –, von Reisedauer und Ziel und letztlich von der Anzahl der Mitreisenden abhing.

    Es leuchtete ihr ein, so mit den Dingen umzugehen: packen, auspacken, neu packen, wenn man wieder verreiste, und Sophie Blind war ihr ganzes Leben gereist. Als sie heiratete, setzte sie das Reisen an der Seite ihres Mannes fort. Ezra Blind arbeitete an einem Buch, welches ihn wahrscheinlich sein ganzes Leben lang beschäftigen würde, zumindest aber für die nächsten zwanzig Jahre; seine Arbeit machte Bibliotheksbesuche und Treffen mit Wissenschaftlern vieler Länder erforderlich. Glücklicherweise gelang es Ezra, von guten Universitäten beidseits des Atlantiks und sogar nach Jerusalem als Gastprofessor eingeladen zu werden. So hatten sie in vielen Städten gelebt, manchmal nur für wenige Monate, manchmal sogar zwei Jahre lang, und hatten zwischendurch auch andere Reisen unternommen. Sophie reiste gern. Sie führte immer gern einige liebgewonnene Gegenstände mit sich, liebte es, ein paar vertraute Dinge um sich zu haben, wo immer sie sich gerade aufhielt, abgesehen von dem mehr oder minder gleichbleibenden Himmel mit seiner ewiggleichen Sonne und seinem Mond und den sich mehr oder weniger gleichenden Wänden. Sophie reiste gern. Sophie hatte sich anstelle des Pelzmantels als Hochzeitsgeschenk von ihrem Schwiegervater eine Verlängerung ihrer Hochzeitsreise gewünscht. Einen Pelzmantel nicht haben wollen? Ihre Schwiegertochter musste aber einen Pelzmantel haben. Der Pelz, der bei der Geburt eines Sohnes erstanden wurde, war für die jeweiligen Familienfotos. Sie trug den Mantel für die Familie. Sie war schließlich ihre Schwiegertochter. Aber musste sie den Mantel auf all den Reisen mitnehmen, die sie mit ihrem Mann unternahm? Sie musste es, weil Ezra ihn mitbezahlt hatte. Sein Vater hatte gesagt: »Ich will für Sophie einen Fünfhundertdollarmantel kaufen.« Ezra sagte: »Kauf ihr einen für siebenhundert Dollar. Ich kenne jemanden, der uns einen Neunhundertdollarmantel für siebenhundert beschafft. Ich zahle die zweihundert, wir sparen vierhundert, und Sophie hat den besten Mantel.« Wenn sie mit Ezra zusammen war, trug Sophie den Pelzmantel und den Schmuck, den Ezra ihr kaufte. Jedes Mal, wenn Ezra um ihre Zukunft bangte, kaufte er Sophie einen schweren Silberschmuck.

    Es gefiel ihm, wenn sie Schwarz trug. Sie hatte Schwarz getragen, als er ihr seinen Antrag machte, es stand ihr am besten und passte auch am besten zu dem Schmuck, den er für sie kaufte. Er kaufte Sophie jederzeit gern ein neues schwarzes Ausgehkleid. Ein gutes Schwarzes hat man fürs Leben. Was Sophie sich erträumte, war ein weißes Nachthemd, lang und weich, aus feinstem Batist oder Flanell. Aber Ezra konnte nicht verstehen, warum sie so etwas wollte. Nacktheit stand ihr besser. Manchmal wollte er, dass sie mit dem Pelzmantel ins Bett kam. Ein Nachthemd? Das war ein Luxus.

    Nicht alles, was Sophie laufend sammelte, konnte ihr in Kisten und per Frachtladung in Kartons und Schrankkoffern folgen: das war schwierig, teuer und kompliziert.

    Außerdem, wenn sie in südliche Länder zogen, brauchten sie nicht all ihre Mäntel und Wollsachen, obwohl vielleicht im nächsten Jahr oder irgendwann in der Zukunft, denn sie wussten nie, wohin sie als Nächstes ziehen würden. Ebenso hob sie zu klein gewordene Kinderkleidung auf, die sie für das nächste Kind würde brauchen können. Natürlich konnte sie das meiste von dem, was sie unterwegs gesammelt hatte, nicht mit sich führen, sondern verstaute es bei sesshaften Freunden und Verwandten, je nachdem, wo sie sich gerade aufhielten. Alles musste im Hinblick auf eine Zeit verwahrt werden, in der sie sich endgültig niederzulassen gedachte und ein großes Haus mit vielen Stockwerken und Flügeln besitzen würde, mit einem Keller zum Speichern und einem Dachboden für all die Haustiere, die sie ihren Kindern versprochen hatte. In ihrem Kopf bestand das alles schon, sie befand sich immer in dem Haus ihrer Einbildung, traf Vorbereitungen für eine Reise und suchte ein paar Sachen zusammen, die sie mitnehmen wollte. Aber vielleicht wünschte sie sich im Grunde nur dieses imaginäre Haus, und sie würde immer so weitermachen: reisen und Dinge sammeln und überall wohnen. Mittlerweile kam sie ganz gut damit zurecht, brachte hier eine Kiste, dort einen Koffer bei etablierten Freunden oder Verwandten unter. Wenn sie dann über ein Jahr lang an einem Ort wohnhaft war, konnte sie sich bestimmte Dinge zuschicken lassen, obwohl es ja nie endgültig war. Sie wünschte sich immer, es im Voraus wissen und im Hinblick auf künftige Umstände packen zu können.

    Es war eine Schwäche, das wusste sie, Dinge anzusammeln, aufzubewahren und sich erinnern zu müssen, wo man sie hinterlassen hatte. Vieles ging verloren, aber das gehörte mit zum Reisen. Nicht nur einzelne Gegenstände, sondern Pakete, ganze Koffer gingen unerklärlich verloren. Sie gab sich größte Mühe, auf die Sachen zu achten, und wenn sie all ihren Bemühungen zum Trotz verloren gingen, fand sie sich eben damit ab, ganz anders als Ezra, der die Erinnerung an den verlorenen Gegenstand immer wieder aufs Neue beschwor. Ganz gleich, ob ihm ein Stück teuer gewesen war oder er es nur gerade benötigte, mit der Entdeckung jedes neuen Verlusts zählte er bekümmert alle Dinge auf, die ihnen seit dem Tage ihres gemeinsamen Reiseantritts verloren gegangen waren. Dies tat Sophie nicht, oder sie behielt es für sich. Man entdeckte den Verlust und empfand ihn als schmerzlich, aber einmal reicht; das war Sophies Einstellung. Verlorene Dinge verlangten, dass man sie beklagte. Ach ja, man konnte nie genug um die Ohrringe trauern, die man in irgendeiner Seitengasse in Genua erstanden hatte. Aber es widersprach Sophies Prinzipien, den Verlust einer Sache mehr als einmal zu erleiden. Wie konnte Ezra nur für Dinge Partei ergreifen? Ganz sicher war sich Sophie dabei allerdings nicht. Trotz ihrer Prinzipien machten ihr diese verlorenen Stücke zu schaffen, und es half auch nichts, dass sie sich sagte: Ein Glück, die bin ich los! Unmöglich, so etwas heute noch zu tragen! Sie sandten ein geisterhaftes Phantom aus: dort, auf dem Frisiertisch irgendeines Hotelzimmers. Dies musste wohl im Wesen der Dinge liegen, schloss Sophie daraus, und ihrem Wesen als Frau mit Prinzipien oblag es, sich dem zu widersetzen. Wenn mich dieses Ding noch immer verfolgt, überlegte sich Sophie, muss es daran liegen, dass ich seinen Verlust nicht so tief und schmerzlich empfunden habe, wie es sich gehört hätte. In dem Fall kann man aber nichts mehr tun: ich habe den Moment verpasst, oder das Ding hat seinen Moment verpasst; darum kehrt es immer wieder. Was aber den Verlust von Dingen betraf, die sie wahrhaftig schmerzten, diesen trug sie zutiefst in ihrem Innern, mit ihm verschmolzen. Hätte sie einmal die Gesamtsumme der verlorenen Gegenstände wissen wollen, so hätte sie nur den letztverlorenen erwähnen müssen, und Ezra würde zu rechnen begonnen haben, heute dies, gestern das, den ganzen Weg zurück. Aber Sophie interessierte das nicht. Rechnen war Männersache. Das taten ihr Vater sowie ihre beiden Großväter.

    Ja, sie liebte das Reisen. Es ist die einzige Art zu leben, sagte Sophie immer, die einzige Art, in der Zeit zu leben: mit ihr zu entfliehen. Sophie wurde unruhig, wenn sie zu lange an einem Ort verweilten.

    Sophie versuchte mit allen Mitteln, Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, aber es klappte nicht immer, weil sich Ezra mit bloßem Jammern und Nörgeln nicht zufriedengab: er suchte den Streit. Überdies hatte Sophie auch ihre eigenen Kümmernisse, die sie nicht immer schweigend übergehen konnte. Also stritten sie sich.

    Ezra gewann immer die Oberhand. Egal, worum es ging oder wer den Streit begonnen hatte, es gelang Ezra immer, sie ins Unrecht zu setzen. Sophie konnte nicht begreifen, wie er das anstellte. Er besaß wohl ein besonderes Talent dazu. Und immer endete es damit, dass er ihr sagte, sie sei die beste Frau der Welt.

    Ezra begann immer mit einer winzigen Kleinigkeit. So winzig, dass Sophie gar nicht begriff, dass er auf einen Streit aus war. Nebensache, dachte sie, das hat man in einer Minute erledigt; oder eine Nichtigkeit, an der man sowieso nichts ändern kann, die man nach einer Minute wieder fallenlässt. Ezra aber setzte es fort und ritt auf seinem Thema so lange herum, bis es Sophie dämmerte, dass es gar nicht um den Schlips ging, den er gerade nicht finden konnte, weil sie es versäumt habe, ihn einzupacken, so wie sie schon vordem andere Gegenstände zu packen versäumt habe, oder etwa um ihre Gleichgültigkeit gegenüber seinem Aussehen oder ihrem eigenen Aussehen – ihre Missachtung der äußeren Erscheinung überhaupt. Es ging eigentlich um sämtliche Folgen, die ihre Einstellung für ihr gemeinsames Leben hatte und auch weiterhin haben würde. Das Problem war eigentlich riesengroß.

    Ezra entwickelte sein Thema mit steigendem Pathos; mal lief er schweren Schrittes auf und ab, mal hielt er inne, um nicht von seinem rhetorischen Höhenflug abzulenken oder um eine dramatische Pause zu unterstreichen. Sophie beobachtete seinen Zeigefinger: er zeichnete Luftkreise oder rührte in einer unsichtbaren Brühe. Im Steilflug schoß er auf das Erhabene zu, vollführte eine Schlaufe und verhielt, waagrecht auf sie gerichtet. Der Zeigefinger wedelte sie mit zunehmender Bedrohlichkeit an, als ob er nicht wisse, was er mit sich anfangen solle. An diesem Punkt holte sie tief Luft, entweder um Ezra zu entgegnen oder um aus dem Zimmer zu stürzen.

    Sophie hasste Auseinandersetzungen. Zumeist behielt sie ihren Kummer für sich. Oder er brach plötzlich aus ihr hervor. Oft überlegte sie noch, ob sie eine Angelegenheit überhaupt erwähnen und wie sie dies am besten anstellen solle, und während sie noch innerlich mit der Frage des Wie und Ob beschäftigt war, brach es aus ihr hervor, zu ihrer beider Überraschung – wobei Sophie wahrscheinlich die Überraschtere war, denn Ezra war es von Haus aus gewohnt, angebrüllt zu werden; für Sophie dagegen war es ungewohnt, sich selbst schreien zu hören.

    Ezra lehnte sich dann zurück, hörte ihr ganz ruhig und aufmerksam zu. Machte er sich den Augenblick, in dem Sophies Aufmerksamkeit ganz von ihrer Wut eingenommen war, zunutze, um sich aufs Sofa sinken oder ins Bett gleiten zu lassen, oder war das der Ausgangspunkt für ihren Streit? Ezra im Bett, Sophie auf den Beinen, alles Mögliche musste erledigt werden, allein schafft sie das nie. Sophies blitzartige Einsicht, dass ihr Leben zu der Aussichtslosigkeit, je etwas erledigen zu können, zusammengeschrumpft ist. Ezra zurückgelehnt, sich räkelnd und gähnend – womöglich war dieses Bild der wahre Auslöser für ihre Wut.

    Sophie Blind konnte es gar nicht fassen, was da für verheerende Worte aus ihrem Mund hervorbrachen oder dass sie solche Worte aussprach. Außerdem ließ sich Ezra weder Bestürzung, Unglauben noch Erschütterung anmerken. Sie sah an ihm vielmehr einen Ausdruck von Zufriedenheit: er saß jetzt aufrecht, sah sie mit großen Augen an, nickte Zustimmung: es tobt das Weib nach Weiber Art; ein ziemlich erfolglos unterdrücktes Lächeln auf den Lippen, seine Miene deutlich besänftigt, eine Maske von Strenge oder auch nur von Erschrecken aufgesetzt, verschwindet er unter der Bettdecke, als ihre vorschießenden Arme mit krallenden Fingern sich anschicken, den Inhalt ihrer Worte auf seiner zarten Haut auszutragen, und versteckt sich, bis der Sturm sich gelegt hat. In seiner Deckung hat er wenig zu befürchten, es ist bloß eine Frau, die ihr Gewicht auf ihn wirft, deren Fäuste meist nur auf Wand, Luft oder Matratzen trommeln; schlimmstenfalls ein kleiner Rippenstoß, wenn ihre Faust einmal die Sperre von Armen und Knien durchbricht. Nur eine Frau, die jetzt vor Wut kochend ganz fließend und formbar geworden ist: seine eigene geliebte Ehefrau, er weiß schon, wie er’s mit ihr anstellen muss, und neun Monate später ist ein Kind da.

    Oder wenn sie sich nicht auf ihn stürzte, wartete er eben ab, bis der Sturm sich ausgetobt hatte, was ja unweigerlich früher oder später geschehen musste. Wartete ab, bis aus dem wild peitschenden Regen ein dünnes Nieseln geworden war, um es dann mit dem letzten schwachen Tröpfeln aufzunehmen, Sophie Blinds ermattetes Wiederholen: »… immer muss ich alles selber machen …« Dann, von der leisesten Andeutung eines Vorwurfs in tiefster Seele getroffen, hub Ezra mit der Aufzählung an, erinnerte sie an die Situationen, in denen er ihr geholfen, die Last von den Schultern genommen, ihr Geschenke gekauft hatte; in schöner Reihenfolge folgten alle guten Taten, die er je für sie vollbracht, freilich nur wenige Beispiele aus dem unerschöpflichen Vorrat, bis sie den Kopf nicht mehr heben konnte, von der Fülle seiner Wohltaten, so ausführlich und rührungsvoll vorgetragen, schier überwältigt. Die Schwere der Rücksicht, Hingabe und Fürsorge so vieler Jahre flößt Sophie ein Gefühl von Ohnmacht und Benommenheit ein. Sie weiß nicht mehr, ob sie sitzt, steht oder liegt, ihr ist zum Ersticken. Als sie sich endlich von seinem Körper umgeben, von seinem Gewicht erdrückt fühlt, empfindet sie Erleichterung. Und neun Monate später ist ein Kind da.

    Wenn Sophie ein Kind austrug, war sie glücklich; nichts konnte sie dann aus der Ruhe bringen. Sie aß, schlief und lief spazieren, wann es ihr passte. Sie hörte Ezra meistens gar nicht, wenn er sie um etwas bat. Sie war schwanger. Meine Frau ist schwanger, pflegte Ezra vielsagend zu erklären, wenn man sie auf Gesellschaften vermisste oder ihre abwesende Art bemerkte. Sophie mochte sich während ihrer Brutzeit nicht mit gesellschaftlichem Unsinn abgeben, und in der Still- und Ziehperiode noch weniger. Sie hatte keinen Spaß an kneifenden Schuhen oder Argumenten für und wider. Sie blieb daheim und ölte sich den Bauch oder ihr Baby oder beides.

    Ezra sah, wie glücklich Sophie in ihren Schwangerschaften war, und schenkte ihr noch ein Kind. Sie badete gern ausgiebig in der Wanne. War ein Baby da, so nahm sie es mit, sie nahm alle Kinder mit in die Wanne, und sie spielten zusammen mit all den Wasserhähnen und der Dusche oder bespritzten sich mit Wasser. Als sie größer wurden, gab sie ihnen Farben und Lehm, Holzperlen und alte Lappen zum Spielen und Basteln.

    Ezra beschwerte sich; er fand Holzperlen, Lehm, Lappen, Malfarben und alten Plunder ganz abscheulich, vor allem aber Kinder, die die Wände bemalten. Es ist ja abwaschbar, versicherte ihm seine Frau und bewies ihm dies mittels eines Schwammes. Ezra aber entsetzte die Idee von Wände bemalenden Kindern an sich. Es war das Allerletzte. Es war sündhaft. Ezra verkündete, dass er in seinem Hause Ordnung wünsche. Sophie sah zu, wie sein Zeigefinger sich drohend erhob, seine Lippen sich zu einem dünnen Strich zusammenpressten. Sie weigerte sich lange Zeit, an Ezras Verwandlung zu glauben. Wie konnte das Ezra sein, der wie sein Vater zu näseln begonnen hatte? Er legte sich einen Schmerbauch zu, litt an seltsamen Unpässlichkeiten, brüllte los, wenn er in der Wand Risse entdeckte, wenn etwas verschüttet wurde, wenn ein Knopf fehlte; es hatte auf der Stelle repariert zu werden.

    Ezra befahl ihr, die Fußböden wachsen zu lassen. Aber die Kinder werden darauf ausrutschen, wandte sie dagegen ein. Diese hätten still auf ihren Zimmern zu bleiben und gewachste Fußböden mit Vorsicht zu betreten, herrschte er sie an. Aber es wäre doch sinnlos, da sie sowieso in ein paar Monaten verzögen, und noch dazu sei es teuer – sie versuchte ihm mit Vernunft beizukommen. Wir können es uns nicht leisten, plädierte sie und berief sich auf die unbezahlten Haushalts- und Arztrechnungen. Dann werden die Kinder eben weniger Spielzeug bekommen, meinte Ezra abschließend und verschwand mit einem Stoß ausländischer Zeitungen im Bad.

    Sophie war mit den Kindern glücklich; sie bastelten weiter, auch wenn sie das Haus dabei verwüsteten. Ezra war meistens nicht da, und wenn er wie immer unerwartet kam, gab es einen lauten Streit; das gehörte zum Familienleben mit dazu. Nur, über die Jahre und mit dem Heranwachsen der Kinder wurden die Kämpfe immer schlimmer, und Sophie konnte die Art, in der sie unterlag und er siegte, nicht länger hinnehmen. Denn jetzt rechnete er für sie alle, für sie und für die Kinder, merkte sich, was jeder von ihnen verschlampte oder falsch gemacht hatte und, da sie alle ständig schlecht abschnitten und versagten, gewiss auch weiterhin tun würden. Nicht nur, dass er dauernd an vergangene Fehler erinnerte, er sagte ihnen auch all die künftigen, noch nicht begangenen voraus. Seiner Ansicht nach würden sie bis zu ihrer Volljährigkeit am Galgen und in der Gosse gelandet sein. Sophie Blind, die sich bisher nicht einmal zu ihrer eigenen Verteidigung hatte aufraffen können, musste auf einmal zwei oder drei oder noch mehr gegen Worte, manchmal auch gegen Schläge verteidigen, vor allem gegen die Worte, da diese länger nachwirkten. Überdies verfügte Ezra mit der wachsenden Kinderzahl auch über ein längeres Inventar der erwiesenen Wohltaten und Gefälligkeiten und Bemühungen um ihretwillen seit dem Tage ihrer Geburt, welches er ihnen bei Gelegenheit in seiner ganzen unerbittlichen Länge aufsagte, bis die einen fast in Ohnmacht, die anderen in Stampfen und Schreien verfielen und Sophie nicht mehr wusste, was sie tat, geschweige denn, was sie tun sollte; nur, es war unverkennbar, dass man dies nicht auf die bisherige Art lösen oder überstehen konnte und dass sie jetzt auf keinen Fall in Ohnmacht fallen oder schreien durfte, sosehr sie auch dazu neigte, sondern alles andere tun musste als das. Sie musste so vieles tun: beschützen oder widersprechen, manchmal einfach zur unbeweglichen Statue erstarren oder die Kinder mit der Aufforderung, ihrem Vater zu gehorchen, aus dem Zimmer schicken oder versuchen, ihn loszuwerden und nachher zu trösten und aufzumuntern. Wenn sie Jahre später daran dachte, was sie eigentlich getan hatte oder was sie hätte tun können oder sollen, war es ihr noch genauso unklar wie damals. Sie wusste nicht, was sie tat oder tun sollte, und trotzdem ging es weiter von Tag zu Tag. Und von Land zu Land, einpacken, auspacken, immer häufiger auf eigene Faust verreisen, bis sie das Leben in abgelegenen, rückständigen Gegenden satthatte – Inseln, wo die Fähre einmal in der Woche anlegte, weglose Gebirge, die nur einem Fußgänger oder einem

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