Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben
Von Fu Shen 沈復 und Richard von Schirach
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Über dieses E-Book
Diese 1877 aus dem Manuskript erstmals publizierte, ungewöhnlich freie Autobiografie wurde sofort ein großer Erfolg, der bis heute anhält: an die 300 verschiedene Ausgaben des Buchs in millionenfachen Auflagen sind bislang erschienen, mehrere Verfilmungen, Bühnenfassungen und Vertonungen sind entstanden. Richard v. Schirach hat diesen erstaunlich modernen Klassiker mit seiner bestechend lebensnahen Schilderung des Lebens in der Mitte des 18. Jahrhunderts neu übersetzt.
Fu Shen 沈復
Shen Fu, 1763 in der chinesischen Provinz Changzhou geboren, war ein Gelehrter und arbeitete eine Zeit lang im Staatsdienst. Er wurde berühmt durch seine posthum veröffentlichten Aufzeichnungen aus dem flüchtigen Leben mit ihren genauen Beschreibungen des Alltagslebens in der Qing-Dynastie. Shen Fu starb um 1825.
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Buchvorschau
Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben - Fu Shen 沈復
Schirach
AUFZEICHNUNGEN AUS EINEM FLÜCHTIGEN LEBEN
I.
DIE FREUDEN DER BRAUTKAMMER
Im Jahre 1763, zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Qianlong, kam ich im siebenundzwanzigsten Jahr seiner Regierung am zweiundzwanzigsten Tag des elften Mondes zur Welt. Damals herrschte tiefer Friede, und überdies wurde ich in eine Gelehrtenfamilie hineingeboren, die in der Nähe des Blauwellen-Pavillons* in Suzhou lebte. Su Dongpo sagte einst:
Das Leben zerstiebt wie ein Frühlingstraum,
ohne eine Spur zu hinterlassen.
Der Himmel meinte es gut mit mir, und ich würde mich undankbar erweisen, wenn ich nicht versuchte, mein Leben mit Pinsel und Tusche aufzuzeichnen.
Da das erste Kapitel des Buchs der Lieder mit einem Gedicht über die eheliche Liebe zwischen Mann und Frau anfängt, gedenke auch ich, damit zu beginnen und dann andere Ereignisse folgen zu lassen.
Leider muss ich gestehen, meine Ausbildung in der Jugend vernachlässigt zu haben. So ist die Sprache, über die ich verfüge, nur einfach, aber ich werde versuchen, damit die wahren Tatsachen und wirklichen Umstände wiederzugeben. Wer nicht davon lassen kann, meine Sprache auf Fehler zu durchsuchen, dem wird es wie jemandem ergehen, der erwartet, in einem blinden Spiegel etwas Glänzendes zu erblicken.
Als Kind war ich mit einem Fräulein Yu aus Jinsha verlobt gewesen, die starb jedoch mit acht Jahren, und ich heiratete ein Mädchen aus dem Chen Clan. Sie hieß Yun, und ihr literarischer Name lautete Shuzhen. Sie war die Tochter meines Onkels Xinyu mütterlicherseits. Schon von klein auf war sie besonders aufgeweckt. Als sie, kaum dass sie sprechen konnte, die Mandolinen-Ballade (Pipa xing) hörte, konnte sie das Stück auf Anhieb fast vollständig nachsprechen. Als sie vier Jahre alt war, starb ihr Vater. Die Mutter, die aus dem Jin Clan stammte, und ihr jüngerer Bruder Kechang waren völlig verarmt und besaßen nichts außer vier kahlen Wänden.
Als Yun älter wurde, war sie sehr geschickt mit Näharbeiten und musste mit ihren zehn Fingern drei Mäuler stopfen; darüber hinaus schaffte sie es auch noch, das Unterrichtsgeld für ihren jüngeren Bruder aufzubringen.
Eines Tages fand sie in der Bücherschachtel ihres Bruders eine Abschrift der Mandolinen-Ballade und brachte sich mithilfe der Worte, die sie schon auswendig kannte, ein Schriftzeichen nach dem anderen bei. In den freien Stunden, die ihr blieben, lernte sie nach und nach zu dichten. In einem ihrer Gedichte stehen die Verse:
Der Herbst lässt deinen Schatten schmäler werden, aber im Frosthauch gedeiht die Chrysantheme zu voller Blüte.
Als ich dreizehn Jahre alt war, begleitete ich meine Mutter in ihr Elternhaus und sah dort meine Cousine zum ersten Mal. Da Yun und ich in kindlicher Unschuld miteinander umgingen, ließ sie mich sehen, was sie verfasst hatte. Wiewohl ich über ihr Talent vor Bewunderung aufstöhnen musste, befürchtete ich doch insgeheim, dass ihr im Leben nicht allzu viel Glück beschieden sein könnte. Aber in Gedanken kam ich nicht von ihr los und sagte meiner Mutter:
»Und selbst wenn Ihr eine Frau für mich aussucht, so werde ich keine andere heiraten als Schwester Shu.«
Auch meine Mutter schätzte ihre Anmut und streifte, ohne Zeit zu verlieren, ihren Goldring vom Finger, um ihn Yun zum Zeichen dafür zu geben, dass wir verlobt seien. Das geschah am sechzehnten Tag des siebten Mondes im zweiunddreißigsten Jahr des Sechzigerzyklus der Ära Qianlong [1775].
In diesem Winter stand gerade eine von Yuns Cousinen vor ihrer Verheiratung, und ich begleitete meine Mutter erneut zu ihrem Elternhaus. Yun war im gleichen Jahr wie ich geboren, nur zehn Monate früher, und da wir uns schon von klein auf mit »Jüngerer Bruder« und »Ältere Schwester« angesprochen hatten, behielt ich die Anrede »Schwester Shu« selbst nach unserer Verlobung bei.
In der Halle waren lauter helle, farbenfrohe Kleider zu sehen, nur Yun trug einfache, unaufdringliche Farben, dazu neue Schuhe. Mir fiel auf, dass diese überaus fein bestickt waren, und ich nahm an, dass sie sie selbst angefertigt hatte. Da wurde mir klar, dass sich ihre Talente nicht nur auf Pinsel und Tusche beschränkten. Sie war von schlanker Gestalt, hatte schmale Schultern, einen langen Hals, und aus ihren Augen unter den geschwungenen Brauen blitzte ein wacher Geist. Der einzige kleine Makel waren siehe Vorwort Schneidezähne, was als kein günstiges Vorzeichen gilt. Aber sie hatte eine Art seidener Anmut, die mich gänzlich in ihren Bann zog.
Ich bat sie, mir zu zeigen, was sie geschrieben hatte, und stellte mit Bedauern fest, dass oft nur der Anfangsvers dastand und auch die meisten der aus drei, vier Zeilen bestehenden Gedichte unvollendet geblieben waren. Nach dem Grund gefragt, antwortete sie:
»Niemand hat mir das Komponieren von Gedichten beigebracht. Ich wünsche mir einen Freund und Lehrer, der mir helfen würde, mein Geschreibsel nachsichtig und liebevoll zu glätten.«
Nur so zum Spaß schrieb ich mit dem Pinsel die Schriftzeichen aufs Titelblatt: Erlesene Verse zur Aufbewahrung in einem bestickten Beutel, ohne zu ahnen, dass sich hierin bereits eine Anspielung auf ihren frühzeitigen Tod verbarg.*
Als ich an diesem Abend von außerhalb der Stadt, wohin ich der Braut das Geleit ins Haus des Bräutigams gegeben hatte, ins Elternhaus meiner Mutter zurückkehrte, war es bereits Mitternacht, und mich plagte ein mächtiger Hunger. Eine Dienerin brachte mir getrocknete Datteln, die mir aber zu süß waren. Heimlich zog mich Yun am Ärmel in ihre Kammer, und ich sah, dass sie dort eine Schüssel mit Reisbrei und verschiedene kleine Gerichte auf die Seite geschafft hatte. Voller Freude griff ich nach den Essstäbchen und wollte mich mit großem Appetit über die Speisen hermachen, als ich plötzlich Yuns Cousin Yuheng laut ausrufen hörte:
»Schwester Shu, komm schnell!«
Yun schloss geschwind die Tür und rief zurück:
»Ich bin müde und will gerade zu Bett gehen.«
Da zwängte sich Yuheng schon mit Gewalt durch die Tür, und als er sah, dass ich mich anschickte, den Reisbrei zu essen, maulte er mit einem schiefen Lächeln zu Yun:
»So steht es also! Als ich vorhin etwas Reis haben wollte, sagtest du, dass keiner mehr übrig sei. Du hast ihn aber beiseitegeschafft, um ihn deinem Gemahl zu geben!«
Alle, auch der einfachste Diener, machten sich nun über sie lustig, und Yun wusste nicht wohin vor Verlegenheit; das versetzte auch mich nicht gerade in beste Stimmung, sodass ich einen alten Diener drängte, vorzeitig nach Hause aufzubrechen.
Seit dieser Reisgeschichte ging mir Yun jedes Mal aus dem Weg, wenn ich ihr Zuhause besuchte, aber ich wusste, dass sie das nur tat, um nicht wieder zum Gespött zu werden.
Fünf Jahre später, an unserem Hochzeitstag, dem Zweiundzwanzigsten des ersten Mondes im vierundvierzigsten Jahr der Regierung des Kaisers Qianlong [1780], sah ich im Schein der Hochzeitskerzen, dass sie ihre schlanke Gestalt behalten hatte. Als ich ihr den Brautschleier abnahm, lächelten wir uns an. Nachdem wir die traditionellen, für Braut und Bräutigam bestimmten Zwillingsschalen mit Wein getrunken hatten und uns zum Nachtmahl nebeneinander niedersetzten, hielt ich unter dem Tisch verstohlen ihre Hand. Sie fühlte sich warm, klein und geschmeidig an, und mein Herz begann laut zu pochen.
Ich ermunterte sie zu essen, aber sie hielt gerade ihre Fastenzeit ein. Ich erfuhr, dass sie schon seit einigen Jahren vegetarisch lebte. Ich rechnete nach und fand heraus, dass sie mit dem Fasten genau dann angefangen hatte, als meine Pocken ausgebrochen waren, und sagte scherzend zu ihr:
»Könnte meine ältere Schwester nicht jetzt auch ihre Fastenzeit beenden, nachdem bei mir keine Pockennarben zurückgeblieben sind und mein Gesicht wieder glatt und rein ist?« Yun lächelte mir zu und nickte.
Da meine leibliche ältere Schwester zwei Tage später, am Vierundzwanzigsten, heiraten sollte und für den Dreiundzwanzigsten ein Tag der nationalen Trauer festgesetzt war, an dem keine Musikaufführungen stattfinden durften, war für sie am Zweiundzwanzigsten, meinem Hochzeitstag, ein Abschiedsmahl in der Halle vorgesehen, an dem auch Yun teilnahm.
Ich spielte indessen mit den Brautjungfern in der Brautkammer das Fingerknobelspiel, und da ich in einem fort verlor – und zur Strafe jedes Mal einen Becher Wein trinken musste –, wurde ich sturzbetrunken und fiel auf der Stelle in Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Yun schon mit ihrer Morgentoilette beschäftigt.
Tagsüber gingen Freunde und Verwandte unablässig ein und aus, um uns zu gratulieren, und erst später am Abend, nachdem die Laternen angesteckt worden waren, spielte die Musik auf. Um Mitternacht geleitete ich als Bruder der Braut diese zu ihrem neuen Heim und kehrte erst gegen drei Uhr nachts zurück. Die Kerzen in der Halle waren bereits heruntergebrannt, und im ganzen Haus hatte sich Stille ausgebreitet. Als ich leise unser Zimmer betrat, sah ich, dass die Brautmagd am Fuß unseres Bettes zusammengesunken und eingenickt war, doch Yun, die schon ihren Brautschmuck abgelegt hatte, war noch nicht zu Bett gegangen. Ihr wunderschöner puderweißer Nacken war über den Silberschein der aufflackernden Kerze gebeugt, und sie las selbstvergessen in einem Buch, dessen Titel ich nicht erkennen konnte. Ich klopfte ihr sanft auf die Schulter und fragte:
»Schwester, was liest du da so unermüdlich nach diesen anstrengenden Tagen?« Yun wandte mir schnell ihren Kopf zu, erhob sich und sagte:
»Ich wollte mich gerade hinlegen, als ich den Bücherkasten öffnete und dieses Buch sah, und über dem Lesen habe ich ganz vergessen, wie müde ich war. Von dem Stück Das Westzimmer* hatte ich schon oft gehört, aber heute habe ich es zum ersten Mal lesen dürfen. Kein Wunder, dass es als das Werk eines Genies gilt, dennoch ist es für mein Gefühl etwas zu sarkastisch …«
»Nur ein Genie kann sich so sarkastisch ausdrücken«, erwiderte ich.
Die Brautmagd drängte uns, zu Bett zu gehen, aber wir hießen sie, die Tür zu schließen und sich zurückzuziehen.
Ich setzte mich neben Yun, und wir scherzten miteinander wie vertraute Freunde, die nach langer Trennung endlich wieder zusammentrafen. Flüchtig berührte ich ihre Brust. Ihr pochendes Herz schien ebenso heftig wie meines zu schlagen, und ich flüsterte ihr ins Ohr:
»Warum pocht dein Herz so …?«
Yun drehte mir den Kopf zu und lächelte mich sanft an, unsere Seelen wurden von einem Taumel der Leidenschaft fortgerissen. Eng umschlungen zog ich sie hinter die Bettvorhänge. Als wir schließlich erschöpft in den Schlaf fielen, ging im Osten bereits die Sonne auf.
Als frischverheiratete Ehefrau war Yun sehr in sich gekehrt; nie ließ sie sich etwas anmerken, stets lächelte sie, wenn sie mit anderen sprach. Höherstehenden erwies sie Respekt, ihren Untergebenen begegnete sie freundlich und erlaubte sich nicht den kleinsten Fehler. Wenn es dämmerte und das graue Morgenlicht ins Zimmer fiel, erhob sie sich wie auf Befehl und kleidete sich hastig an.
»Aber du musst doch keine Angst mehr haben, dich zu blamieren, wie damals, als du mir den Reis gegeben hast …«, sagte ich einmal besänftigend zu ihr, worauf sie antwortete:
»Damals zogen die Leute über mich her, weil ich die Reisschale heimlich für dich aufgespart hatte. Jetzt geht es mir nicht um das Gerede der Leute. Ich will nur vermeiden, dass deine Eltern glauben könnten, ihre Schwiegertochter sei faul.«
Obwohl ich mir gewünscht hatte, dass sie länger im Bett bliebe, musste ich ihr doch recht geben, und ich stand ebenfalls früh mit ihr auf. Wir wurden so vertraut miteinander wie ein Körper mit seinem Schatten, und manche Einzelheiten unserer Liebesbeziehung lassen sich kaum in Worte fassen.
Diese glückliche Zeit verging jedoch schnell; ein Wimpernschlag nur, und schon war ein ganzer Monat vergangen.
Mein Vater, der ehrenwerte Herr Jiafu, der damals in Diensten der Präfektur stand, hatte eigens einen Boten geschickt, der mich auf dem Weg zur Aufnahme meiner Studien bei Herrn Zhao Shengzhai aus Wulin [Hangzhou] begleiten sollte. Herr Zhao war ein sehr umsichtiger und geduldiger Mentor, dem ich es ganz allein verdanke, dass ich heute überhaupt imstande bin, etwas zu Papier zu bringen. Eigentlich war vorgesehen, dass ich mich nach der Heirat zum Amtssitz meines Vaters begeben solle, um ihm zur Seite zu stehen. Als die Hochzeitszeremonien vorüber waren, bestimmte mein Vater jedoch, dass ich meine Studien wieder aufnehmen solle.
Als ich davon erfuhr, war ich sehr enttäuscht und befürchtete, dass Yun deswegen vor allen Leuten in Tränen zerfließen könnte. Aber ganz im Gegenteil; sie zeigte sich gefasst, sprach mir gut zu und machte sich daran, meine Sachen zusammenzupacken. Am Abend meiner Abreise verriet mir ihre Miene eine gewisse Unruhe. Als wir Abschied nehmen mussten, flüsterte sie mir zu:
»Pass gut auf dich auf, denn es wird niemanden geben, der nach dir sieht!«
An Bord sah ich, dass die Pfirsich- und Pflaumenbäume am Ufer in voller Blüte standen, und fühlte mich wie ein Waldvogel, der seinen Schwarm verloren hat. Nichts war mehr wie zuvor.
Kaum, dass wir in Wulin angekommen waren, setzte mein Vater über den Fluss und brach zu einer Reise in den Osten auf.
Die drei Monate, die ich fern von Yun verbrachte, kamen mir vor wie zehn Jahre. Obwohl sie mir häufig schrieb, erhielt ich doch immer nur einen Brief zurück für zwei, die ich geschrieben hatte. Die meisten ihrer Briefe enthielten außer vielen Ermunterungen für mein Studium nur leere Floskeln, was mich sehr verärgerte.
Immer, wenn der Wind über die Bambusblätter im Hof strich oder der Mond durch die grünen Blätter des Bananenbaums in mein Fenster schien, sah ich nach draußen und vermisste sie so furchtbar, dass Träume von ihr meine Seele ergriffen.
Als mein Lehrer Herr Zhao erfuhr, wie es um mich stand, schrieb er einen Brief an meinen Vater, in dem er ihm mitteilte, dass er mir zehn Aufsatzthemen stellen und mich damit vorübergehend nach Hause entlassen würde. Da kam ich mir vor wie ein Soldat, der überraschend begnadigt wird, nachdem er zuvor in eine Strafkolonie verbannt worden war. Auf dem Schiff heimwärts schien sich jede Viertelstunde wie ein ganzes Jahr hinzuziehen.
Zu Hause angekommen, erwies ich zuerst meiner Mutter den ihr gebührenden Respekt, und als ich dann mein Zimmer betrat, stand Yun auf, um mich willkommen zu heißen. Wie wir uns stumm an den Händen hielten, schienen sich unsere Seelen in Rauch und Nebel aufzulösen. Urplötzlich dröhnte es in meinen Ohren, meine Sinne schwanden, und mir war, als hörte mein Leib auf zu existieren.
Es war damals der sechste Mond, und im Haus herrschte drückende Schwüle. Glücklicherweise wohnten wir damals westlich der »Lotusblüten-Liebhaber«-Halle nahe des Blauwellen-Pavillons. Dicht daneben befand sich eine Holzbrücke, von der ein Pavillon auf den Strom blickte. Dieser trug den Namen »Wie es beliebt« – eine Anspielung auf die Verse:
Ist das Wasser klar, wasche ich die Quasten meiner Kappe, ist das Wasser trüb, so wasche ich meine Füße.
Unter der Dachtraufe stand ein alter Baum, dessen Schatten die Fenster verdunkelte und alle Gesichter grün färbte. Jenseits des Flusses sah man einen unaufhörlichen Strom von Spaziergängern am Ufer entlangwandern. Dies war der Ort, an dem mein Vater, Herr Jiafu, seine von Bambusvorhängen abgeschirmten Gäste zu bewirten pflegte. Ich erbat und erhielt von meiner Mutter die Erlaubnis, den Sommer über mit Yun dort bleiben zu können.
Wegen der Hitze ließ Yun in diesen Wochen die Stickarbeiten liegen, und so studierten wir entweder von früh bis spät zusammen, diskutierten über die Klassiker oder plauderten über alles Mögliche aus der Welt der Literatur und Poesie.
Yun verstand sich nicht aufs Trinken, nur mit Nachdruck konnte man sie zu drei Schälchen nötigen. Ich brachte ihr literarische Spiele bei, bei denen der Verlierer trinken muss. Wir glaubten, dass es auf Erden nie ein glücklicheres Paar als uns gegeben hat.
Eines Tages stellte Yun die Frage:
»Welche Werke der klassischen Literatur sollte man sich zum Vorbild nehmen?«
»Die Strategeme der Kämpfenden Reiche* [Zhanguo Ce] und das Buch Zhuangzi* stechen durch Witz und Verstandesschärfe hervor«, begann ich. »Kuang Heng und Liu Xiang werden wegen ihrer Eleganz und Kraft gerühmt, Sima Qian* und Ban Gu wegen ihres umfassenden Wissens, Han Yu zeichnet sich durch seine Urwüchsigkeit aus, Liu Zongyuan durch seinen unverwechselbar wuchtigen Stil und durch seine romantische Ungezwungenheit, während die drei Su’s für ihre Sprachgewalt geschätzt werden. Daneben gibt es die politischen Essays von Jia Yi und