Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ina - Band 1
Ina - Band 1
Ina - Band 1
eBook718 Seiten10 Stunden

Ina - Band 1

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ina, Mutter einer Tochter, ist bestürzt, als sie einen behinderten Sohn zur Welt bringt. Diese Geburt belastet noch mehr ihre bereits zerrüttete Ehe und bringt ihren Mann dazu, auszuziehen. Ina ist entschlossen, sich der Erziehung ihrer beiden Kinder mit voller Kraft zu widmen. Doch die Sehnsucht nach einem Glück zu zweit lässt sie nicht ruhen. Schließlich lernt sie David kennen und verstrickt sich in ungewollte Lügen, weil sie den faszinierenden Mann nicht verlieren will.
SpracheDeutsch
Herausgebernovum pro Verlag
Erscheinungsdatum13. Apr. 2010
ISBN9783990036945
Ina - Band 1

Ähnlich wie Ina - Band 1

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Ina - Band 1

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ina - Band 1 - Therese Chojnacki

    Verlag

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

    Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

    Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

    © 2010 novum publishing gmbh

    ISBN Printausgabe: 978-3-99003-137-7

    ISBN e-book: 978-3-99003-694-5

    Lektorat: Mag. Iris Mayr

    Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.

    www.novumpro.com

    AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND

    Widmung

    Für meine Tochter Daria in tiefer Dankbarkeit

    1. Kapitel

    Mit weit aufgerissenen Augen lag sie im Bett. Das Licht der Straßenlaterne beleuchtete mild die Wände und erhellte ein wenig den Raum. Das heilige Kreuz zeichnete sich deutlich von der Wand ab. Obwohl es draußen schon dunkel war, konnte sie alles sehen, auch ihr ganzes Leben. Sie verspürte ihren größten Wunsch. Sie wollte in der Dunkelheit versinken. Das Kreuz und die Wirklichkeit, die nicht durch die Nacht umhüllt wurden. Die Gegenwart einer höheren Bestimmung wurde durch das Kreuz nur bestätigt und war zum Verhängnis geworden. Und sie stellte die stumme Frage, an den Allmächtigen im Himmel gerichtet:

    „Warum …? Warum gerade ich?"

    Vom Gang kam das Geschrei der Säuglinge. Gegen drei Uhr nachts waren sie schon unruhig, verlangten nach der Mutterbrust. Vielleicht vermissten sie auch die Nähe ihrer Mutter, ihre Stimme, ihren Geruch? Erst um fünf Uhr morgens wurden die Kinder zu ihren Müttern gebracht. Die Kinder! Ina spürte wieder die Tränen, die langsam ihre Wangen herunterrollten. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal immer noch nicht abgefunden und es war fraglich, ob dies überhaupt irgendwann geschehen würde.

    Ina, eine junge, hübsche Frau, eine Ehefrau, die das zweite Mal Mutter geworden war, hatte ein geistig behindertes Kind zur Welt gebracht. Als sie ihren Sohn sah, erkannte sie es sofort. Obwohl die Ärzte zunächst nur von einem Herzfehler sprachen, merkte sie gleich, dass ihr Sohn ganz anders aussah. Das war für sie unübersehbar. Sie wusste jedoch noch nicht, worin diese Auffälligkeit bestand. Sie betrachtete ihn jedes Mal, wenn sie ihn zum Stillen bekam. Es war so sichtbar. Das Köpfchen wollte nicht halten wie bei einem gesunden Säugling. Er hing träge auf ihrem Arm, angekuschelt in ihrer Halsbeuge. Saugen wollte er auch nicht. „Zu schwach oder zu lahm?", fragte sie sich. Später erfuhr sie, dass die Saugfähigkeit, die bei den gesunden Babys angeboren war, bei den mongoloiden Kindern meist jedoch nicht vorhanden war. Wie selbstverständlich nahmen wir doch jeden nächsten Lernschritt bei einem gesunden Kind hin und überlegten nicht, dass eine gesunde Entwicklung überhaupt nicht so selbstverständlich war. Es zählte auch noch etwas Glück dazu, ein gesundes Kind zu bekommen. Dass es auch anders sein könnte, vermuteten wir meist nicht.

    Ina versuchte verzweifelt, das Baby zum Saugen zu bringen. Doch die kleinen Lippen konnten ihre Brustwarzen nicht richtig im Mund halten. Ihre Tränen tropften aus den Augen und fielen auf das kleine Babygesicht. Es war ein geistig behindertes Kind und noch dazu eines mit einem Herzfehler. So viel wusste sie schon. Was würde noch auf sie zukommen? Wie sollte sie bloß ihrem Mann die Wahrheit sagen, der schon vor dessen Geburt gegen dieses Kind gewesen war. Dem Mann, der sie zu überzeugen versuchte, das Kind abtreiben zu lassen. Heutzutage genügte doch ein Kind. Das Leben kostete sowieso so viel Geld.

    „Ich habe mir unsere Beziehung nicht so vorgestellt", begründete er ständig.

    Es half nichts. Ina beharrte darauf, es zu gebären. Zusammen mit ihrer zwölfjährigen Tochter Susanne freute sie sich auf das Baby. Natürlich hoffte sie, damit auch ihre ein wenig zerrüttete Ehe zu kitten. Ein Kind sollte doch nie ein Mittel zum Zweck sein. Es war ihr bewusst, trotzdem hoffte sie darauf. Worin bestand eigentlich der Grund dafür, dass sie sich so sehr nach einem Kind sehnte? Suchte sie vielleicht eine neue Erfüllung, einen Ersatz für die fehlende Zufriedenheit in ihrer Ehe?

    Ihr Leben verlief jedenfalls nicht so, wie sie es sich als junges Mädchen erträumt hatte. Sie spielte als Ehefrau und Mutter nur zwei verschiedene Rollen.

    „Träumerei!, hatte ihre Mutter mit einer abgrundtiefen Verachtung immer wieder gerufen. „Deine Träume …, Ina!

    Sie stellte das Leben immer so abschreckend negativ dar. Ina war das perfekte Gegenteil ihrer bodenständigen, realistisch eingestellten Mutter. Ina wollte ihr immer zeigen, dass es auch anders sein könnte. Vielleicht war die Mutter ja von ihrem Leben enttäuscht worden. Kam daher diese negative Einstellung? Ina dagegen schwebte mehr auf Wolken. Diejenige, die Mutters Meinung teilte, war ihre Schwester Karin. Sie lachte Ina ständig aus.

    „Und du glaubst, es besser als alle anderen zu können?"

    Ihre Schwester war schon seit ein paar Jahren verwitwet Sie behauptete, Ina lebe wie eine ahnungslose Illusionistin, genau wie ihr schon seit Langem verstorbener Vater. Doch Ina glaubte wiederum, dass er noch leben könnte, wenn er sich nur härter gegen den Druck von außen aufgelehnt hätte. Er war zu sensibel und auch zu ehrlich, um noch den heutigen, erbarmungslosen Kampf ums Leben zu führen. Zu der Zeit, als die sechzehnjährige Ina in das „Erwachsensein" hineinwuchs, versagte plötzlich sein Herz. Ina lernte Mark gerade näher kennen und erlebte ihre erste große Liebe. Das linderte ihren Schmerz bei Vaters Tod. Ihr Mark! Zu diesem Zeitpunkt war nur Mark für sie wichtig.

    Jetzt lag sie im Krankenhaus und stellte fest: „Oh, Gott, was wusste ich damals nur über Mark, über das Leben?" Wichtig war nur, dass er ein gut aussehender Junge war, um den sie beneidet wurde. Sie waren sehr ineinander verliebt. Und diese Liebe war eben die größte und schönste. Das war eine Liebe, die nie vergehen sollte. Ihre Mutter schaute dem Ganzen ziemlich skeptisch entgegen. Sie warnte sie ständig, was Ina nur ärgerte. Ach, was wusste ihre Mutter schon von der Liebe? Sie hatte so ein Gefühl nie erlebt. Daher hatte sie auch keine Ahnung, was wirkliche Liebe bedeutete. Wahrscheinlich wurde sie von ihren Eltern verkuppelt. Und sie musste den Mann heiraten, den die Eltern ihr ausgesucht hatten. Auf jeden Fall hatte Ina diesen Eindruck, als sie ihre Eltern in Gedanken so betrachtete. Ihr Vater wurde oft als Versager hingestellt, der seine Frau und die Familie ständig enttäuschte. Sein verhärmtes Gesicht war eine einzige Genugtuung für Inas Mutter. Sie war mit ihrer Ehe und wohl auch mit ihrem Leben unzufrieden. Wie oft litten Ina und ihr geliebter Vater darunter.

    Ina wandte sich immer mehr von ihrer Mutter und ihrer Schwester ab. Sie wollte ihnen so gern zeigen, dass sie kein Schwächling war, genauso wenig wie ihr Vater. Sie war wahrscheinlich empfindsamer als andere. Sie glaubte an das Gute in einem Menschen und an das Positive im Leben. Sie wollte so gern ein anderes Leben als ihre Eltern führen. Ihr Start ins erwachsene Leben fing jedoch ziemlich ungeschickt an. Mit knapp achtzehn Jahren bekam sie ihre Tochter Susanne. Mark war damals ein zwanzigjähriger, junger Mann, der gerade sein Architekturstudium angefangen hatte. In diesem Alter zu heiraten und Kinder zu haben, hatten sie sicher nicht geplant. Das Kind kam „unerwartet", brachte einige Pläne und Träume durcheinander und legte eine beachtliche Belastung und Verantwortung auf junge Schultern. Ina bestand trotz allem das Abitur und sie heirateten. Bis Mark sein Studium beendete, kämpften sie sich, auch ohne elterliche Hilfe, durchs Leben. Als Susi in den Kindergarten ging, setzte auch Ina ihre Ausbildung fort. Unter diesen Umständen war es sehr schwer für das junge Paar, ein harmonisches Leben zu führen. Finanzielle wie auch körperliche und psy-chische Belastungen vertieften die Ehekrise immer mehr, bis Ina letztlich immer häufiger daran dachte, sich von Mark zu trennen. Doch sie rissen sich immer wieder zusammen und führten ihr bisheriges, gemeinsames Leben weiter. Nach einer vernünftigen, klaren Aussprache war das Zusammensein oft wieder erträglich. Doch irgendwann fing Mark an, sich über jede Kleinigkeit aufzuregen. Und somit war ein Streit ständig wie vorprogrammiert. Immer mehr tauchten auch bei den beiden unterschiedliche Lebensideale auf. Ina sehnte sich nach einer richtigen Familie, Mark nach einem genussvollen Leben. Er war der Ansicht, dass es doch viel interessanter wäre, durch die Welt zu reisen, als Kinder in die Welt zu setzen. Ina konnte diesen Standpunkt nicht akzeptieren. Eine Weltreise, möge sie auch noch so schön sein, konnte niemals ein Kind ersetzen. Als sie also doch noch schwanger wurde, bestand sie darauf, das Kind zu bekommen. Und jetzt hielt sie ihr ersehntes Kind in den Armen und war todunglücklich. Ihre winzige Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch täuschte, wurde vom Arzt mit einem Hauch, wie eine schwache Feuerflamme, weggeblasen. Er bestätigte ihre Vermutung und wunderte sich zugleich.

    „Es ist mir das erste Mal passiert, dass eine Mutter es selbst erkennt. Normalerweise glauben mir die Eltern nicht. Auch dann nicht, wenn der Befund mit Sicherheit feststeht."

    Ina saß mit hängendem Kopf auf dem Bett vor ihm. Sie hörte wohl nicht richtig zu. Erst später spulte sie das Gespräch wieder in ihren Gedanken ab. Die letzte Hoffnung, die sie im Herzen hatte, war damit erloschen. Mit dieser verlorenen Hoffnung fing sie an, sich mit der für sie sehr harten Wirklichkeit auseinanderzusetzen.

    Sie nannte ihn Martin. Ina beschloss, sich mit der Tatsache zu arrangieren, trotz allem ein eigenes Leben zu leben oder auch ein Leben für Martin zu führen. Er war schließlich ihr Sohn. Martin, mit dem knallroten Schopf, mit schrägen, kleinen Augen, die noch nichts sehen konnten, mit einer flachen, kleinen Nase und einer dicken Falte im Nacken. Das war das Kind, für das sie mit Susanne pausenlos gebetet hatte, damit es gesund zur Welt kommen möge. „Gott hat anders entschieden, dachte sie. „Bedeutet das, dass der liebe Gott aus seinen Launen heraus entscheidet? Wollte er mir vielleicht zu verstehen geben, dass er nicht imstande ist, alle Wünsche zu erfüllen? Was hat ihn dazu gebracht, ausgerechnet uns so ein Kind zu schenken? Sie schlug die Hände vor das Gesicht und wollte am liebsten die Welt und die Menschen nicht mehr sehen. Sie sah schon Mutters Blick vor sich, der ihr sagen würde, dass sie auch versagt hatte, genau wie ihr Vater, der nichts Gescheites im Leben getan hatte. Doch der Vater war still, ehrlich und fleißig. Ja, er konnte nicht an der Börse spekulieren oder auf eine andere Weise viel Geld verdienen. Er hatte jedoch ein großes Herz und das war für Ina ein ganz besonderer Reichtum.

    Wie sollte sie sich vor der Mutter schützen? Am liebsten hätte sie Susi und Martin genommen und wäre auf eine einsame Insel geflüchtet. Eigentlich lächerlich, wenn ein Mensch am liebsten einsam sein wollte, wimmelte die Welt geradezu von den Menschen, die wir im Moment lieber nicht sehen wollten. Und die Einsamen lebten in der Menschenmenge und nahmen sie wahrscheinlich gar nicht wahr, weil sie sich einsam fühlten.

    Ihr Martin lag in ihren Armen, wie ein ohnmächtiges kraftloses Geschöpf, das keine Knochen zu haben schien. Auch keine Wirbelsäule, die ihn stützen könnte. Sie legte ihre Hand unter seinen Rücken. Eine kleine, jedoch eine feste und sichere Hand, die ihm Unterstützung gab. Sie war seine Wirbelsäule. Dass sie dabei weinte, weil sie nicht wusste, wie sie ihrem Mann und ihrer Tochter die Wahrheit sagen sollte, war dabei unwichtig. Sie würde schon genug Mut aufbringen, um Martin zu schützen. Als sie dann am Nachmittag ins Krankenhaus kamen und Susanne ahnungslos und begeistert Martin auf den Arm nahm, konnte Ina ihrem Mann, der auf der Bettkante saß, nicht in die Augen schauen. Damals, als sie mit Susi schwanger gewesen war, hatte er sich einen Sohn gewünscht. Jetzt war der Sohn geboren und sie sah so etwas wie ein stolzes Lächeln in seinem Gesicht. „Nein! Das darf nicht sein! Man kann nicht auf ein geistig behindertes Kind stolz sein! Nein, Mark! Und sie flüsterte die Wahrheit: „Das Kind ist herzkrank. Es muss bald operiert werden. Und es wird geistig behindert bleiben. Die Ärzte nennen es Trisomie 21 oder Mongolismus oder auch Downsyndrom.

    Susanne, total von ihrem Bruder begeistert, hob jetzt den Kopf und starrte die Mutter empört, aber auch ängstlich an.

    „Das ist nicht wahr! Jeder Säugling sieht ein bisschen verschrumpelt aus! Aber er …"

    Sie verstummte, als sie Vaters Blick traf. Sie drückte instinktiv den kleinen hilflosen Körper an sich, als wollte sie ihn vor dem Angriff des eigenen Vaters schützen. Ina schaute ihren Mann nicht an. Sie hatte Angst vor dem zukünftigen Leben. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Marks Blick wurde wärmer, als er Ina so verzweifelt sah.

    „Ist das mit der Behinderung schon sicher?"

    Ina nickte nur, sie war unfähig, Worte zu finden, die der Familie Trost spenden könnten.

    „Mach dir keine Sorgen, wir werden schon damit fertig. Wir haben schon so vieles gemeinsam erlebt, dann werden wir auch das noch schaffen. Schließlich sind wir sicher nicht die Einzigen auf der Welt, die so ein Schicksal tragen."

    Erst jetzt schaute sie zu ihm auf. Sie war ihm dankbar für diese Worte. Er benahm sich sowieso ganz anders als sonst, verlor ein wenig von seinem Selbstbewusstsein. Dennoch gab er sich so, als wäre er ein schon längst aufgeklärter Mensch, den nichts überraschen könnte. Sie legte vorsichtig das Kind, das sie in ihrem Arm hielt, aufs Bett und streckte die Arme nach Mark aus. Jetzt brauchte sie seine Nähe, etwas Trost und vor allem seine Zärtlichkeit. Er umarmte sie und lächelte tapfer: „Ach, Ina, ich habe dich doch lieb! Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie wir es uns vorstellen?"

    Eins war jedoch sicher, sie hatten keine Ahnung, was ihnen wirklich bevorstand. Doch Marks Beherrschung und Einstellung zu dem Unglück tröstete sie ein wenig. Ihr Schmerz wurde dadurch nicht gelindert und ihre Tränen nicht getrocknet, aber zu zweit wurde es doch viel leichter.

    Als der Kinderarzt aus der Kinderklinik kam, um Martin zu untersuchen, und die Diagnose schließlich bestätigt wurde, stand sie mit einem mutlosen Gesichtsausdruck und verweinten Augen da und sprach leise, fast wehmütig: „Meine Tochter und ich haben uns sehr auf das Kind gefreut. Wir haben gebetet und jede Woche eine Kerze in der Kirche angezündet, mit der Bitte, dass es gesund zur Welt kommen möge. Wir konnten kaum erwarten, bis das Baby da ist, und jetzt …"

    Er unterbrach sie hart. „Und jetzt ist das Baby da, das Sie genauso auf den Arm nehmen können wie ein vollkommen gesundes. Sie können es liebkosen, pflegen, lieben, so, wie man einen Menschen nur lieben kann. Ihre Tochter hat ihren ersehnten Bruder, Sie haben Ihren Sohn, den Sie nach einem Jahr – oder auch schon viel früher – sehr lieben werden. Von ihm werden Sie so viel Liebe bekommen, wie Sie sie von einem gesunden Kind nie bekommen könnten. Sagen Sie mir bitte, sprach er in einem tadelnden, fast empörten Ton, „wo sehen Sie da einen Unterschied? Es ist ein Kind mit Armen und Beinen und einem Kopf. Es fehlt ihm doch optisch nichts. Es ist ein Kind, das von Natur aus benachteiligt ist. Es kann jedoch nichts dafür, dass es direkt von Geburt an die Erwartungen der Eltern nicht erfüllen kann.

    Er redete noch in demselben Ton weiter, als wäre er ein Anwalt des Kindes, hierher bestellt, um es vor dem hohen Gericht des Lebens zu verteidigen. In seiner Stimme klangen Entrüstung, Ermahnung und kein Mitgefühl, das Ina eigentlich erwartet hatte. Doch dieses grobe Auftreten des jungen Arztes half ihr viel mehr als jedes Mitgefühl der Welt. Es brachte Ina zur Besinnung, trocknete fast die Tränen und bewirkte, dass sie sich zusammennahm, statt in Selbstmitleid zu versinken. Sie nahm ihren kleinen Sohn viel bewusster in die Arme, akzeptierte ihr Schicksal und wusste, dass nur sie ihn vor den nächsten Verurteilungen oder auch Vorurteilen schützen konnte.

    Auf der Entbindungsstation ging die Nachricht von einem behinderten Kind sofort herum. Das Personal des Krankenhauses gab ihr ein Einzelzimmer, um sie abzuschirmen. Sie schickten auch eine Nonne zu ihr, die als Seelsorgerin im Krankenhaus arbeitete. Sie versuchte, Ina aufzubauen. Sie unterhielten sich ziemlich lange. Ina weinte sich bei ihr aus. Sie erzählte ihr ein wenig von ihrer Ehe. Davon, dass ihr Mann das Kind gar nicht gewollt hatte. Es tat ihr wirklich gut. Bevor die Nonne ging, schlug sie Ina vor: „Sie können das Kind auch ins Heim geben. Sie brauchen es gar nicht nach Hause mitzunehmen."

    Ina dachte, sie hätte sich verhört, aber nein, die Nonne sprach weiter: „Wenn Sie spüren, dass Sie der Sache nicht gewachsen sind, dann ist dies die einzig vernünftige Lösung."

    Ihr Kind ins Heim abgeben! Nie im Leben! Es war ihr egal, was kommen würde, es war ihr egal, ob Mark auf Dauer dieses Schicksal annehmen würde, sie würde ihren Sohn nie im Stich lassen. Dafür war sie die Mutter, auf die ihr Sohn hoffte und der er vertraute.

    Sie wurde von den Arbeitskolleginnen mit Geschenken, Blumen und herzlichen Wünschen überschüttet. Sie verschwieg jedoch einen Teil der Wahrheit. Sie sagte nur: „Das Kind hat einen angeborenen Herzfehler und muss am Herzen operiert werden."

    Die heitere Stimmung war sofort gedrückt. Inas besorgte Stimme wischte jedes Lächeln aus den Gesichtern. Nach der augenblicklichen Bestürzung kamen tröstliche Worte: „Ach, heutzutage ist die Medizin so weit, dass man sich keine großen Sorgen machen muss. Er wird operiert und du wirst sehen, es wird alles gut werden."

    Ja, natürlich, sein Herz konnte geheilt werden, aber sein Verstand? Gehirnzellen konnte man noch nicht transplantieren. Selbst wenn Mediziner auch so etwas irgendwann erreichen könnten, brauchte es sicher noch Jahre. Für Martin käme diese Rettung jedoch zu spät.

    Ina lag wie gelähmt im Bett. Die nächste Nacht verging, der folgende Tag kam. Martin war nicht mehr da und sie dachte an den jungen Arzt. Das erste Mal, seitdem Martin geboren worden war, hatte sie einen Menschen getroffen, der ihr gegenüber kein Mitleid aufgebracht hatte. Sie spürte noch jetzt die Empörung, die in ihr nach seinen Worten aufgestiegen war. Sie war fast gekränkt. Doch als der Morgen anbrach, spürte sie ein ganz neues, ein ganz starkes Gefühl in sich erwachen. Martin war ein Kind, das die Mutter noch mehr brauchte als Susanne. Und sie wollte ihn nicht enttäuschen. So grübelte sie den ganzen Vormittag, bis Susanne aus der Schule kam und sich zu ihr ans Bett setzte.

    „Na, wie war es in der Schule?", stellte sie die typische Frage und versuchte, dabei einen unbekümmerten Ton anzunehmen.

    „Langweilig", antwortete Susi und ließ ihren Kopf ein bisschen hängen.

    „Was ist los, Susi?", fragte sie ein wenig beunruhigt, denn ihre meist lebhafte und temperamentvolle Tochter benahm sich eigenartig.

    „Mami, kann ich auch solche Kinder bekommen? Weißt du, ich habe mit Papa in sämtlichen Lexika nachgeschlagen, um etwas über diesen Mongolismus zu erfahren. Dort steht überall, dass ‚mongoloid‘ Idiotie bedeutet. Es steht darin viel über eine zu große Zunge, Entwicklungshemmungen und noch andere Sachen. Kann ich auch solche Kinder bekommen?", wiederholte sie eindringlich ihre Frage.

    „Was heißt, solche Kinder?"

    Ina erstarrte innerlich. Idiotie! „Oh, Gott, warum hast du mir dies angetan? Womit habe ich dies verschuldet?", rief sie in Gedanken und doch beherrschte sie sich mit Gewalt.

    „Susi, solche Kinder kann jede Frau bekommen. Das Risiko ist für alle Frauen fast gleich. Doch bei älteren Frauen ist es noch größer als bei jüngeren. Die einen haben das Glück, nur gesunde Kinder zu gebären, die anderen, wie ich, jedoch nicht. Wir werden uns in der genetischen Beratungsstelle informieren, ob diese Behinderung genetisch bedingt ist. Wenn keine genetischen Ursachen vorliegen, was ich glaube, ist das Risiko, dass du auch so ein Kind bekommst, sehr gering."

    „Und warum ist es gerade uns passiert? Wir haben doch so gebetet, Mami", sagte Susanne, von Gott mächtig enttäuscht.

    Ina schluckte ihre Tränen herunter. Diese Frage hatte sie sich auch schon gestellt und fand keine Antwort da-rauf.

    „Susanne, ich weiß nicht, warum gerade uns so etwas passiert ist. Doch ich bin sicher, dass du irgendwann eine Antwort darauf bekommst. Ich glaube, Gott macht nichts Unüberlegtes. Er hat bestimmt seine Gründe dafür."

    Sie versuchte verzweifelt, ihren Glauben zu retten, denn sie wusste, der Glaube war ihr keine Last. Er war eher die Kraft, die einen durchs Leben trug. Sie versuchte, sie, so gut es ging, zu trösten, obwohl sie selbst kein Verständnis dafür hatte. Die Gründe, die Gott bewegten, ihr ein behindertes Kind zu schenken, waren ihr im Prinzip egal, sie akzeptierte sie im Moment nicht. Wie sollte sie also dem Kind erklären, was sie selbst kaum verstand? Und sie sprach in Gedanken mit Gott. „Gott, wenn ich dich heute nicht verstehe, dann hilf bitte meinem Kind, dich zu begreifen."

    Martin blieb zwei Wochen in der Kinderklinik, weil er Schilddrüsenhormone einnehmen musste. Ina fuhr jeden Tag hin und kümmerte sich um ihren Sohn. Die Glaswände zwischen den Räumen ermöglichten ihr, die anderen Säuglinge zu betrachten. Sie verglich sie mit Martin und haderte mit ihrem Schicksal. Das Stillen dauerte immer endlos lange und ermüdete sie sehr. Wenn Mark ab und zu mitkam, schaute er hoffnungslos zu, wie Ina sich mit dem Stillen abmühte. Mark drückte seine Wangen zusammen, um seine Lippen zu schürzen und sie dazu zu zwingen, an der Brustwarze zu bleiben. Er schlief immer wieder dabei ein. Ein zartes Blau umkreiste ständig seine Lippen. Inas Tränen fielen hin und wieder auf sein Gesicht. Mark seufzte halblaut und bemerkte irritiert: „Das hilft dir auch nichts. Du machst dich nur kaputt. Denk daran, dass du noch ein Kind hast. Ein normales Kind, das dich braucht."

    Ina schluchzte: „Ich möchte noch ein Kind haben."

    Mark schaute sie ungläubig an.

    „Noch ein Kind? Aber nicht mit mir!"

    Ina sah ihm nach, als er verärgert den Raum verließ. Sie drückte Martin an sich, wischte sich die Tränen ab und begrüßte das Ehepaar, das ihre zu früh geborenen Zwillinge besuchte. Sie teilte den Raum mit ihnen und obwohl sie die beiden jeden Tag sah, konnte sie sich nach einiger Zeit nur daran erinnern, dass der Mann Ausländer, vielleicht Araber, war. Sie würde sie auf der Straße bestimmt nicht erkennen. Sie sprachen Ina auch nie an, als ob sie spürten, dass sie allein sein wollte. Oder vielleicht bewegte sie ihr Schicksal nicht? Es war ihr auch egal, was sie sich dabei dachten. Sie hielt ihren Sohn in den Armen und versuchte, die Macht ihrer Liebe einzusetzen, um in das kleine Köpfchen ein bisschen Verstand einzuflößen. Sie streichelte die roten Haare und erinnerte sich daran, als Susanne einmal sagte: „Hoffentlich wird das Kind nicht rothaarig."

    Sie gingen damals von der Kirche nach Hause zurück. Ina lachte: „Wie bist du auf diesen Gedanken gekommen? Papa und ich, wir haben doch keine roten Haare. Wenn das Kind vom Onkel Richard wäre, dann wäre es schon möglich, weil er rothaarig ist."

    Onkel Richard war ein Bruder ihres Mannes, zu dem sie kaum Kontakt hatten. Sie streichelte den Rotschopf wieder und beschwor ihn, klug zu werden. Sie stellte den Ärzten auch unzählige Fragen zur Behinderung, zum Beispiel, ob Martin sprechen lernen würde. Die Ärzte antworteten nicht gleich, wurden nachdenklich. Ein „Ja kam nur nach langem Zögern: „Wenn man sich viel Mühe gibt. „Wie viel Mühe?, wollte sie fragen. Sie würde alles geben. Aber wie oder womit sollte sie anfangen? Sie hatte keine Ahnung, wie weit Martin sie verstehen würde, wenn sie mit ihm sprechen würde. Geistige Behinderung, was bedeutete das? Würde sie es schaffen, diese Barriere des behinderten Verstandes zu durchbrechen oder zu ihm Kontakt aufzunehmen, um ihm so simple Sachen beizubringen, wie zum Beispiel: „Wo ist deine Nase, wo sind deine Augen? Und hier hast du deine Beine und deine Hände. Oh, Gott, woran würde sie erkennen, ob er sie verstand oder nicht? Sie weinte wieder ratlos, doch die Zuneigung zu dem hilflosen Wesen wuchs schneller, als sie es je geglaubt hätte. Und diese Zuneigung, aus der allmählich Liebe wurde, vertrieb die Ängste und die Traurigkeit und es floss Mut und Stärke in sie hinein.

    Mark saß vor dem Fernseher, als sie nach Hause kam. Susanne war in ihrem Zimmer. Ina war erschöpft, ängstlich und wusste nicht, wie das Leben weitergehen sollte. In der Küche stapelte sich das Geschirr. Keiner war auf die Idee gekommen, es zu spülen. Sie würde es auch nicht machen, zumindest nicht jetzt. Sie schloss die Küchentür und setzte sich zu Mark.

    „Wir können morgen Martin abholen", informierte sie ihn.

    Keine Reaktion, aber auch keine ungeduldige Bemerkung in der Art „Sei doch leise, wie es so oft war, wenn er etwas Interessantes im Fernsehen anschaute. Sie erlaubte sich, weiterzusprechen: „Der Oberarzt, der Martin damals abgeholt hat, vereinbarte einen Termin mit uns im Frühförderungszentrum. Dort wird Martin auch regelmäßig untersucht. Sie möchten seine Entwicklung beobachten.

    „Und was ist mit dem Herz?", fragte er.

    „Wir sollen in einem Jahr in die Klinik nach Heidelberg fahren und ihn dort untersuchen lassen. Es ist sicher, dass er am Herzen operiert werden muss. Der Zeitpunkt entscheidet sich in Heidelberg."

    In dem Moment kam Susi ins Zimmer.

    „Mami, ich verstehe die Matheaufgabe nicht! Kannst du mir helfen?"

    Ina stand sofort auf und ging mit Susi in ihr Zimmer. Sie konnte sich jedoch kaum konzentrieren und nach einer Weile fragte sie resignierend: „Wann hast du wieder Mathe?"

    „Übermorgen."

    „Ich telefoniere morgen mit Doktor Schulz. Er wird dir sicher helfen können. Ich habe mit Mengenlehre kaum etwas zu tun gehabt und außerdem bin ich im Moment nicht in der Lage, mich zu konzentrieren. Also halte dir morgen Nachmittag frei."

    Susanne packte die Hefte zusammen und dachte an den älteren Herrn, der Mutters Chef war. Sie mochte ihn nicht besonders. Daher war sie von der Idee auch nicht sehr begeistert. Mutter mochte ihn dagegen nicht nur sehr gern, sie schätzte ihn auch sehr. Für Susi war er viel zu streng und zurückhaltend. Eben ein Herr der alten Schule.

    „Geh jetzt schlafen, mein Schatz. Es ist schon spät."

    Sie küsste ihre Tochter zärtlich und war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als ihr plötzlich einfiel: „Morgen kommt Martin nach Hause."

    Susanne lächelte.

    „Na endlich! Ich freue mich auf ihn."

    Ina nahm sie in die Arme und drückte ihren Kopf an die Brust. Meinte sie das ehrlich oder sagte sie das nur so, um ihre Mutter aufzumuntern?

    „Ich freue mich auch, mein Schatz, obwohl ich weiß, dass es nicht einfach sein wird. Es wird eine große He-rausforderung für uns alle werden. Weißt du, dass er auch sprechen lernen kann?"

    „Ach, Mami, er wird nicht nur sprechen lernen. Ich bin sehr optimistisch."

    Ina schaute ihre Tochter aufmerksam an. Ihre Augen strahlten und in ihnen sah sie die Hoffnung, die noch unbesiegt war. „Noch eine irrationale Optimistin", dachte sie zärtlich. Jetzt wusste sie, dass ihre Freude auf den kleinen Bruder nicht gespielt war. Susi war nicht nur aus diesem Grund überglücklich. Sie war es auch, weil ihre Mutter wieder den ganzen Tag zu Hause sein würde.

    Ina ging mit einem Termin für das Frühförderungszentrum aus der Klinik, wo sie Martin vorstellen sollte. Sie fuhr mit Susanne hin, weil Mark sich unmöglich freinehmen konnte. Der Psychologe, der auch Kinderarzt war, verordnete Physiotherapie für Martin. Später erklärte er ihr, dass er Martin einmal im Jahr sehen wolle, um seine Entwicklung beobachten zu können. Er zögerte kurz, als er ihr die Telefonnummer des Sonderkindergartens geben wollte. Der Kindergarten befand sich im gleichen Ort, wo Ina wohnte. Dann rief er die Leiterin selbst an. Ina hörte zu, wie er von Martin berichtete. Nach einem kurzen Gespräch legte er auf, schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn ihr informierend: „Hier ist die Telefonnummer vom Sonderkindergarten. Ich habe Ihnen auch den Namen der Leiterin aufgeschrieben. Sie möchten sich bitte selbst mit ihr in Verbindung setzen und nach Absprache den Kindergarten mit Ihrem Sohn besuchen, um andere behinderte Kinder kennenzulernen. Vielleicht verlieren Sie dadurch Ihre Angst. Wissen Sie, gerade für Kinder mit Trisomie 21 kann man viel machen, sie sehr weit fördern. Aber damit muss man früh genug anfangen."

    Sie nickte nur, unfähig, irgendetwas aus sich herauszustottern.

    Zuerst fingen sie einmal pro Woche mit Physiotherapie an. Sie ging jedes Mal zwei Kilometer zur Praxis hin und dann wieder zwei Kilometer zurück. Sie hatte kein Auto und konnte auch kein Auto fahren. Sie hatte zwar einen Führerschein, den sie mit achtzehn Jahren gemacht hatte, aber seit dieser Zeit war sie nicht mehr gefahren. Mark erlaubte es ihr nicht. Es hieß immer: „Wenn du am Steuer sitzt, habe ich keine ruhige Minute mehr." Und so hatte sie es sich angewöhnt, zu Fuß zu laufen. Auch ihre Einkäufe erledigte sie zu Fuß und trug sie selbst ins zweite Stockwerk nach oben. Es kam ihr nie in den Sinn, sich zu beklagen. Und so lief sie auch einmal in der Woche zur Physiotherapeutin. Später machte sie die Übungen dreimal am Tag mit ihrem Sohn zu Hause. Als sie be-obachtete, wie die Physiotherapeutin mit dem Körper ihres Sohnes, wie mit einem Sack, verzweifelt kämpfte, schwanden jedoch ihre Kräfte. Doch die noch junge Fachkraft lächelte ermutigend.

    „Keine Bange, die Muskulatur wird schon kräftiger werden. Das sieht nur so schlimm aus. Im Vergleich zu anderen Kindern mit derselben Behinderung macht er sehr gut mit."

    Sie wusste nicht, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach oder ob es nur ein Versuch war, sie zu trösten. Doch nach einiger Zeit kam die erste selbstständige Bewegung. Martin reagierte auf Geräusche. Er versuchte, den Kopf zu drehen. Es gelang ihm und er lächelte. Ina weinte vor Freude. Was sie jedoch beunruhigte, war Martins Verhalten. Er quengelte oft, wollte nach wie vor nicht trinken und schlief sehr schlecht. Die längste Schlafphase dauerte eine halbe Stunde. Von einer inneren Unruhe getrieben, wachte er immer wieder auf und wimmerte dann leise. Ina versuchte, alles Denkbare zu tun, um ihm zu helfen. Sie trug ihn auf den Arm oder schob ihn im Kinderwagen auf dem Balkon hin und her. Sie dachte, dass er vielleicht ständig frische Luft brauche. Sie machte auch die Spieluhr an, damit die zarte Musik ihn beruhigte. Es half jedoch nichts. Sie erinnerte sich an die Leiterin des Kindergartens. Vielleicht sollte sie wirklich dorthin gehen und mit ihr sprechen. Sie hatte bestimmt genug Erfahrung und würde ihr vielleicht einen Rat geben. Sie rief sie an und sie vereinbarten einen Termin. Eine Frau Mitte dreißig begrüßte sie herzlich.

    „Ich freue mich, Frau Wagner, dass Sie gekommen sind. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass zu uns nur Downsyndrom-Kinder ab dem dritten Lebensjahr kommen. So ein kleines Baby haben wir noch nie gesehen."

    „Hallo, Martin, begrüßte sie ihn zärtlich und beugte sich über ihn. „Sehen Sie, Frau Wagner, bei uns wird auch Ihr Sohn bewundert, meinte sie fröhlich.

    Es erinnerte Ina an die Zeit, als Susanne geboren worden war. Damals hatte sie jedem, der am Kinderwagen vorbeigekommen war, stolz ihr Kind zeigen wollen. Doch heute wollte sie am liebsten auf einer einsamen Insel leben. Sie hatte keinen Grund, auf ihr Kind stolz zu sein. Heute nicht, aber vielleicht in Zukunft? Gab es für sie überhaupt eine Zukunft, in der sie wieder glücklich lachen könnte? Frau Link, so hieß die Leiterin des Kindergartens, stellte ihr andere Trisomie-Kinder vor. Dabei war ein sechsjähriger Junge mit einer dicken Brille und Glupschaugen. Seine Zunge hing zwischen speichelnassen Lippen hervor. Er stellte sich zwar undeutlich, jedoch sehr freundlich als Klaus vor und machte dabei einen fröhlichen Eindruck. Dann kam Martin. Er war wesentlich jünger als Klaus und strahlte über das ganze Gesicht. Aber er konnte nicht sprechen. Seine Gesichtszüge ähnelten zwar auf irgendeine Weise denen von Klaus, aber die Behinderung war nicht ganz so deutlich ausgeprägt. Ina erschrak.

    „Frau Link, fragte sie unsicher und ein wenig beschämt, „wird mein Martin auch so aussehen?

    Sie lächelte verständnisvoll.

    „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Frau Wagner. Wie ich schon sagte, habe ich noch nie mit Trisomie-Babys zu tun gehabt. Aber ich kann Sie beruhigen. Das sind sehr liebe, anhängliche Kinder, durchaus begabt und vor allem sehr musikalisch. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Alles kommt wie von selbst, Sie werden mit Ihrem Sohn sehr glücklich sein. Das kann ich Ihnen versprechen."

    Ina konnte sich dieses Glück kaum vorstellen, aber wenn sie das so sagte …

    Frau Link konnte sich auch nicht erklären, warum Martin so schlecht schlief und trank. Sie riet ihr, noch einmal den jungen Arzt in der Kinderklinik anzurufen und mit ihm darüber zu sprechen.

    „Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt."

    Ihre Ruhe, ihre Ausgeglichenheit und ihre Bereitschaft, Ina zur Seite zu stehen, waren unglaublich. Zutiefst berührt kämpfte sie gegen die Tränen. Frau Link bemerkte es. Mit dem Baby auf dem Arm, das sie liebevoll anschaute, schlug sie vor: „Es wäre natürlich sehr gut, wenn Sie mit Martin eine Heilpädagogin aufsuchen würden. Sie wird Ihnen sicher weiterhelfen können. Meiner Meinung nach ist es nie zu früh, um mit der Förderung anzufangen."

    „Heilpädagogin? Wo finde ich eine?, fragte Ina erstaunt, dass es so etwas gab. Frau Link überlegte kurz: „Ich habe eine Idee, Frau Wagner. Wir haben nämlich eine Heilpädagogin, die unsere Kinder betreut. Ich versuche, einen Termin für Sie zu bekommen. Ich rufe Sie an, wenn ich etwas ausrichten kann.

    „Frau Link, ich bin Ihnen sehr dankbar! Ich bin so ratlos und unbeholfen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun kann, um meinem Kind richtig zu helfen."

    Sie lächelte wieder und in dem Lächeln waren Güte und Liebe.

    „Ich bin für Sie da. Rufen Sie mich zu jeder Zeit an, falls Sie Hilfe brauchen."

    Ina hatte schon viele ähnliche Worte in ihrem Leben gehört. Doch wie sich später herausstellen würde, waren keine so wahr wie diese.

    Ina räumte noch die Küche auf. Es war schon spät. Mark und Susi schliefen schon mindestens seit einer Stunde. Sie musste noch das Fläschchen vorbereiten und bis Martin ein bisschen getrunken hatte, war es längst nach Mitternacht. Sie war müde. Doch sie wusste, sobald sie im Bett liegen würde, könnte sie nicht einschlafen. Ihr Leben hatte sich verändert. Es würde nie mehr so sein, wie es früher einmal gewesen war.

    „Ina, das Kind weint", rief sie Marks verschlafene Stimme aus ihren Gedanken.

    Er stand mit zusammengekniffenen Augen an der Tür. Das helle Licht der Küche störte ihn.

    „Ich komme gleich. Ich muss nur das Fläschchen fertig machen. Nimm ihn so lange auf den Arm, damit Susi nicht aufwacht."

    Nach einer Weile kam er mit Martin auf dem Arm in die Küche und bemerkte ungeduldig: „Das muss sich ändern. Das kann doch nicht sein, dass ein Baby tausendmal in der Nacht aufwacht."

    „So oft wacht er nicht auf, bemerkte sie matt. „Außerdem habe ich morgen vor, den Oberarzt in der Klinik anzurufen. Frau Link hat es mir geraten. Der Arme quält sich. Es ist auch nicht normal, dass er nur dank Medikamenten schlafen kann. Ich kann ihm doch nicht ein Jahr lang – oder bis zur bevorstehenden Herzoperation – Schlafmittel verabreichen.

    „Ach, die Ärzte. Wenn sie nur etwas wüssten. Geld nehmen, das können sie leicht, aber sonst?, kritisierte Mark, wie er andere so oft kritisierte. Von sich selbst war er jedoch sehr eingenommen. So eine Persönlichkeit wie ihn gab es wohl sonst nicht mehr auf der Welt. Sie seufzte: „Gib mir bitte Martin und geh schlafen!

    „Schlafen!, nörgelte er. „Wie lange? Eine Stunde, wenn ich Glück habe?

    „Eine Stunde ist dir sicher, weil er mit dem Trinken bestimmt nicht früher fertig wird."

    Sie versuchte, ruhig zu bleiben, und biss die Zähne zusammen. Sie dachte daran, dass sie nicht in der Verfassung war, sich neben den ganzen Sorgen, die auf ihr lasteten, noch seine Nörgelei anzuhören. Sie waren inzwischen schon elf Jahre verheiratet und Mark war mit Sicherheit kein aufmerksamer oder hilfsbereiter Mann. Seine negative Einstellung nicht nur Menschen, sondern auch dem Leben gegenüber machte aus ihm einen unzufriedenen und schwierigen Lebenspartner.

    Ina hielt den trinkenden Martin im Schoß und grübelte traurig. „Eigentlich sollte ich mit so einem Mann wie Mark kein Kind mehr haben wollen. Sie sah jetzt ein, dass ihre Sehnsucht und ihr harter Kampf um das Kind sehr egoistisch gewesen waren. Diese Sehnsucht war durch ihre Vorstellung entstanden, dass Susanne in ein paar Jahren das Elternhaus verlassen und sie nur mit Mark bleiben würde. Ein Leben nur mit Mark würde sie nicht ertragen. Durch ein weiteres Kind wollte sie noch ein bisschen Glück empfinden, das es in ihrem unerfüllten Eheleben nicht gab. Und dieses Glück lag jetzt schlafend in ihren Armen, wobei das Fläschchen nicht einmal bis zur Hälfte ausgetrunken war. Sie betrachtete Martins breiten Nacken und die Falte, die sich an ihm bildete. Dann schaute sie sich intensiv seine schräg stehenden Augen, die flache Sattelnase und die durch die fehlende Gesichtsmuskulatur hängenden Lippen an. Sie sah auch die große Zunge, die er in einer Art Reflexbewegung oft herausstreckte. Sie erinnerte sich an Susi, wie hübsch und süß sie als Baby gewesen war. Dabei musste sie sich eingestehen, dass Martins Aussehen sie noch immer deprimierte. Und trotzdem war er ihr Kind. Sie verspürte in diesem Moment eine so unbegrenzte Zärtlichkeit dem Kind gegenüber, dass ihr Herz fast Glück empfand. „Martin, ich liebe dich, ich habe dich gewollt, dich geboren und dadurch bin ich für dich verantwortlich!

    Susi kam früher als erwartet aus der Schule. Draußen regnete es in Strömen. Sie kam total durchnässt an, weil sie keinen Regenschirm mitgenommen hatte. Noch vor Martins Geburt hätte sie sicher mit Ärger daran gedacht, dass sie wieder ohne Regenschirm aus dem Haus gegangen war. Sie merkte zwar, dass es nicht angenehm war, so nass zu sein, aber es gab heute viel wichtigere Dinge als ihre nassen Haare oder ihre Kleidung. Jetzt trocknete sie sich mit schnellen, fast nervösen Bewegungen ab. Das Handtuch flog auf ihrem Kopf hin und her. „Scheißwetter", sagte sie mürrisch.

    „Susi! Ina erstarrte. „Solche Worte möchte ich in dem Haus nicht hören!

    „Mein Gott!", rief Susanne ungeduldig und verschwand in ihrem Zimmer.

    Ina nahm den Suppentopf vom Herd und ging zu ihrer Tochter. Sie saß auf der hintersten Ecke des Bettes und kaute an ihren Fingernägeln. Normalerweise hätte Ina sofort bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch heute waren ihre Gedanken schon in Heidelberg und nur bei Martin.

    „Wir haben morgen einen Termin in der Heidelberger Klinik und ich weiß nicht, wann wir zurückkommen. Ich bereite dir das Mittagessen vor und wenn du aus der Schule kommst und wir noch nicht da sind, dann musst du dir dein Essen selbst aufwärmen."

    „Das werde ich gerade noch so schaffen", bemerkte sie trocken.

    Sie stand dabei auf und holte ihre Tasche, um ihre Hausaufgaben zu machen. Ina verließ das Zimmer, um nach Martin zu schauen. Susanne war sehr selbstständig. Ina war stolz darauf, dass sie sich nicht um ihre Hausaufgaben kümmern musste. Schließlich sollten die Kinder in diesem Alter auch ausreichend Verantwortungsgefühl haben, um ihren Verpflichtungen nachzugehen. In dem Alter? Susanne war erst zwölf geworden. Doch für Ina war dies ein fast erwachsener Mensch, im Vergleich zu dem hilflosen, kleinen Baby.

    Martin musste in Heidelberg bleiben. Zuerst sollte eine Herzkatheteruntersuchung vorgenommen werden. Sie verlief ohne Komplikationen, doch die Befunde waren für Ina erschreckend. Martin musste sofort operiert werden. Zwar nicht direkt am Herzen, aber das Risiko war trotzdem groß genug. Um den Blutdruck in der Lunge zu reduzieren, wurde ein Band um die Aorta, die das Blut in die Lunge führte, gelegt. Natürlich wurde der Blutdruck im Herzen dadurch viel stärker. Der Herzmuskel würde dies nach Professor Wolf eine Zeit lang problemlos aushalten. Die Lungenbläschen dagegen, die diese Dehnungsfähigkeit nicht hatten, würden mit der Zeit platzen. Ohne diese Voroperation könnte Martin höchstens noch drei Monate leben. Ina und Mark willigten in die Operation ein.

    So begann für Ina ein Kampf, in dem sie theoretisch zwischen Tod oder Leben wählen musste. Was sie im Augenblick für Martin wünschte, wusste sie nicht. Viel später schämte sie sich für diese Gedanken, die im Tod die Erlösung sahen. Ina hätte es nie zugegeben, dass sie den Tod am liebsten gewünscht hätte, aber gleichzeitig betete sie: „Gott, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden." Und wenn es Gottes Wille gewesen wäre, Martin zu sich zu rufen, hätte sie es hingenommen. Sie wäre Gott nicht böse gewesen. Auf jeden Fall nicht so sehr, wie damals, als sie ihn bekommen hatte. Schließlich hatte er das Sagen auf der Erde und sie hatte sich zu fügen. So schwankte sie zwischen diesen beiden Extremen. Ihr Gesicht hatte einen besorgten, traurigen Ausdruck, da sie in Gedanken abwog, wie viel ihr durch Martins Tod erspart bleiben würde. Doch Gott hatte mit Ina anscheinend etwas anderes vor, weil Martin die Operation wunderbar überstand. Die Freude darüber war jedoch bei beiden Eltern ein wenig gedämpft.

    „Ach, guten Tag, Frau Wagner", hörte sie plötzlich die freundliche Stimme von Frau Schulz.

    Ina wollte gerade ihre Einkäufe in die Tasche packen, als Frau Schulz, die Frau ihres Chefs, sie begrüßte. Sie drehte sich um und grüßte zurück: „Guten Tag, Frau Schulz, wie geht es Ihnen und Ihrem Mann?"

    „Ach, danke. Uns geht es sehr gut. Wissen Sie, wenn man in unserem Alter gesund bleibt, dann darf man sich nicht beklagen."

    Beide waren einundsechzig und führten noch ein sehr aktives berufliches und privates Leben.

    „Das stimmt. Heute weiß ich es mehr denn je zu schätzen", bemerkte Ina besonnen.

    „Das glaube ich. Es tut mir schrecklich leid. Als mein Mann mir von Ihrem Kind erzählte, habe ich wahrhaftig geweint. Und mich gefragt, warum es gerade Sie treffen musste?"

    Ina sah aufrichtiges Mitleid in ihrem Gesicht und war zutiefst gerührt.

    „Ich habe mich auch so etwas gefragt. Vor allem, als ich im Krankenhaus manche Mütter erlebte, die vor und nach dem Stillen fast ständig Zigaretten rauchten und trotzdem gesunde Kinder bekommen haben. Ich habe auf alles geachtet, kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Medikamente und mein Kind ist trotzdem behindert. In so einem Moment fühle ich mich von Gott ungerecht behandelt."

    „Das glaube ich Ihnen, Frau Wagner, stimmte sie traurig zu, „doch freuen Sie sich jetzt, dass er die Operation gut überstanden hat. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm werden, wie Sie denken. Ich habe von meinem Sohn gehört, dass diese Kinder sehr liebenswürdig und anhänglich sind. Er sagte, ich sollte Ihnen unbedingt Mut machen.

    Frau Schulz lächelte sie mütterlich an, nahm dabei Inas Hand und drückte sie tröstend.

    „Und denken Sie auch an sich selbst. Die Menschen brauchen Sie noch. Mein Mann kann sich auf keinen so verlassen wie auf Sie. Das hat er mir immer gesagt. Und Ihre Tochter ist so ein wohlerzogenes, bildhübsches Mädchen."

    „Danke, Frau Schulz. Vor allem ist sie ein sehr liebes und hilfsbereites Kind. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich auf sie verlassen kann. Und ich bin Ihrem Mann sehr dankbar, dass er ihr neulich in Mathematik geholfen hat."

    „Ach, nicht der Rede wert. Sie wissen doch, dass sie jederzeit kommen kann, wenn sie Hilfe braucht. Sie natürlich auch, Frau Wagner. Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie sich immer an uns wenden können, falls Sie Hilfe brauchen."

    Ina hatte Tränen in den Augen.

    „Vielen Dank, Frau Schulz. Das haben Sie uns auch zu Martins Geburt geschrieben. Ich weiß es zu schätzen und ich hoffe, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht. Ich bin auch für Sie da, falls Sie mich brauchen."

    „Natürlich, das wissen wir doch schon längst. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Sohn alles Gute. Auf Wiedersehen, Frau Wagner."

    „Auf Wiedersehen, Frau Schulz, und auch schöne Grüße an Ihren Mann."

    Sie packte ihre Einkäufe ein. Sie war von diesem wohltuenden Gespräch so gerührt, dass sie anfing, wieder mit Gott zu sprechen: „Gott, ich danke dir, dass es solche Menschen wie Familie Schulz gibt. Und vielleicht, wenn ich Martin nicht hätte, wüsste ich auch nicht, dass auf der Erde so viele liebe und hilfsbereite Menschen wohnen, die man mit Engeln vergleichen kann."

    Das Bewusstsein, dass es Menschen gab, auf die man sich in der Not verlassen konnte, war für Ina, im Gegensatz zu ihrem Mann, sehr wichtig. „Wann hat die Freundschaft mit Schulzes eigentlich angefangen, überlegte sie, als sie schon zu Hause angekommen war und das Mittagessen vorbereitete. Sie musste sich beeilen, weil sie nach dem Essen nach Heidelberg fahren wollten, um Martin zu besuchen. Das arme Kerlchen lag ganz allein im Zimmer. Es war die Woche vor Weihnachten und viele Kinder waren entlassen worden. Martin musste leider noch bleiben. Es waren erst zehn Tage seit der Operation vergangen. Doch man merkte, wie schnell sich sein Zustand besserte. Ina lächelte zärtlich. Sie erinnerte sich an das letzte Zusammensein mit ihm. Als sie mit ihm sprach, fing er an, zu strampeln, und bewegte voller Freude seine Ärmchen. Er merkte ganz genau, dass jemand bei ihm war. „Wusste er, dass ich es bin, seine Mutter?, fragte sie sich und wieder blieb eine Frage unbeantwortet. Man konnte nur vermuten, was so ein Baby dachte oder begriff. Aber mit gesunden, nicht behinderten Babys war es doch dasselbe. Ihre Gedanken waren im Moment so sprunghaft und durcheinander, dass sie jetzt überlegte, was sie zu Hause so gedacht hatte, nachdem sie Frau Schulz getroffen hatte. „Ach ja, ich habe überlegt, wie ich die Freundschaft mit Frau Schulz geschlossen habe, und wie immer, statt meinen Gedanken zu folgen, bin ich bei Martin gelandet." Frau Schulz hatte Ina vor zwei Jahren kennengelernt. Sie wusste noch ganz genau, wie es dazu gekommen war. Ina saß mit Doktor Schulz in seinem Büro. Beide versuchten, die beruflichen Probleme, die sich gehäuft hatten, zu lösen. Doktor Schulz, der sich immer sehr vornehm und korrekt benommen hatte, verlor plötzlich seine Beherrschung und fertigte Ina so ab, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre, weil sie sich unschuldig angegriffen fühlte. Sie war kein Mensch, der nicht zu ihren Fehlern stehen würde, aber sie konnte nicht die Verantwortung für die Fehler anderer übernehmen.

    „Herr Doktor Schulz, ich habe die Analysen doch nicht gemacht, obwohl ich Ihre Aufregung verstehe, weil Sie die Verantwortung für unser Labor tragen. Und falls etwas schiefläuft, müssen Sie es in erster Linie ausbaden. Aber ich war in dieser Zeit in Urlaub und deshalb bin ich nicht dafür verantwortlich, was in dieser Zeit gemacht wurde."

    Doktor Schulz wurde plötzlich rot im Gesicht.

    „Sie waren in der Zeit im Urlaub?", fragte er, nichts begreifend.

    „In der Tat. Ich hatte noch Resturlaub und ich sollte ihn eigentlich im April nehmen. Im April hatten wir aber so viele Aufträge, dass ich ihn auf Mai verschieben musste."

    Doktor Schulz stand von seinem Schreibtisch auf und ging in seinem Zimmer nervös hin und her. Sie merkte, wie peinlich es ihm war, sie so ungerecht zu beschuldigen.

    „Herr Doktor Schulz, ich bin bereit, alle Analysen noch einmal zu machen. Es tut mir sehr leid, dass unser Team Sie enttäuscht hat."

    „Mir tut es leid, Frau Wagner, sagte er, zu ihr gebeugt, „verzeihen Sie mir bitte, ich hätte zuerst überprüfen müssen, wer das gemacht hat. Ich bin die letzte Zeit sehr angespannt. Wie Sie wissen, ist meine Frau im Krankenhaus. So hilfsbereit, wie sie ist, betreute sie noch drei ausländische Kinder aus ihrer Schule und hat ihnen zusätzlichen Deutschunterricht gegeben. Natürlich hat sie mich wieder dazu gebracht, dass ich sie vertrete, und ich glaube, es ist einfach zu viel für mich. Wissen Sie, mir ist jetzt klar geworden, wie wenig ich die deutsche Grammatik kenne.

    „Herr Doktor Schulz, ich würde das gern für Sie tun. Sie wissen ja, dass ich durch meine Tochter ständig mit der deutschen Grammatik zu tun habe. Mir wird es nicht schwerfallen, den Kindern zu helfen."

    „Nein, nein, das darf ich nicht annehmen! Sie als berufstätige Frau und Mutter haben genug um die Ohren!"

    Nach einem langen Gespräch, in das Ina viel Überzeugungskraft investieren musste, gab er schließlich nach. So entstand zuerst die Freundschaft mit Frau Schulz und später auch mit Herrn Doktor Schulz, was Mark nie so richtig akzeptieren konnte und wollte. Immer wieder führte diese Freundschaft zu gravierenden Konflikten zwischen Mark und Ina. Und so war es auch heute, nachdem sie das Treffen mit Frau Schulz erwähnte und dazu das Lob für sie wiederholte. Der Streit war dadurch vorprogrammiert.

    „Sie werden dich immer loben. Wie könnte es anders sein, sprach er geringschätzig. „Es reicht, wenn sie nur den kleinen Finger bewegen, dann springst du schon wie eine Marionette um sie herum.

    „Das ist nicht wahr, Mark. Das weißt du doch! Sie sind auch für mich da, wenn ich sie brauche. Wie viele Male hat Herr Schulz Susi Mathematik erklärt! Wie viele Male haben sie mir schon ihr Abonnement vom Theater gegeben, damit ich hinfahren kann."

    „Klar, weil sie selbst keine Zeit hatten."

    „Das ist doch egal. Sie haben genug Freunde, denen sie es hätten geben können. Siehst du, da ist der Unterschied zwischen uns. Du hast nie Freunde gehabt, weil du in einem Menschen nie das Positive siehst."

    Er zuckte mit den Achseln.

    „Solche Freunde, die mich ausnutzen, brauche ich auch nicht!"

    „Natürlich, dir wären solche lieber, die du ausnutzen kannst!"

    Eine ohnmächtige Wut übermannte sie, wie immer, wenn Mark so abwertend von ihren Freunden sprach. Es war noch nie passiert, dass er jemanden nett oder sympathisch gefunden hatte. Aus diesem Grund hatten sie nie einen Freundeskreis aufbauen können, mit dem sie sich ab und zu treffen würden. Die einzigen Kontakte, die er hatte, waren die zu seinen Eltern und zu seiner Schwester. Und auch da kam es selten dazu, dass Mark sie zu sich nach Hause einlud. Eher besuchte er sie in regelmäßigen Abständen. So lebte Ina schon seit Jahren und führte daneben ihr eigenes Leben, selbst wenn Mark das missbilligte. Jetzt war Martin da und sie war mit seiner Förderung so angespannt, dass sie kaum noch Zeit hatte, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Die Besuche bei der Physiotherapeutin und bei der Heilpädagogin beanspruchten viel Zeit des Tages. Schon allein dadurch, dass sie nicht motorisiert war. Den Fußweg betrachtete sie jedoch als einen längeren Spaziergang. Doch manchmal, wenn das Wetter nicht gerade angenehm war, schaute sie die vorbeifahrenden Autos an und fragte sich: „Warum nehme ich das eigentlich in Kauf? Sie hatte doch einen Führerschein. Ein kleines Auto könnte sie sich doch leisten. Es ging ihnen finanziell nicht so schlecht. Als sie nach Hause kam, sprach sie ihren Mann darauf an. Er sagte nur irritiert: „Du am Steuer. Damit war das Thema erledigt. Ina seufzte nur und schöpfte weitere Kraft zum Leben aus der Liebe zu ihren Kindern und vor allem aus den Fortschritten, die Martin machte. Nach der Operation hatte sich sein Zustand enorm verbessert. Martin trank jede Flasche in rasendem Tempo leer, schlief viel besser und war viel lebhafter. Natürlich wachte er immer noch ein paar Mal in der Nacht auf, aber er weinte nicht, sondern wurde nur unruhig. Ina hörte ihn immer sofort, stand auf und beruhigte ihn mit lieben, zärtlichen Worten, damit Mark bloß nicht aufwachte. Jede Nacht lächelte er sie an und strampelte danach voller Freude. In diesen Momenten spürte sie eine so tiefe Zuneigung zu diesem Kind, dass sich ihre Augen jedes Mal mit Tränen füllten. Oft nahm sie ihn einfach zu sich ins Bett und sobald er ihren warmen Körper spürte, schlief er ruhig ein. Sie liebte das anschmiegsame, zarte Wesen. Sie liebte ihn, weil er so hilflos auf sie angewiesen war. Manchmal, wenn sie in der Nacht wach lag, dachte sie an Susi, die so gut und einfühlsam mit Martin umgehen konnte. Sie spielte mit ihm, führte die nötigen Übungen durch und benahm sich dabei, als wäre die Welt vollkommen in Ordnung. Und die Welt war auch in Ordnung, obwohl sie zuerst gedacht hatte, dass es nie mehr sein würde, wie es gewesen war. Heute wusste sie es. Sobald die Liebe zu anderen Menschen fähig war, zu wachsen, hatte das Leben einen wirklichen Sinn. Die Liebe zu Martin wuchs und gedieh von Tag zu Tag mehr. Sie hatte nie mit Susi darüber gesprochen. Auch Susi sprach nie über ihre Gefühle für Martin. Doch zwischen den beiden entstand so etwas wie eine stumme Vereinbarung, die sagte: „Martin gehört zu uns. So hat es Gott gewollt, aus welchen Gründen auch immer." Diese erfuhren sie später mehr zufällig, als Susanne erkrankte.

    Es war an einem Samstagmorgen. Susi wurde mit Bauchschmerzen ins Krankenhaus gebracht. Die Diagnose lautete Blinddarmentzündung. Susi musste noch am selben Tag operiert werden. Die Operation verlief gut und Susi wurde in ein Zimmer gebracht, in dem ein sechsjähriger Junge mit Downsyndrom lag. Er war als siebtes Kind in einer türkischen Familie geboren worden. Der Junge hatte schwere Verbrennungen am rechten Fuß. Was Ina als Erstes auffiel, war, dass er kaum sprechen konnte. Bei Susanne waren jeden Tag andere Schulfreundinnen zu Besuch und Ina wollte sich nicht unbedingt dazwischendrängen. In solchen Situationen waren Eltern überflüssig. Sie nahm sich den Jungen vor, den kaum jemand besuchte. Es war nicht einfach, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Erst nach ein paar Tagen, in denen sie sich mit allen Mitteln bemühte, sein Vertrauen zu gewinnen, sah sie aufrichtige Freude in seinem Gesicht, wenn sie ins Zimmer kam. Er tat ihr leid. Seine großen, schwarzen Augen sprachen Bände, doch seine Lippen konnten nur unverständliche Laute von sich geben, trotzdem fand Ina einen Weg, sich mit dem Jungen zu verständigen. Sie spielten zusammen und er begriff oft schneller, als sie es erwartete. „Er ist gar nicht dumm, dachte sie begeistert. „Und wenn er, so vernachlässigt, doch noch so viel begreift, dann wird es mit unserem Martin vielleicht auch nicht so schlimm sein. Ich muss viel mit ihm arbeiten, alles Mögliche tun und vor allem jede Minute ausnutzen, um ihn zu fördern. Von da an war sie wie besessen. Nur Martin und seine Förderung zählten.

    Sie war gerade dabei, die aufgeblasenen Luftballons an die Decke über Martin zu hängen, als Mark unerwartet nach Hause kam.

    „Ich muss nach Mannheim fahren, also komme ich zum Mittagessen nicht nach Hause. Hast du vielleicht das Essen schon fertig?"

    „Nein, Mark. Es ist erst halb zwölf. Ich habe nicht einmal angefangen, zu kochen. Aber im Kühlschrank habe ich noch etwas Suppe von gestern."

    „Dann mach mir die Suppe warm und ein Brot dazu."

    „Als hätte er sich das nicht selbst machen können, dachte sie genervt, als sie sah, dass er die Zeitung ausbreitete und einfach wartete, bis sie ihm das Essen auf den Tisch stellte. „Bitte konnte er auch nicht sagen, aber von Susi verlangte er das Wort immer. Die Zeitung war durchgeschaut, das Essen fertig.

    „Was machst du mit den Luftballons?", fragte er skeptisch.

    „Die Heilpädagogin hat mir diesen Rat gegeben. Martin sollte alle möglichen Reize von außen bekommen. Er muss motiviert werden, sich für die Umwelt zu interessieren, und wird dabei auch lernen, sich zu bewegen. Siehst du, wie er sie beobachtet und dabei strampelt? Er ist viel lebhafter geworden. Wir sollten mit ihm auch so viel sprechen, wie es möglich ist. Das heißt, egal, was ich gerade tue, sollte ich es ihm erzählen."

    „Als würde gerade er das verstehen!", spottete Mark.

    „Es geht nicht um Verstehen, Mark. Es geht um den Klang der Sprache. Natürlich versteht er heute nicht, was ich sage, aber mit der Zeit werden ihm die Laute und die Worte immer vertrauter. Er wird sie wiedererkennen und weil er nicht taub ist, wird er auch sprechen lernen."

    „Das ist natürlich deine Theorie und deine Vorstellung. Ich bin der Meinung, wenn ein Mensch geistig behindert ist, dann bleibt er auch geistig behindert. Ein Genie kannst du aus ihm sicher nicht machen."

    Inas Kopf blieb zuerst enttäuscht hängen, doch dann schaute sie Mark an. In ihren großen, dunklen Augen zeigte sich ein unbesiegbarer Wille, als sie antwortete: „Ich habe auch nicht vor, ein Genie aus ihm zu machen, nur einen Menschen, der keinem zur Last fällt und zumindest teilweise selbstständig leben kann. Wir

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1