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Zum Perlenlicht: Eine wundersame Schreibkur - Autobiografische Miniaturen
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Zum Perlenlicht: Eine wundersame Schreibkur - Autobiografische Miniaturen
eBook716 Seiten9 Stunden

Zum Perlenlicht: Eine wundersame Schreibkur - Autobiografische Miniaturen

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Über dieses E-Book

Zum Perlenlicht ist kein "Oma-erzähl-mal-Buch", eher ein Seelenkrimi, der zunächst mit selbstgemalten Traum-Bildern der 50-jährigen Autorin beginnt und sie zu einem nächtlichen Sprung aus dem Fenster des eigenen Hauses ermutigt. 20 Jahre später, ausgerechnet nach der Feier ihres 70. Geburtstages, beginnt sie, ihre traumatischen Kindheitserlebnisse durch Schreiben aufzuarbeiten und ihre Erinnerungen an Krieg und Flucht, an Hunger und Vertreibung zu entschärfen. So entstehen in 7 Jahren als Herzstück des Buches ihre Erinnerungsperlen, kurze poetische Geschichten aus Kindheit, Jugend, Studienzeit und, darin eingewebt, Essays über den faszinierenden Vorgang des eigenen Schreibprozesses.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Dez. 2016
ISBN9783734553301
Zum Perlenlicht: Eine wundersame Schreibkur - Autobiografische Miniaturen

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    Buchvorschau

    Zum Perlenlicht - Regina M. E. Albrecht

    Regina M. E. Albrecht

    Zum Perlenlicht

    Eine wundersame Schreibkur

    Autobiografische Miniaturen

    © 2016 Regina M. E. Albrecht

    Umschlag, Illustration: Regina M. E. Albrecht, Corinna Podlech

    Lektorat, Korrektorat: Dr. Margit Inka Postrach, Corinna Podlech

    © Bildrechte: Regina M. E. Albrecht

    Verlag: tredition GmbH, Hamburg

    ISBN

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Vorwort

    Lebenserinnerungen und autobiografische Romane haben Konjunktur, Kriegskinder melden sich zu Wort und erzählen ihre Lebensgeschichten. Auch Regina M. E. Albrecht erzählt in ihren „Perlen-Geschichten von Vertreibung und Flucht, aber es ist kein „Kriegskinder-Schicksal-Buch und schon gar kein „Oma-erzähl-mal-Buch, sondern eine Selbst-Analyse mit poetischen Mitteln in der Absicht „Autor seines Lebens zu werden.

    Eine „Redekur nennt Freud diesen Vorgang des Erzählens und Verstehens der eigenen Lebensgeschichte, um Deutungshoheit zu gewinnen, um sich von Zuschreibungen zu distanzieren – „du bist ein Satansbraten hieß es bei Regina M. E. Albrecht – und um sich von Wiederholungszwängen zu lösen. Aber wie macht man das, wenn einem zu jeder Erinnerung noch viele andere einfallen, auch solche, die man lieber ganz vergessen hätte, wenn jedes Wort tausend Assoziationen weckt, wenn immer wieder neue Themen auftauchen, die man ergründen will und die einen dabei in Krisen stürzen können.

    Regina M. E. Albrecht hat sich diesem Abenteuer, dieser Reise mit ungewissem Ausgang, mit Risiken und Nebenwirkungen gestellt, hat sieben Jahre lang ihre Lebensgeschichte erforscht, hat aus der „Redekur eine „Schreibkur gemacht, aber kein Therapie-Buch geschrieben.

    Davor haben sie ihre Sprachbegabung und ihre Mehrsprachigkeit bewahrt, (Studium des Französischen, Spanischen, Griechischen und des biblischen Hebräisch) ebenso ihre literarische und künstlerische Begabung.

    Auf Grund ihres Theologiestudiums stellt sie sich auch existenziellen Fragen nach Lebenssinn und Tod und findet für sich Antworten jenseits starrer Dogmen und Normen durch intensives Hinhören und Verstehenwollen beim Gespräch zwischen den Religionen.

    Regina M. E. Albrecht macht anschaulich, dass sich Heilung durch Formung, durch „ars poetica" (Freud) vollzieht, was über Selbst- Erfahrung weit hinausgeht.

    Die Abenteuerreise, Lebenserinnerungen nicht nur mit dem Pinsel zu malen, sondern aufzuschreiben, beginnt mit ihrem 70. Geburtstag, der grandios mit 70 Gästen – die mitgezählten 11 Toten stehen auch auf der Einladungsliste – geplant wird, mit Opern-Arien, Kunst-Aktionen und mit einem Lagerfeuer bei der „Alten Schulscheune. Die Feier gerät für sie zum Desaster. Das alles wird humorvoll beschrieben, schützt aber nicht vor dem anschließenden Katzenjammer. Frühere Krisen und Katastrophen kommen hoch. Viel Alkohol, viel Rauchen und viel Fernsehen helfen nicht. Sie versucht es mit einer „Selbstanzeige wegen Suchtgefahr beim Psychotherapeuten, der eine andere Diagnose stellt und, beeindruckt von ihrer Erzählkunst, zu einer „Schreibkur rät. Womit anfangen? Mit dem, was ganz oben auf der Seele liegt und schwer wiegt – Prinzip der Gestaltpsychotherapie – etwa mit der Flucht aus ihrem eigenen Haus, weit weg vom – durch den Krieg – schwerst traumatisierten Ehemann, Pastor und Schriftsteller. Ihn hatte sie retten wollen, mit ihm hatte sie sein Buch geschrieben, dann musste sie sich selbst retten aus der „Folie à deux.

    Aber je weiter sie hineingeht in das Labyrinth ihrer Erinnerungen, umso mehr Wege tun sich auf. Welche soll sie weiter verfolgen? Dann ein Unfall auf der Autobahn, beinahe tödlich und noch immer nichts geschrieben. Wie soll sie die Fülle der Erinnerungen und den unendlichen Assoziationsstrom ordnen, was auswählen, wie soll sie dieses „Pusteblumenprinzip" strukturieren und gestalten? Soll sie wie eine Spinne ihre Gedankenfäden hervor spinnen und zum Netz verweben oder wie ihre Freundin Teppiche aus selbst gesponnener Wolle weben, um ihre Texte (= ihre Buchstaben- und Wort- und Satz-Gewebe) zu gestalten?

    Eine ehemalige Schülerin wird zur Lehrerin, gibt ihr ein Aufnahmegerät in die Hand und sagt, rede einfach drauflos, erzähle für jedes Jahr ein Geschichte. Also eine Perlenschnur von 70 Erzählungen. Perlenschnur klingt gut, aber Hilfe!! Es drohen mehr als 1000 Seiten, und es bleibt keine Zeit mehr fürs „normale Leben! Sie sucht und findet eine andere Komposition. Es werden nicht 70 Lebens-Perlen, sondern nur 35 poetische Perlen, exemplarische, prägnante Erzählungen aus Kindheit und Jugend. Diese Perlen bilden das Herzstück ihrer autobiografischen „Schreibkur und finden ihren Platz im Kapitel 17 der Rahmenhandlung.

    Die Rahmenhandlung selbst beschreibt diese „Schreibkur" in insgesamt 30 Kapiteln, wobei die Einleitungs-Kapitel 1-16 (Teil I+II) den Beginn des Schreibprozesses schildern – die lange Perlenschnur bildet darin das Kapitel 17 (Teil III), und die Rahmenhandlung schließt mit den Kapiteln 18-30 (Teil IV) ab, in denen Regina M. E. Albrecht sich existenziellen Themen zuwendet, die während des Schreibprozesses auftauchen und die zu bewältigen sind.

    Herausgekommen ist ein Buch, das den Prozess des Schreibens, des Suchens nach Struktur und Darstellungsformen beschreibt, nicht als Ratgeber, sondern als kreatives, poetisches Experiment. Es zeigt Wege und Methoden, wie man den biografischen Stoff erzählerisch formt, wie aus den vielen „Roten Lebensfäden ein Textgewebe, eine Textur entsteht. „Eine Biographie ist wie eine Stickarbeit, vorn sieht man das schöne Muster und hinten den chaotischen „Fadenverlauf, meint Arthur Schopenhauer. Dass ein „schönes Muster nicht nur aus schönen Episoden gewebt ist, die das Selbst glorifizieren, sondern durch Selbstbefragung und Selbsterkenntnis entsteht, Erklärung und nicht Verklärung ist, macht Regina M. E. Albrecht deutlich. Dass diese Selbsterkundung schmerzhaft sein kann, aber auch heilsam und beglückend ist, davon zeugt dieses Buch. Es macht Mut zur „Nachahmung, macht Lust aufs eigene Schreiben.

    Vincent van Gogh sagt dasselbe über die Malerei: „Wenn du in dir eine Stimme hörst, die dir sagt: du kannst nicht malen, dann fang unbedingt zu malen an, und diese Stimme verstummt. Man könnte ebenso formulieren: „Wenn du in dir eine Stimme hörst, die dir sagt: du kannst nicht schreiben, dann fang unbedingt zu schreiben an, und diese Stimme wird verstummen.

    Die Texte sind sehr gut verdichtet, das Wesentliche ist szenisch lebendig und anschaulich erzählt. Mit prägnanten Geschichten, die eigene Erinnerungen beim Leser wecken, wird Zeitgeschichte erzählt. Empathie, Sprachwitz und Humor wecken Lese- und Schreiblust. Verdichten heißt auch Erfinden: um eine Geschichte gut zu erzählen, muss man sie nicht nur in der „Pfefferkuchenkiste der Erinnerungen" wiederfinden, sondern man wird auch manches hinzu erfinden müssen und dieses nach poetischen Regeln gestalten. Das ist das Wesen des Erzählens: für ein Erlebnis, für eine Erfahrung, die sinnlichste, prägnanteste Form zu finden. Die Wahrheit liegt nicht in der Faktizität, sondern im Spielraum der Deutungen.

    „Früher oder später erfindet sich jeder seine Geschichte, die er dann für sein Leben hält. spitzt Max Frisch das Problem um „Dichtung und Wahrheit zu. Und mit der dichterischen Freiheit distanziert man sich auch gleichzeitig von der eigenen Geschichte und den engen Ich-Grenzen. Freud meinte, die Analyse sei abgeschlossen, wenn der Patient einen neuen anderen Roman erzählen kann als zu Beginn seiner Therapie.

    Gabriel García Márquez leitet seine Autobiografie damit ein: „Nicht das, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen."

    So hat Regina M. E. Albrecht ihre „Schreibkur empfunden, ihr Bestes getan, um sich von alten Geschichten und Festlegungen („Ganz die Alice) zu befreien, Blickwinkel zu ändern, Identität zu erweitern. Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.

    Rüdiger Safranski meint: „Ein Leben ist geräumig genug für mehrere Biografien." Und so changiert auch diese Lebenserzählung zwischen Autobiographie, Roman und Essay und theologischer Reflexion.

    Das Buch könnte interessant sein für Menschen, die selbst schreiben wollen, die Anregung und Ermutigung brauchen. Es könnte Lesestoff sein für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, wie Regina M. E. Albrecht sie machte, und Erlebnissen, wie sie sie schildert, aber auch für junge Menschen, die diese Zeit (1939-1964) nicht mehr kennen und für alle, die dem Geheimnis von Sprache auf der Spur sind, sei es in Sprachspielen, Wortspielen, und Namensbedeutungen bis hin zur Magie einzelner Buchstaben und Wörter, die Unsagbares in sich verbergen. Es könnte sogar hinführen zu einer unerwarteten Begegnung mit jenem geheimnisvollen kafkaesken Wesen Odradek, das – wie Rumpelstilzchen – jeden inspiriert und dazu verhelfen kann, aus gedroschenem Stroh „Gold" zu spinnen.

    Dr. Margit Inka Postrach

    Pour Didier, mon Mari-Ami,

    für Sigilina, Paula und Ella,

    für Kilali und Moritz-Marguerite,

    für den „Friedenskreis-Eutin"

    und für alle Perlen dieser Welt.

    Inhaltsverzeichnis

    Teil I 1978-1990: Münster – Neumünster

    1 Higglety Pigglety Pop!

    2 Diese Hände werde ich einmal beerdigen

    3 Ich habe gar keine Angst mehr

    4 Die Papierkorb-Predigt

    5 Der Wut-Topf spuckt blutige Perlen aus

    6 Gemalte Perlen der Erinnerung

    7 Der Sprung aus dem Fenster

    Teil II 2009: Villa Farnese bei Eutin

    8 Mein 70. Geburtstag

    9 Der Morgen danach

    10 Das Schwarze Loch

    11 Die Schreibkur

    12 Etwas fällt vom Himmel

    13 Die Pfefferkuchen-Kiste der Erinnerungen

    14 Das Spinnweb

    15 Zum Bunten Schaf

    16 Und Fische fallen von den Bäumen

    Teil III 1939-1964: Lötzen/Ostpreußen – Erzgebirge – Nordenham – Münster – Südfrankreich – Sevilla –Finnland – Tübingen – Greifswald – Detmold

    17 Das Geheimnis der Frau mit dem Perlen-Haarnetz

    Perle 1 - Die Prinzessin mit den großen Händen

    Perle 2 - Die Handballprinzessin

    Perle 3 - Die zerschnittene Uniform

    Perle 4 - Mompi und die Mückenschlacht

    Perle 5 - Prinzessin Satansbraten

    Perle 6 - In einer Stunde müssen wir los

    Perle 7 - Der verlorene Koffer und Kartoffelschalenkuchen

    Perle 8 - Zudelsuppe im Keller

    Perle 9 - Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg

    Perle 10 - Der Rosa Brief und ein zugenähter Mund

    Perle 11 - Old Shatterhand in der Zitterpappel

    Perle 12 - Das Posthorn und die Löffelsprache

    Perle 13 - Die Todesboje

    Perle 14 - Die Ohrfeige

    Perle 15 - Leberwurstbrot beim Zigeunerbaron

    Perle 16 - Das vereitelte Schäferstündchen

    Perle 17 - Liebestöter bei der Konfirmation

    Perle 18 - Das Wunder von Bern

    Perle 19 - Ein Traum in Rosa

    Perle 20 - Die C D U, Kafkas Odradek und der Großinquisitor

    Perle 21 - Die Fackelträgerin

    Perle 22 - Morsen und der kategorische Imperativ

    Perle 23 - Studienbeginn in Münster

    Perle 24 - Xenophon, Volksmission und Pinkus Müller

    Perle 25 - Als „Boche" in Südfrankreich

    Perle 26 - El Diablo in Sevilla und der Duft von Azahar

    Perle 27 - Als Hauptmann Albrecht am Nordkap

    Perle 28 - Tokajer in der Schwarzen Katz

    Perle 29 - Tübinger Sommer

    Perle 30 - Morphium und Perlen vom Himmel

    Perle 31 - Hals- und Beinbruch fürs Hebraicum

    Perle 32 - Der vertaubte Professor aus Greifswald

    Perle 33 - 21 Schuhkartons für die „Ferse" des Agrippa

    Perle 34 - Renates letzte Zigarette

    Perle 35 - Das Ende der Schreibkur kündigt sich an

    Teil IV 2013-2016: Südafrika und Haffkrug an der Ostsee

    18 Wer die Blaue Blume finden will …

    19 Blau blühende Jacarandas in Johannesburg

    20 Geheimnisse des Seemannskoffers und Renates Asche

    21 Totensonntag beim Fischer von Haffkrug

    22 Der Schwarze Stein aus Südafrika

    23 Die mit den Steinen spricht …

    24 Das Geschenkpaket des Lebens

    25 Die mit Odradek tanzt und lacht

    26 Die Hundertjährige, die Steine sammelt

    27 Anagramme von Odradek bis Rumpelstilzchen

    28 Drei Fischer, drei Möwen und die „Rolling Stones"

    29 Der schönste Name für das „Buch-Kind"

    30 Der Muslim und die unsichtbare Perlenkette

    Nachwort 1: Die Perle des Colombre

    Nachwort 2: Die Steinpalme, ein arabisches Märchen

    Danksagung

    Webe deine Gedanken

    zu einem bunten Teppich,

    der dich erfreut

    und andere wärmt.

    Irischer Reisesegen

    Wenn du dir eine Perle wünschst,

    such sie nicht in einer Wasserlache,

    denn wer Perlen finden will,

    muss bis zum Grund des Meeres

    tauchen.

    Rumi, Sufi-Mystiker

    Es blitzt ein Tropfen Morgentau

    im Strahl des Sonnenlichts.

    Ein Tag kann eine

    Perle sein und ein Jahrhundert nichts.

    Gottfried Keller

    No mud – no lotus.

    No sorrow – no pearl.

    Ohne Schlamm – kein Lotos,

    Ohne Schmerz – keine Perle.

    nach Thich Nhat Hanh

    Das wahre Glück = das Himmelreich =

    ist mit einer kostbaren Perle zu vergleichen,

    für die ein Juwelier alle seine Habe verkaufte,

    nur um diese eine Perle zu erwerben.

    Aus den Gleichnisreden Jesu nach Jörg Zink

    Matthäus-Evangelium Kapitel 13, Verse 45-46

    Teil I 1978-1990: Münster – Neumünster

    1 Higglety Pigglety Pop!

    Higglety Pigglety Pop!

    Es muss im Leben mehr als alles geben

    There must be more to life than having everything

    Einst hatte Jenny alles.

    Sie schlief auf einem runden Kissen im oberen und auf einem viereckigen Kissen im unteren Stockwerk. Sie hatte einen eigenen Kamm, eine Bürste, zwei verschiedene Pillen-Fläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein Thermometer, einen roten Wollpullover für kaltes Wetter und ein Halsband aus golden schimmernden Bernsteinperlen gegen Zecken, obwohl sie nie nach draußen durfte. Sie hatte zwei Fenster zum Hinausschauen und zwei Schüsseln für ihr Futter. Und sie hatte einen Herren, der sie liebte. Doch das kümmerte Jenny wenig. Um Mitternacht packte sie alles, was sie besaß, in eine schwarze Ledertasche mit einer goldenen Schnalle und blickte zum letzten Mal zu ihrem Lieblingsfenster hinaus.

    „Du hast alles", sagte die Topfpflanze, die zum selben Fenster hinaussah.

    Jenny knabberte an einem Blatt.

    „Du hast zwei Fenster, sagte die Pflanze. „Ich habe nur eines.

    Jenny seufzte und biss ein weiteres Blatt ab.

    Die Pflanze fuhr fort: „Zwei Kissen, zwei Schüsseln, einen roten Pullover, ein Perlenhalsband, Augentropfen, Ohrentropfen, zwei verschiedene Fläschchen mit Pillen und ein Thermometer. Vor allem aber er l i e b t dich."

    „Das ist wahr", sagte Jenny und kaute noch mehr Blätter.

    „Du hast alles", wiederholte die Pflanze.

    Jenny nickte nur, die Schnauze voller Blätter.

    „Warum gehst du dann fort?"

    „Weil ich unzufrieden bin", sagte Jenny und biss den Stängel mit der Blüte ab.

    „Ich wünsche mir etwas, was ich nicht h a b e."

    Und Jenny seufzte: „Es muss im Leben mehr als alles geben!"

    Die Pflanze sagte nichts mehr.

    Es war ihr kein Blatt geblieben, mit dem sie etwas hätte sagen können.

    Jenny nahm alles, was sie besaß, und ging in die weite Welt hinaus.

    nach Maurice Sendak

    2 Diese Hände werde ich einmal beerdigen

    1978: Erste Szene meiner Ehe .

    Ich erinnere mich und erlebe alles so, als wäre es gestern gewesen.

    Münster in Westfalen. Ich bin 39 Jahre alt.

    Durch eine Heiratsannonce lernte ich ihn kennen, Hanjo, meinen zukünftigen Mann. Alles passte wunderbar zusammen. Hanjo war Theologe – wie ich. Er stammte aus Ostpreußen – wie ich. Hatte Krieg und die Flucht miterlebt – wie ich. Er war Gefängnisseelsorger und hatte seine Gefangenen betreut – wie ich. Fünf Jahre lang hatte ich in Münster wöchentlich meinen Mörder im Gefängnis besucht. Ehrenamtlich.

    Hanjo hatte mir eine geschnitzte Madonna geschenkt, eine mild lächelnde Maria mit einem pausbäckigen Jesus auf dem Arm. Ihre Füße ruhten auf der Mondsichel. Die 80 cm große Figur war aus dem Stamm einer Zirbelkiefer herausgearbeitet worden. Ein zarter Duft, süß und betäubend wie Azahar von Orangenblüten, schwebte durch mein Wohnzimmer, und auch die Madonna schien mit ihrem Kind in den Himmel zu schweben.

    In seinem ersten Brief an mich hatte Hanjo mit Shalom, in hebräischen Buchstaben, gegrüßt, und mit Shalom hatte er sich verabschiedet. Friede, Heil und Segen winkten mir. Der Himmel und ein eigenes Kind. Alles wird gut! dachte ich.

    Meine Versetzung an ein anderes Gymnasium, ins 300 km entfernte Neumünster, hatte ich nach zweimonatigem Kennenlernen sofort beantragt. Dass Hanjo aus einer ersten Ehe eine 13jährige Tochter bei sich hatte und mit seiner 70jährigen Mutter zusammenlebte, störte mich keineswegs, war dann doch schon eine kleine Familie vorhanden, in die ich mit meinen Hoffnungen hineinheiraten würde. Ich wollte, dass meine Eltern ihn sehr bald kennenlernten. Es wurde eine merkwürdige Begegnung. Meine Mutter sprach ihr gewähltestes Deutsch vor dem Herrn Doktor der Theologie. Mein Vater blieb zunächst wortkarg, als aber Ostpreußen, die verlorene Heimat, im Gespräch auftauchte, wurde Vater richtig redselig, und bald saßen die beiden Männer wie zwei alte Kriegskameraden einander gegenüber und schwärmten von der verlorenen Heimat.

    Hanjo hatte als 13-Jähriger das Ende des Krieges auf der Flucht aus Gumbinnen und in Berlin miterlebt. Mein Vater taute auf und war auf einmal nicht mehr zu bremsen. Einzelheiten fielen ihm ein über das Führerhauptquartier bei Rastenburg. Seine Augen leuchteten, als er vom Bau der Wolfsschanze sprach, an der er als Pionier bei der Wehrmacht mitgearbeitet hatte. Seine Hände fuhren aufgeregt durch die Luft, als er vom Vormarsch der Russen berichtete, sie sanken auf die Tischplatte, als er nur noch in Andeutungen sprach von der Flucht im Winter, vom Untergang der Gustloff in der Ostsee, vom Selbstmord des Führers in Berlin. Ein müdes Lächeln spielte um seinen Mund, als er über seinen Einsatz in Lötzen und Königsberg erzählte, bei dem er – entgegen den Weisungen des Gauleiters Koch, der sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatte – mit Armeelastwagen Flüchtlinge in den Westen transportieren ließ. Alles das wirbelte mir nun durch den Kopf. Noch nie hatte mein Vater über den Krieg ein Wort verloren. Jetzt vor dem zukünftigen Schwiegersohn, der ja ein Pastor war, konnte er sprechen. Meine Mutter schwieg und lächelte mit spitzen Lippen. Als wir uns verabschiedeten, nickte sie hoheitsvoll, ganz die grande dame, die sie immer hatte sein wollen. Mein Vater hatte feuchte Augen, als er uns zum Auto begleitete und winkte. „Wenn jemand mit diesem Mann fertig wird, dann ist das unsere Tochter", soll mein Vater nach unserem Besuch zu meiner Mutter gesagt haben.

    Wir fahren in Hanjos Volvo Richtung Neumünster, wo ich meine neue Schule besichtigen und meine neue kleine Familie kennen lernen werde. „Weißt du, die Hände deines Vaters habe ich die ganze Zeit ansehen müssen. Diese großen Hände werde ich einmal beerdigen".

    Ich zucke zusammen. Was soll das? Schnell schiebe ich meine großen Hände unter die Knie, auf das samtene Polster des Beifahrersitzes. Ich blicke auf Hanjo, der über die Autobahn Richtung Hamburg rast. Ein zufriedenes Lächeln spielt um seinen Mund:

    „Ich kann gute Trauerpredigten halten", sagt er andachtsvoll und selbstzufrieden.

    Ich schlucke. Ein bitterer Geschmack klebt mir auf der Zunge.

    „Bei Max Frisch, aber auch bei Augustinus, finde ich immer Textstellen, die sich bei Beerdigungen gut machen."

    Ich merke, wie sich meine Kiefer verkrampfen. Mit zusammengebissenen Zähnen höre ich weiter zu. Hanjo entwirft während der Fahrt vor meinen Ohren seine Predigt für die Beerdigung meines Vaters. Er hat sie schon fast fertig im Kopf. „Mein Gott, nein, denke ich, „nein, hör auf! Doch ich sage kein Wort. Stumm zähle ich die Sätze, die er elegant formuliert. „Nein, nein, nein! Ich schüttele innerlich den Kopf, immer wieder: „Nein!

    Plötzlich unterbricht Hanjo seine Beerdigungsgedanken und weist auf zwei Rehe, die weit entfernt am Waldrand äsen.

    „Meine Mutter und die Tochter freuen sich auf dich."

    „Ja", sage ich laut, und Hanjo lächelt zufrieden, dass ich mit ihm und seiner Predigt einverstanden scheine, und er erzählt stolz von den vielen mir unbekannten Menschen, denen er zu Lebzeiten schon seine Trauerpredigten angeboten hat. „Ich möchte so gerne von dir beerdigt werden, das hat mir die alte Frau Toussaint aus Gumbinnen gesagt, neulich bei ihrem 80. Geburtstag in Eutin."

    „Aber mein Vater ist noch nicht einmal 70. Er ist doch noch gar nicht tot!"

    „Und ich habe seine Hände gesehen!", sagt Hanjo mit Bestimmtheit.

    Ein dicker Kloß verschließt mir die Kehle. Als wir bei seiner Mutter und der dreizehnjährigen Sigilina ankommen, ist für mich das Beerdigungsgespräch wie ein Spuk verflogen. Das Mädchen fliegt mir um den Hals, sie klammert sich förmlich an mich, und die alte Mutter blickt mir mit aufgerissenen Augen entgegen. „Er ist doch ein gutes Jungchen", flüstert sie mir zu und reicht mir ihre eiskalten, feuchten Hände. Noch weiß ich nicht, dass Hanjo insgesamt vier Kinder von zwei Ehefrauen hat, dass er neben seinem Pastorenberuf Gedichte und Romane schreibt, die in der damaligen DDR veröffentlicht wurden und dass er von seiner letzten Frau noch nicht geschieden ist. Ich weiß nur, dass ich diese beiden Menschen hier in Neumünster und ihn nicht im Stich lassen kann und dass ich sie alle lieben werde. Ich werde sie alle zusammen heiraten.

    Vor meinem Umzug von Münster in die neue Heimat nach Neumünster hatte mein Vater plötzlich den Wunsch geäußert, 33 Jahre nach Kriegsende doch noch einmal die alte Heimat Masuren wiederzusehen, nach Lötzen zu fahren, das heute Gizycko heißt. Meine Mutter hatte darauf bestanden, dass nur ihre beiden in Lötzen geborenen Kinder mitkommen sollten, keine Schwiegertochter, kein jüngster Bruder, auch kein Hanjo, der Schwiegersohn.

    Meine Mutter lächelte erleichtert, als die Mitfahrer feststanden. Meine Sommerferien lagen im August. Wir hatten vier Wochen Zeit für die Reise in die Vergangenheit.

    Wir fahren nach Polen über Stettin, Danzig, Elbing, Wormditt, Heilsberg, Bischofsburg, Rastenburg bis Lötzen, vorbei an Orten, deren Namen nur noch auf Vaters Landkarte von 1939 verzeichnet sind, Namen, die keiner mehr nennt und niemand mehr kennt. In Lötzen suchen wir das Mutterhaus Bethanien auf, in dem Bruder Manfred und ich zur Welt kamen und das heute ein polnisches Krankenhaus ist. In der einst evangelischen Kapelle, die zum Mutterhaus gehörte, ist nun eine Madonnenfigur aufgestellt, auf dem Arm das Jesuskind, das die Weltkugel in der rechten Hand hält. Das ewige Lämpchen brennt wie in jeder katholischen Kirche. Es duftet streng nach Weihrauch. Vergeblich schnuppere ich nach dem milden Zirbelkiefergeruch meiner Madonna auf der Mondsichel. Ein Glöckchen ruft zur Andacht. Niemand kommt. Wir sind allein in der Kapelle. Hier erzählt meine Mutter zum ersten Mal von meinem verstorbenen Bruder, der 1937 als Frühchen nach der Geburt nur zwei Tage lebte. Ich hatte einen Bruder Dieter gehabt. Ich war also nicht die Erstgeborene!

    Meine Mutter wischt sich die Augen: „Immer wenn ich Glocken läuten höre, muss ich weinen. Aber das Mutterkreuz habe ich trotzdem bekommen."

    Mein Vater ist sehr still. Nur einmal noch wird er gesprächig, nachdem wir das Haus gefunden haben, in dem ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbrachte, in der alten Pionierstraße 2. Jetzt wohnen dort mehrere polnische Familien. Vater hat ein Foto mitgenommen, auf dem er aus genau diesem Haus aus einem Fenster schaut, in Wehrmachtsuniform, und vor dem Fenster stehen seine Kameraden aus der nahen Kaserne und bringen dem Feldwebel Alfred Albrecht ein Geburtstagsständchen im Dezember 1938, acht Monate vor dem Überfall auf Polen, acht Monate vor Kriegsbeginn, zwei Monate vor meiner Geburt. Vater hält das vergilbte Foto wie einen Ausweis hoch, um der Polin, die aus demselben Fenster schaut wie er damals, zu erklären, warum er, warum wir vier vor diesem Haus stehen. Die Polin scheint irgendetwas begriffen zu haben und bittet uns freundlich ins Haus. Wir können aber kein Polnisch. Ich habe ein Liliput-Wörterbuch mitgenommen, und radebrechend, das alte Foto zeigend, gestikulierend versuchen wir, uns verständlich zu machen. Die polnische Familie begreift, dass wir keine Besitzansprüche stellen wollen, sondern vor vielen Jahren einmal in ihrer Wohnung, in der jetzigen ulica pionierska, zuhause waren. Alle reden durcheinander. Die Polen erklären uns, dass auch sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden und dass sie nach dem Krieg diese Wohnung von den Russen zugewiesen bekommen hätten. Alles, was sie uns sagen wollen, klingt nach einer Entschuldigung. Dann taucht die polnische Großmutter auf, die noch deutsche Lieder in der Schule hatte lernen müssen. Fuchs, du hass die Gans gestollen, gib sie wiedär här, singt sie vergnügt. Alle lachen.

    Am nächsten Tag sind wir zu Wodka und Kuchen bei ihnen eingeladen. Der Kuchen ist nicht ganz durchgebacken, klietschig, wie wir früher in Ostpreußen sagten. Aber er schmeckt trotzdem, und die Stimmung ist ausgelassen. Der Besuch der Wolfsschanze bei Rastenburg ist für meinen Vater sehr wichtig. Als er dort am Führerhauptquartier die Bunkeranlagen mit gebaut hatte, habe niemand etwas von Konzentrationslagern gewusst. Der Ostwall habe verteidigt werden müssen. Als Berufssoldat habe er die Heimat beschützen helfen müssen. Nachdem mein Vater Rastenburg unter dem polnischen Ortsnamen Ketrzyn gefunden hat, kommen wir bei der Wolfsschanze an. Am Eingang empfangen uns riesige Plakatwände mit 5 x 5 Meter großen Fotoaufnahmen aus Konzentrationslagern: ausgemergelte Gestalten in Sträflingskleidung, Bilder von Massengräbern, Schuhberge, Haarberge, Leichenberge, Bilder des Grauens. Mein Vater versteinert. Die Betonklötze des ehemaligen Führerhauptquartiers, die hinter den Plakatwänden auftauchen, liegen wie zerborstene Dinosaurier-Leiber unter den Bäumen. Sprengungen haben den 8 Meter dicken Betonwänden kaum etwas anhaben können. Sie haben sich nicht von der Stelle gerührt. Risse und Spalten zeigen sich, Bäume wachsen dazwischen heraus. Die Baracke, in der Hitler sich aufhielt, als Stauffenbergs Bombe explodierte, steht nicht mehr. Mein Vater irrt wie ein verlorenes Kind zwischen den Bunkerklötzen hin und her. Ich sehe seinen schmalen, zusammengekniffenen Mund. Wie ein Hund ohne Schwanz, denke ich und beobachte seine taumelnden Schritte. Er hatte uns seine Wirklichkeit von damals zeigen wollen. Die Fotos hier haben ihn überführt. Er hatte seine Lebenskraft für sein Land, für sein Volk und seinen Führer einsetzen wollen. Er war einem Wahnsinnigen gefolgt. Er hatte die Heimat nicht retten können. Alles ist verspielt, alles ist für immer verloren. Der Einsatz seines Lebens: umsonst. Vor Frau und Kindern steht er als Mittäter da, ein gehorsamer Soldat, ein Gefolgsmann des Todes.

    Als Berufssoldat hatte der Unteroffizier Albrecht nicht lange überlegt, als 1957 das verlockende Angebot kam, im Rang eines Hauptmanns beim Generalkommando der Bundeswehr in Münster eingestellt zu werden. Er durfte sogar an einem Majors-Lehrgang teilnehmen, und meine Mutter war für kurze Zeit glücklich gewesen. Doch er hatte nicht bestanden. Mit Tränen erstickter Stimme hatte er vor uns Kindern gestanden und gefragt:

    „Habt ihr mich jetzt noch lieb?"

    Ich hätte ihn gern in den Arm genommen.

    Meinem Bruder Manfred war das alles peinlich. „Senile Affektlabilität", murmelte er, weil er das irgendwann in einem Psychologiebuch gelesen hatte. Ich war nur hilflos und wütend auf alle, vor allem auf meine Mutter, die ihn zu diesem Lehrgang gedrängt hatte.

    Ende August fahren wir aus Ostpreußen zurück. Wir haben uns eine neue Landkarte gekauft, und wir fahren nicht mehr von Lötzen über Bischofsburg, Allenstein, Osterode, Elbing nach Danzig und dann weiter nach Stettin, sondern von Gizycko über Biskupiec, Olsztin, Ostróda, Elblag, nach Gdansk und dann weiter über Szczecin nach Neumünster, wo Hanjo schon auf mich wartet. Er ist außer sich vor Zorn, denn er habe vier Wochen keine Nachricht von mir bekommen. Keiner meiner täglichen Briefe aus Polen hat ihn je erreicht. Er zerrt mein Gepäck aus Vaters Auto und reißt mich in seinen Volvo. Ich lasse mich widerstandslos, wie ein Gepäckstück, auf den Beifahrersitz verfrachten.

    Zwei Wochen später erlitt mein Vater einen Schlaganfall in Bad Harzburg, wohin er mit meiner Mutter zur Kur gefahren war. Er konnte nicht mehr sprechen, meine Mutter war bei ihm, und er hat ihr – wie sie später erzählte – bis zu seinem Ende immer wieder die Hände gestreichelt – mit seinen großen Händen. Hanjo setzte sich sofort an seine Traueransprache für Vaters Beerdigung. Für ihn war klar, dass nur er die Beerdigungspredigt halten würde, obwohl ihn niemand darum gebeten hatte. Also fahre ich allein in die Klinik, wo mein Vater aufgebahrt ist. Papas Hände liegen gefaltet auf seiner Brust, diese großen Hände, die auch die meinen sind. Wie gerne würde ich diese Hände zum Abschied küssen. Aber vor den Augen meiner Mutter habe ich keinen Mut dazu. Mir fällt nur das Vaterunser ein, das ich ganz ruhig, mit heiserer Stimme aufsage wie ein Gedicht unter dem Weihnachtsbaum.

    Als ich aus der Klinik zurück nach Hause komme, sitzt Hanjo noch bei seiner Predigt und will mir seine gelungenen Formulierungen vorlesen. Ich höre kaum zu. Diesen Mann will ich heiraten? Ja, ich habe es ihm doch versprochen, ihm, seiner Mutter und vor allem Sigilina, der Tochter. Ich will sie alle lieben. Ich werde sie alle lieben! Ich werde sie alle glücklich machen!

    Zwei Wochen später. Es regnet, als wir in Lauheide bei Münster am Grab stehen. Ein Geschwader der Bundeswehr fliegt donnernd über den Friedhof. Die letzten Worte von Hanjo, der tatsächlich meinen Vater beerdigt hat, verlieren sich im Lärm der Düsenjäger. Langsam schreiten wir einzeln an das offene Grab, um eine Schaufel voll Erde auf den Sarg zu werfen.

    „Das war wirklich eine tolle Predigt", flüstert mir Freundin Lulu zu. Ich habe nichts davon behalten. Mit bloßen Händen greife ich in die Erde und werfe sie in das Grab. Es poltert leise. Paps, was soll ich tun?, frage ich stumm ins Grab hinein. Soll ich ihn wirklich heiraten?

    Nur Mut, mein Mädchen, du schaffst es, höre ich als Antwort.

    Einen Monat später, am 24. Oktober 1978, heirate ich Hanjo und seine kleine Familie standesamtlich, im Rathaus zu Münster, direkt neben dem Friedenssaal. Hélène aus der Partnerstadt Orléans ist Trauzeugin ebenso wie der Mann meiner damaligen Kollegin Lulu. Meine Mutter ist nicht gekommen, so wie ihre Mutter zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter Alice nicht erschienen war. Diese hatte 1933 einen Mann im Rollstuhl geheiratet. Ich habe mir ein zartblaues Wollkleid für meine standesamtliche Trauung gekauft. Eine schwarze Stoffrose ist mein einziger Schmuck.

    3 Ich habe gar keine Angst mehr

    1983: Zweite Szene meiner Ehe.

    Neumünster/Schleswig-Holstein. Ich erinnere mich an

    jede Einzelheit beim Tod der Mutter. Ich bin 44 Jahre alt.

    Die fünf Jahre nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter mit Aufräumen, Ordnen und Aussortieren von Akten, Briefen, Fotos und alten Kleidern verbracht. Die Baby- und Jugendfotos ihrer drei Kinder hatte sie nicht fortgeworfen. Sie hatte drei Alben zusammengestellt, für jeden eins. Schwarzweißfotos aus Ostpreußen, aus der Ostzone, aus der Schulzeit im Westen, Farbfotos von Ferienreisen und Familienfeiern, alles hatte sie säuberlich mit Fotoecken befestigt. Darunter hatte sie Zettelchen geklebt, auf die sie mit der Schreibmaschine Datum und Erläuterungen für jedes Bild fehlerfrei getippt hatte. Ganz ohne Tipp-Ex. Jeder Bruder bekam sein Album in Abwesenheit des anderen mit der Bemerkung überreicht: Du warst doch immer mein Liebling gewesen. Mein Album – aber ohne diese Bemerkung – bekam ich Weihnachten 1982 in die Hände gelegt, als meine Mutter bei Hanjo und mir in Neumünster im inzwischen erworbenen Bungalow zu Besuch war. Damals hielt ich das in maisgelbes Leder eingebundene Werk vorsichtig an meine Brust gepresst, streichelte über die Albumdeckel und bedankte mich bei meiner Mutter. Ich trug es hinunter in den Raum, der mein Arbeitszimmer war, direkt neben dem Keller. Ich wollte es alleine betrachten. Vor allem Hanjo sollte nicht in das Album hineinschauen, um nicht irgendwelche abwertenden Bemerkungen machen zu können. Es ist Mitternacht, als ich noch einmal in den Keller schleiche, um das Album zu öffnen. Hanjo schläft, die Tochter schläft, und meine Mutter ist im Gästezimmer zur Ruhe gegangen. Ich öffne das umfangreiche Album und lasse die Bilder an mir vorbeigleiten: Zunächst nur Fotos in Schwarzweiß.

    1939 – Ginalein an der Mutterbrust steht unter dem ersten Foto.

    1940 – Ginalein auf dem Schlitten steht unter dem zweiten Foto. Ich sehe mich in Lötzen mit verfrorener Nase in einer Schneelandschaft im tiefsten ostpreußischen Winter. Neben mir steht Christel Plaga, unser Pflichtjahr-Mädchen aus Westfalen. Sie hat freundliche Augen.

    1942 – Gina mit Brüderchen Manfred am Löwentinsee. Unter seinem Sonnenhütchen erkenne ich die langen blonden Löckchen meines Bruders, so hell wie die Haare meiner Mutter. Unter meinem Hut sehe ich nur meine dunklen Strubbelhaare und meine trotzig zusammengepressten Lippen. Meine rechte Hand umklammert Mompi, meinen geliebten Stoffhasen, meine linke Hand baumelt herunter, zusammengerollt zu einer kleinen Faust. Meine Augen blicken nicht in die Kamera.

    1943 – Gina und Manfred im Paddelboot HANNI. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mit meinem Bruder und mir zu einer kleinen Insel im Löwentinsee – dem heutigen Jezioro Niegocin – gepaddelt war. Die Butter fürs Picknick hatten wir Kinder in die großen pelzigen Blätter des wilden Rhabarber gewickelt, der am Seeufer wuchs. Eine Kühlbox der Natur. Ich sehe das glückliche Lächeln meiner Mutter. Gut sieht sie aus mit ihren goldblonden Haaren und dem tief ausgeschnittenen hellen Oberteil mit dunklen Punkten. Wen lächelt sie an? Wer hat uns vom Ufer aus fotografiert? Mein Vater kann es nicht sein. Er ist an der Front in Russland. Nach dem Tod von Brüderchen Dieter hatte er meiner Mutter ein Paddelboot zum Trost geschenkt und ihren Namen HANNI darauf malen lassen. Der Geruch von den geteerten Brettern des Bootssteges im kleinen Lötzener Hafen steigt mir wie damals würzig in die Nase. Doch die Frage bleibt: Wen lächelt sie so glücklich an?

    Ich schnuppere in das kleine Foto hinein. Der Teergeruch wird immer intensiver, er vermischt sich mit leicht beißendem Duft von Räucherfisch und dem angenehmen Parfüm von Tannennadeln, die auf dem heißen Ofen in unserer Lötzener Wohnung knistern und peesern – wie wir in Ostpreußen sagten. Und wie durch einen Wolkenschleier taucht vor meinen inneren Augen plötzlich das Gesicht von Roger auf, das lächelnde Gesicht des gefangenen Franzosen, der in Lötzen auf den Äckern und Gärten der Pionierstraße als Zwangsarbeiter den Boden umgraben musste. Mon petit lapin, hatte er mir einmal leise zugerufen, als ich im Sandkasten Burgen baute, mit Förmchen Kuchen backte und aus lehmiger Erde Figürchen zu kneten versuchte. Mit meinen viereinhalb Jahren wollte ich damals unbedingt wissen, was Momptilapäng hieß. Meine Mutter war rot geworden, als ich sie danach fragte und malte mir ein Häschen in den Sand, ein Osterhäschen mit langen Ohren, dazu eine Kiepe für die Ostereier. Momptilapäng sollte also Osterhase bedeuten? Am nächsten Tag rollte ich viele kleine Lehmkügelchen zwischen meinen Patschhänden, viele Ostereierchen für Momptilapäng und seine Kiepe.

    Ich blättere schnell weiter, sonst holen mich zu viele Bilder aus meiner Kindheit in Ostpreußen wieder ein. Doch ein Gedanke hakt sich in mir fest: Ob Roger damals, 1945, im Chaos von Flucht und Vertreibung wieder gesund

    nach Frankreich zurückgefunden hatte, nach Orléans, wo er herstammte? Ob er heute noch lebt?

    Von der Flucht selbst gibt es keine Fotos. Ich blättere weiter. Meine Augen bleiben an den Fotos aus meiner Tanzstundenzeit hängen. Es sind Farbfotos, fast alle verblasst, Bilder aus einer versunkenen Welt.

    1954 – Regina als Ballkönigin beim Abtanz, lese ich auf dem Zettelchen unter dem Foto. Dort stehe ich als Fünfzehnjährige in einem langen Abendkleid aus reinseidenem Organza in Altrosa neben Gerd, meinem Tanzstundenherrn, von allen Vize genannt. Ich trage lange weiße Handschuhe, hoch bis zu den Ellbogen. Gerd trägt einen schwarzen Anzug mit silberner Krawatte. Ein Taschentüchlein aus dem Seidenstoff meines Kleides, unterfüttert mit rosa Duchesse-Stoff, ist an seinem Jackett befestigt – mit einer Sicherheitsnadel. Ein Zeichen dafür, dass wir auf dem Abschlussball der Tanzstunde als Paar zusammengehören. Ich blicke zu Gerd auf, proste ihm zu mit einem Sektglas in behandschuhter Hand. Er lächelt von seinen 1,92 m auf mich herab, auf mich, die kleine Regina mit ihren 1,62 m, in ihren hohen Gold-Sandaletten, mit einer echten rosa Perlenkette um den Hals. Das Kleid hatte damals 340,00 DM gekostet: ein volles Monatsgehalt meines Vaters. Ich blättere immer schneller weiter.

    1961 – Regina als Skihase in den französischen Alpen.

    1962 – Silberhochzeit der Eltern in Münster. Das Foto mag ich mir nicht lange anschauen. Das gekünstelte Lächeln meiner Mutter, das gequälte Lächeln meines Vaters, die ernsten Gesichter von uns drei Kindern. Alles Masken. Alles Krampf. Ich finde in dem Album kein Foto von mir als verheirateter Frau in Neumünster, obwohl ich meiner Mutter Bilder von der kirchlichen Trauung geschickt hatte, kein Foto von Tochter Sigilina, ihrer Stief-Enkelin, keine Fotos von mir mit Hanjo. Als die leeren Seiten beginnen, schlage ich das Album zu und denke dabei an das Leben meiner Mutter als Witwe. Den Mut, genauso fröhlich und unbekümmert wie Brechts unwürdige Greisin zu leben, hat sie nicht gehabt. Doch über die Musik knüpfte sie an alte unbeschwerte Erinnerungen an, Erinnerungen aus der Zeit vor dem Krieg. Meine Mutter hörte wieder gern Schallplatten mit Schlagern aus den dreißiger Jahren. Sie liebte Wenn der weiße Flieder wieder blüht oder Schenkt man sich Rosen in Tirol. Oder sie hörte französische Chansons, die ich ihr geschenkt hatte. Ohne Zittern in der Stimme sang sie die Texte mit. Immer wieder hörte ich O Champs-Elysées und Le Petit Pain au Chocolat von Joe Dassin, und La Mer von Charles Trenet.

    „Vielleicht hätte ich eine Callas oder Piaf werden können", sagte sie einmal versonnen zu sich selbst. Ich konnte es im Nebenzimmer hören.

    Hedwig Courths-Mahler oder Nataly von Eschtruth, diese Bücher ihrer Jungmädchenzeit in Königsberg, liest sie nicht mehr. Sie liest dafür immer häufiger im Ostpreußenblatt, das mein Vater seit Kriegende abonniert und das sie nach seinem Tod nicht abbestellt hatte. Sie hält das Alleinsein nur schwer aus. Jeden Tag telefoniert sie bis zu vier Stunden mit ihrer Schwester Schina, die mit ihrem Mann nur 15 km von Münster entfernt in Hiltrup wohnt. Ihre Angst vor der Einsamkeit ist größer als ihre Vorbehalte gegen den ungeliebten und gefürchteten Schwiegersohn Hanjo, der ihr doch die einzige Tochter fortgenommen hat. „Mit wem soll ich mich denn unterhalten, wenn du weg bist?" hatte sie mir damals kurz vor meiner Heirat in Gegenwart meines Vaters angsterfüllt zugerufen.

    Ich habe sie trotz ihrer Abneigung gegenüber Hanjo regelmäßig in unser eigenes neues Haus nach Neumünster eingeladen. Sie ist immer sofort gekommen. In den fünf Jahren nach meines Vaters Tod ist sie alle acht Wochen bei uns gewesen, aber nie länger als drei Tage. Die Spannungen, die sich dann unterschwellig im Haus aufbauten, waren nach dieser kurzen Zeit immer knapp vorm Explodieren. Ich sehe sie vor mir, wie sie einmal aus ihrer Schmuckschatulle eine lange Bernstein-Perlenkette herauszieht, um sie ihrer Stief-Enkelin Sigilina zu schenken. Muttis Augen sind leicht trüb, milchig blau, nicht mehr so klar wie früher. Als sie Sigilina vorsichtig die Kette aus ostpreußischem Naturbernstein umlegt, schaut sie mich an. Ihre Augen bitten mich: „Lass mich nicht im Stich. Lass mich nicht allein". Ich kann wegen Hanjo nichts sagen. Aus ihrer Schatulle kramt sie noch eine Silberspinne mit dickem Bernstein-Bauch hervor, sie reicht sie mir, blickt aber an mir vorbei, und ich verstehe, dass sie sich mir mit diesem Geschenk selbst in die Hände legen möchte. „Ich hab' so Angst", sagt mir die kleine Bernsteinspinne. Ich antworte nichts. Sehr viel später werde ich in London die Riesenspinne von Louise Bourgeois vor dem Tate Modern Museum an der Themse sehen. Maman hat die Künstlerin diese 10 m hohe Spinne aus Bronze und Edelstahl genannt. Ich werde unter diesen gespenstischen Spinnenbeinen an die Bernsteinspinne meiner Mutter denken müssen. Als meine Mutter ihren Herzschrittmacher bekommt und sie sich kurz darauf nach einem Sturz den rechten Arm bricht, kann ich ihr nicht versprechen, sie notfalls zur Pflege in unserem Haus aufzunehmen. Hanjo ist zu unberechenbar. Und ich selbst habe viel zu viel Angst vor ihm, um ihm dies überhaupt vorzuschlagen, obwohl ich doch seine Mutter bis zu deren Tod vor drei

    Jahren in unserem eigenen Haus versorgt hatte. Meiner Mutter gegenüber fühle ich mich schuldig, wie eine Verräterin.

    Mit einem Herzinfarkt wird Mutti im April 1983 in die Universitätsklinik Münster eingeliefert. Hanjo und ich fahren sie am Wochenende sofort besuchen. Der Schlüssel zu ihrer Wohnung, den sie mir vor fünf Jahren vor der standesamtlichen Trauung abgenommen hatte mit den Worten: „Ich habe keine Tochter mehr!", dieser Schlüssel liegt nun wieder in meiner Hand, und wir können in ihrer Wohnung übernachten. Hanjo kommt nicht mit mir in ihr Krankenzimmer in der Uniklinik. Er wartet auf mich in der Cafeteria. Mutti liegt in einem Einzelzimmer, in einem Bett am Fenster. Sie ist an einem Monitor angeschlossen. Ich sehe die unregelmäßigen zackigen Kurven ihres Herzschlags auf dem Bildschirm, sehe die kleinen Aussetzer. Wie schlimm steht es wirklich? denke ich.

    „Weißt du, sagt sie und lächelt, „die Ärzte sagen, dass ich noch einmal Glück gehabt habe.

    Ich sehe das Ostpreußenblatt auf dem Nachttisch liegen.

    Mit verschmitzten Augen fragt sie mich leise: „Meinst du, ich könnte ihn einfach mal anrufen? In unserem Ostpreußenblatt habe ich gelesen, dass Fritz B. in Lüneburg lebt. Er soll erblindet sein."

    Natürlich kenne ich den Namen ihrer ersten großen Jugendliebe aus Königsberg von 1927 und das plötzliche Ende dieser Schwärmerei, weil Mutti nicht einmal einen Handwerker als Vater hatte vorweisen können. Wenn dein Vater doch wenigstens Handwerker wäre, dann könnte ich dich als Couleur-Dame in meine Verbindung einführen, soll der Jurastudent Fritz B. meiner damals 17-jährigen Mutter gesagt haben. Damit wurden alle ihre Träume von einem Akademiker als Mann zertreten, denn sie hatte ja bloß einen Arbeiter als Vater. Fritz B. war Fuxmajor in der Studentenverbindung Marko Natangia. Es war eine pflichtschlagende Verbindung in Königsberg. Muttis Vater war nur Heizer bei den Städtischen Gaswerken in Königsberg gewesen.

    Mutti räuspert sich: „Weißt du, Papa ist doch nun schon fünf Jahre tot. Ich möchte einfach noch einmal die Stimme von Fritz hören. Meinst du, dass er sich an mich erinnert?"

    „Soll ich dir die Telefonnummer heraussuchen?", frage ich eifrig, um ihr Mut zu diesem Telefonat zu machen. Ich sehe, wie sie sich vorsichtig aufrichtet, nach dem Ostpreußenblatt greift und dann zufrieden lächelt. Sie scheint einen Weg zu sehen, wie sie an die Telefonnummer kommen kann.

    Plötzlich schlägt sie ihre Bettdecke zurück, hebt ihr rechtes Bein in die Höhe, streichelt ihre nackten Wade und fragt mich ernsthaft: „Habe ich nicht immer noch attraktive Beine?"

    Sie trägt keinen Slip unter dem Nachthemd. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll.

    „Und fass mal an, mein Bauch ist ganz flach. Ich habe 15 kg abgenommen. Ich habe fast mein Idealgewicht von früher wieder."

    Ich drehe mich zum Fenster. Nacktheit gehörte zu einem der Tabuthemen in unserer Familie. Mutti geniert sich überhaupt nicht, ganz anders als früher. Schnell lege ich die Bettdecke wieder über ihre Scham. Warum schäme ich mich für Mutti? Warum schäme ich mich?? Ist Nacktheit überhaupt ein Grund zum Schämen? Was ist denn schlimm an der Nacktheit von Mutti? Mir fällt nur die Paradies-Geschichte aus der Bibel ein. Im Garten Eden seien Adam und Eva nackt gewesen, und sie schämten sich ihrer Nacktheit nicht, so steht es in der Bibel; denn unter den Augen ihres Gottes waren sie vollkommen, waren sie liebenswert. Einfach so! Und es gab nichts, weswegen sie sich hätten schämen müssen. Als Adam und Eva aber aus dem Paradies vertrieben waren, schämten sie sich auf einmal, und sie bekamen Feigenblätter als Kleidung. Was hatten sie denn so Verwerfliches getan, dass sie dafür Vertreibung aus dem Paradies, Flucht und den Tod verdient hatten und vor Scham vergehen mussten? Konnte das Essen jener unerlaubten Frucht wirklich solch vernichtende Folgen haben? Ich weiß es nicht. Und trotzdem schäme ich mich für Muttis Nacktheit? Warum ist mir ihre körperliche Nacktheit so peinlich? Ich weiß es einfach nicht. Mutti jedenfalls schämt sich ihrer Nacktheit heute nicht mehr. Ohne Höschen streckt sie mir stolz ihre nackten makellosen Beine entgegen. Und das mit 72 Jahren. Ist sie vielleicht schon verwirrt? Ich jedenfalls bin sehr verwirrt und weiß, dass ich nicht in theologischen Büchern, sondern eher bei Sigmund Freud oder Carl Gustav Jung nachforschen werde, um meine Scham und das Verhalten von Mutti zu verstehen. Ich decke Mutti bis zum Hals mit dem Feigenblätter-Bett-Tuch zu, lächle sie an und streichle ihre unruhig über die Bettdecke wandernden knotigen Hände.

    Hanjo und ich fahren erleichtert von Münster nach Neumünster zurück. Kaum zu Hause angekommen, erreicht Mutti mich allein am Telefon. Ich frage sofort nach: „Hast du Fritz angerufen?"

    Ich höre ein glucksendes Lachen, ein backfischhaftes Kichern.

    „Was hat er gesagt?", will ich wissen.

    „Weißt du, ich habe nur vorsichtig hallo gesagt. Ich wollte meinen Namen nicht gleich nennen. Und weißt du, was ich als Antwort bekam?"

    Sie holt tief Luft: „W a s h e i ß t h i e r h a l l o? hat er gesagt. Ich habe sofort aufgelegt. Der Mann am Ende der Leitung hatte eine so unsympathische, näselnde Stimme.

    Und leiser werdend fügt Mutti hinzu: „W a s h e i ß t h i e r h a l l o! hat er gesagt, in ziemlich barschem Ton und gelispelt hat er so unangenehm, als hätte er keine Zähne mehr."

    Dann lacht Mutti laut auf, irgendwie erleichtert. Wie ein junges Mädchen lacht sie am Telefon, und ich lache mit, bis mir die Tränen über die Wangen laufen. Und auch bei Mutti sehe ich trotz der dreihundert Kilometer Entfernung dicke Lachtränen aufs weiße Kopfkissen rollen.

    Bei meinem nächsten Besuch in einer Reha-Klinik in Bad Waldliesborn geht es ihr deutlich besser. Im Klinikpark ist der Frühling eingezogen. Ostern steht vor der Tür. Kein Ostpreußenblatt mehr auf dem Nachttisch, kein Wort mehr über den blinden und zahnlosen Fritz B. Der Jurastudent aus Königsberg ist nach fast 60 Jahren für Mutti endlich kein Thema mehr.

    Zu meinem Erstaunen entdecke ich eine aufgeschlagene französische Grammatik auf der Bettdecke und neben dem Telefon auf dem Nachttisch liegt ein Zettel mit Kritzeleien, wie sie oft während des Telefonierens absichtslos entstehen. Neben Kringeln und Blümchen mit Gesichtern erkenne ich ein Häschen mit viel zu langen Ohren und ein übervolles Körbchen mit klitzekleinen Eierchen, die als Kügelchen den Zettel bis zum Rand ausfüllen. Ein Osterhase, un lapin de Pâques, denke ich, und aus undeutlichem Summen in meinen Ohren höre ich eine Stimme Mon petit lapin sagen, und es riecht nach Teer und nach dem Wasser des Löwentinsees, und es ist die Stimme von Roger, und nach 40 Jahren höre ich dieses erste französische Wort meiner Kindheit wie aus weiter Ferne an meine Ohren dringen: Mompti-la-päng! Und ich denke an Mompi, mein Kuscheltier, den treuen Freund meiner Kindheit, den ich nie vergessen habe.

    Neben Muttis Kopfkissen sehe ich den Kleinen Prinzen liegen, Le Petit Prince auf Französisch und Deutsch. Woher hat Mutti dieses Buch? Ich jedenfalls habe es ihr nicht geschenkt. Wann und wie hat sie es sich besorgen können? Es ist meine Lieblingslektüre, die ich in den Oberstufen des Gymnasiums mit den Schülern oft durchgearbeitet habe. Nicht nur die Mädchen in den Klassen verliebten sich immer wieder in dieses moderne Märchen, sondern auch die Jungen begleiteten den Kleinen Prinzen voller Spannung auf seinen interstellaren Reisen.

    Ganz stolz berichtet Mutti: „Ich verstehe fast alles sofort auf Französisch. Der Fuchs ist wirklich schlau und weise, und die Rose benimmt sich manchmal nicht ‚comme il faut‘. Eifersüchtig und anmaßend ist sie. Höchst kompliziert. Und wenn der Rose irgendetwas nicht passt, schmollt sie wie eine beleidigte Leberwurst."

    Genau das sagt meine Mutter. Mir stockt der Atem, wie treffend und deftig sie diese kleine kapriziöse Rose charakterisiert. Es ist, als würde sie sich selbst damit beschreiben. So jedenfalls habe ich Mutti immer in der Beziehung zu meinem Vater erlebt, ihrem ungeliebten Ehemann.

    Mutti spricht leise weiter: „Als die Schlange mit ihrem Gift den Kleinen Prinzen töten will, ist der ganz gefasst. Er tröstet sogar noch den Piloten, der traurig und alleine auf dem Planeten Erde zurückbleiben wird. Zum Schluss schenkt der Kleine Prinz ihm noch einen Himmel voll lachender Sterne. Weißt du, Gina, jetzt, wo es bald Ostern ist, und die Erde nicht mehr so hart gefroren ist, stelle ich es mir im Sarg unter der Erde nicht mehr so kalt vor. Davor habe ich immer Angst gehabt."

    Sie liegt flach atmend in ihren weißen Krankenhauskissen.

    Über den Tod haben wir bisher noch nicht gesprochen. Mutti ist kein kirchennaher Mensch. Nur zu Weihnachten ist sie mit der ganzen Familie immer in den Gottesdienst gegangen. Und unter dem Weihnachtsbaum durfte ich immer die Weihnachtsgeschichte vorlesen. Das Tabu-Wort: schwanger wurde von mir dabei einfach übersprungen, oder ich sagte, dass Maria Schwager war, weil ich mich schämte, das Wort schwanger überhaupt auszusprechen. Bei den Weihnachtsliedern hatte ich keine Schwierigkeiten. Mit meiner Brummstimme untermalte ich wie ein basso ostinato: Ihr Kinderlein kommet, Stille Nacht und O du fröhliche. Mutti dominierte immer laut und glockenhell den Familiengesang. Sie hatte wirklich einen schönen Sopran.

    Ich will Mutti Mut machen: „Die Ärzte sagen doch, dass alles gut wird. In drei Wochen bist du wieder zu Hause, heureuse comme un poisson dans l'eau! Munter wie ein Fisch im Wasser, sei ganz unbesorgt!"

    Mutti seufzt tief. Sie wirkt jetzt müde. Hat sie vielleicht doch mehr Angst, als sie zugeben mag? Hanjo jedenfalls werde ich nichts von diesem Gespräch erzählen. Sonst wird sofort wieder die nächste Trauerpredigt in Angriff genommen, wie für meinen Vater.

    Ich komme wieder in Neumünster an. Unser Telefon streikt. Die Leitungen sind stumm. Vergeblich warte ich auf Anrufe. Niemand meldet sich. Auch ich kann niemand erreichen. Alles wie tot.

    Am nächsten Morgen finde ich den herausgezogenen Stecker der Telefonleitung unter dem Teppich. Ich war das nicht! Die Tochter studiert in Freiburg. Sie war es also auch nicht, und eine Putzfrau haben wir nicht. Warum reißt Hanjo die Telefonleitung aus der Wand? Wovor hat er solche Angst? Will er den Kontakt zur Klinik unterbinden? Als ich wieder eine Verbindung mit Mutti habe – ich brauchte nur den Stecker wieder einzustecken – sprudelt sie richtig über:

    „Weißt du, was ich für einen Traum gehabt habe? Es war so schön! So viel Wärme, so viel Sonne, so viel Licht. Alle waren da. Wie im Paradies. Alle haben mich in Empfang genommen. Meine Mutter und mein Vater waren da. Die Alice war da, und auch Brüderchen Reinhold hat mir gewinkt. Und stell dir vor, ich habe auch Roger gesehen, du weißt schon, den Franzosen aus Lötzen. Wenn ich jetzt sterbe, ist das gar nicht schlimm. Ich habe gar keine Angst mehr. Alle waren da. Es war wie im Paradies!"

    Blitzschnell schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Sollte Mutti wirklich einen echten Paradiestraum gehabt haben? Sollte ich ihr von Elisabeth Kübler-Ross erzählen? Von deren Interviews mit Sterbenden? Von den wunderbaren paradiesischen Bildern, die viele Menschen kurz vor ihrem Tod haben? Sollte ich ihr sagen, dass ein Mensch nach einem solchen Traum oft nicht mehr lange leben wird? Sollte ich ihr das wirklich sagen?

    Ich hole tief Luft: „Weißt du, Mutti, sage ich, „ich freue mich einfach, wenn du jetzt keine Angst mehr hast. Nach der Klassenfahrt in die Schweiz komme ich dich sofort besuchen.

    Mein letztes Telefonat mit Mutti führe ich aus der Schweiz.

    „Weißt du, Ginalein, es geht mir so gut. Ich freue

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