Irrlicht 57 – Mystikroman: Der singende Turm
Von Jessica London
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Er überwand seine Scheu vor der offenen Tür, erstieg die Holzleiter und fand Eva ohnmächtig am Boden liegen. Er kniete neben ihr nieder und schob seine Hand unter ihren Kopf, mit dem sie ziemlich hart aufgeschlagen sein mußte. Erst jetzt wagte er einen scheuen Blick in das Innere des Turmes. Von oben fiel ein kreisrunder Lichtkegel auf den steinigen Boden. Neben einem menschlichen Skelett lag dort eine Geige, deren Holz noch immer von einem matten braunen Glanz überzogen war und deren Saiten sich straff spannten, als wäre sie gerade frisch gestimmt worden. Es dämmerte bereits. Das machte die Nebelfetzen, die schon wieder um den offenen Turm flatterten, noch gespenstischer. Eva hielt für eine Weile in der Arbeit inne und sah beklommen hinauf zum Schloß Hassloh. Die dunklen Vögel, die um den zweiten Turm kreisten, der sich schlank und hübsch mit seinem spitzen Dach in den Abendhimmel erhob, nahmen ihr die Angst auch nicht. Sicher waren es nur friedliche, harmlose Tauben, die ihren Abendreigen tanzten, aber im schwachen Licht des scheidenden Tages wurden sie zu unheilverkündenden Krähen, die wie Wachhunde des Himmels darüber bestimmten, wer sich dem Schloß nähern durfte und wer nicht. Aber wer ging schon freiwillig hinauf nach Hassloh: Und diejenigen, die oben ihren Dienst taten, wurden im Dorf verehrt wie Helden. Ein Windstoß bauschte Evas Rock aus braunrotem Nesselstoff und schüttelte derb die Bäume am Rand der Waldwiese, auf der das Mädchen eine Fuhre frischen Grases zusammenrechte. Furchtsam lauschte es auf das Summen des Windes. Er kam von Südosten. Jeder im Dorf wußte, was das bedeutete. Verschärfte er sich, dann war es zu hören, dieses Geräusch, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es kam aus dem offenen Turm von Hassloh. Sollte lachen, wer wollte, aber bei Ostwind begann der dicke Turm, dem man dereinst beim Bau kein Dach aufgesetzt hatte, zu singen. Es war kein schönes Lied, das vom Hügel herabgetragen wurde und seine schaurige Melodie über den armseligen Häusern aushauchte. Von Tod und Pein erzählte es und von einer armen Seele, die gefangengehalten wird und sich zu befreien sucht.
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Rezensionen für Irrlicht 57 – Mystikroman
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Buchvorschau
Irrlicht 57 – Mystikroman - Jessica London
Irrlicht
– 57 –
Der singende Turm
Betreten verboten: Lebensgefahr!
Jessica London
Er überwand seine Scheu vor der offenen Tür, erstieg die Holzleiter und fand Eva ohnmächtig am Boden liegen. Er kniete neben ihr nieder und schob seine Hand unter ihren Kopf, mit dem sie ziemlich hart aufgeschlagen sein mußte. Erst jetzt wagte er einen scheuen Blick in das Innere des Turmes. Von oben fiel ein kreisrunder Lichtkegel auf den steinigen Boden. Neben einem menschlichen Skelett lag dort eine Geige, deren Holz noch immer von einem matten braunen Glanz überzogen war und deren Saiten sich straff spannten, als wäre sie gerade frisch gestimmt worden.
Es dämmerte bereits. Das machte die Nebelfetzen, die schon wieder um den offenen Turm flatterten, noch gespenstischer.
Eva hielt für eine Weile in der Arbeit inne und sah beklommen hinauf zum Schloß Hassloh. Die dunklen Vögel, die um den zweiten Turm kreisten, der sich schlank und hübsch mit seinem spitzen Dach in den Abendhimmel erhob, nahmen ihr die Angst auch nicht. Sicher waren es nur friedliche, harmlose Tauben, die ihren Abendreigen tanzten, aber im schwachen Licht des scheidenden Tages wurden sie zu unheilverkündenden Krähen, die wie Wachhunde des Himmels darüber bestimmten, wer sich dem Schloß nähern durfte und wer nicht.
Aber wer ging schon freiwillig hinauf nach Hassloh: Und diejenigen, die oben ihren Dienst taten, wurden im Dorf verehrt wie Helden.
Ein Windstoß bauschte Evas Rock aus braunrotem Nesselstoff und schüttelte derb die Bäume am Rand der Waldwiese, auf der das Mädchen eine Fuhre frischen Grases zusammenrechte. Furchtsam lauschte es auf das Summen des Windes. Er kam von Südosten.
Jeder im Dorf wußte, was das bedeutete. Verschärfte er sich, dann war es zu hören, dieses Geräusch, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Es kam aus dem offenen Turm von Hassloh. Sollte lachen, wer wollte, aber bei Ostwind begann der dicke Turm, dem man dereinst beim Bau kein Dach aufgesetzt hatte, zu singen. Es war kein schönes Lied, das vom Hügel herabgetragen wurde und seine schaurige Melodie über den armseligen Häusern aushauchte.
Von Tod und Pein erzählte es und von einer armen Seele, die gefangengehalten wird und sich zu befreien sucht.
Eva hatte ihre Arbeit wiederaufgenommen. Sie rechte so wild drauflos, daß sie bald wieder außer Atem geriet und noch einmal einen Augenblick verschnaufen mußte. Mit kräftiger Hand stieß sie den Stiel des langen Holzrechens in die weiche Erde und lehnte sich dagegen. Nur eine Minute wollte sie so bleiben, höchstens zwei, dann mußte sie sich sputen.
Da sie müde die Augen geschlossen hatte, sah sie nicht gleich den Schatten, der sich aus der Dämmerung des Waldes herausschälte.
Es war ein Pferd, auf dessen Rücken, vornübergebeugt, lauernd, ein mächtiger menschlicher Koloß saß. Diese Silhouette kannte man im Dorf, jeder hatte sie schon einmal plötzlich auftauchen sehen und jeder beeilte sich, möglichst schnell aus dem Blickfeld von Roß und Reiter zu kommen.
Besonders die jungen Frauen und Mädchen.
*
Die Stunde des scheidenden Lichts war die Zeit, wo Graf Arnold von Lechfeld zu seinen Streifzügen aufbrach.
Heute war er fast bis zum Dorf hinuntergeritten, Jetzt blieb er am Waldrand stehen, um Ausschau zu halten.
Zuerst hielt er das Mädchen für eine Puppe aus Holz und Lumpen, mit denen die Bauern sich des aufdringlichen Wildes erwehrten. Bis Eva sich bewegte, um weiterzumachen.
Graf Arnold war abgestiegen und hatte sich dem Mädchen lautlos genähert. Mit gierigen Augen verfolgte er die geschmeidigen Bewegungen des biegsamen jungen Körpers. Ihre festen braunen Beine traten energisch auf, um die schwungvollen Bewegungen besser abfangen zu können. Sie hörte und sah nicht, was um sie her geschah.
Durch die Grasstoppeln wand sich mit schlankem goldbraunem Leib eine Blindschleiche. Zwei Stare durchwühlten flink und gewissenhaft einen Maulwurfhügel. Als Arnold von Lechfeld sich näherte, flogen sie, aufgebracht schimpfend, mit wildem Flügelschlag davon.
Jetzt erst sah das Mädchen neugierig hoch, um festzustellen, was die zwei Spitzschnäbel so plötzlich vertrieben hatte.
Aus den Augenwinkeln heraus erblickte es den gewaltigen Schatten auf der abendfeuchten Erde. Mit einem Schrei sprang Eva zur Seite, aber sie kam nicht weit. Jemand hatte sie am Zopf zu fassen bekommen.
»Halt, mein Kind.«
»Was – was wollen Sie? Ich muß nach Hause.«
Er ließ ihren Zopf los. »Wer sagt das?«
Sie zuckte die Achseln. »Niemand. Es wird halt dunkel.«
Wieder griff er nach ihr, diesmal erwischte er sie am Ärmel.
»Und wenn ich nicht will, daß du gehst?«
Plötzlich wußte das Mädchen, wem es da in die Quere gekommen war. In Evas Augen trat Entsetzen, und sie versuchte, sich loszureißen.
Sein Griff war jedoch zu fest, er zog sie sogar noch näher zu sich heran.
Am Waldrand wieherte das Pferd, beide sahen hinüber. Die Stute bäumte sich gerade auf und galoppierte dann mit wilden Sprüngen über die Wiese in Richtung Dorf. Ihre Hufe stampften und hackten in die Erde, daß es um den weißen Tierkörper so staubte und spritzte.
Arnold von Lechfeld ließ das Mädchen sofort los und rannte hinter dem Pferd her. Er schnalzte mit der Zunge und lockte, aber es schien ihn nicht zu hören.
Erneut brach etwas aus dem Wald hervor und ließ den Boden erzittern. Es war ein Hirsch. Er machte drei, vier Sprünge auf die Wiese hinaus und blieb stehen, den Kopf mit dem mächtigen Geweih nach hinten gebogen, so daß die weißen Spitzen des imposanten Hornschmucks fast den Rücken berührten. Nicht lange, dann kehrte er, den Kopf immer noch weit zurückgelegt, in den Wald zurück.
Als habe die weiße Stute gemerkt, daß das, was sie so maßlos erschreckt hatte, verschwunden war, blieb sie plötzlich stehen und sah zurück zu ihrem Herrn, der rufend und lockend auf sie zuging. Er hatte sie schon beinahe erreicht, da stolperte er und fiel hin, und als er versuchte, aufzustehen, sackte er mit einem Schmerzensschrei zusammen.
Eva, die, kaum daß er sie losgelassen hatte, mit weit ausholenden Sprüngen über die Grasstoppeln fortgerannt war, hörte den Schrei und blieb stehen. Sie sah den Grafen am Boden liegen und wartet unschlüssig, was nun geschehen würde.
*
»So hilf mir doch«, rief er und versuchte erneut aufzustehen, sank aber wieder zurück. »Oder willst du mich über Nacht hier liegen lassen?«
Obwohl seine Stimme zornig und drohend klang, ging sie zögernd zu ihm hin.
»Hilf mir, damit ich aufs Pferd kann«, befahl er, und weil sie immer noch zögerte, schrie er laut: »So komm doch, du dumme Gans. Glaubst du, ich kann dir so etwas antun?«
Da ging sie hin. Zuerst zog sie ihm den Stiefel aus. Das war gar nicht einfach, denn der Fuß war dick geschwollen. Dann stützte sie ihn, bis er stand, aber er konnte nicht aufs Pferd steigen.
»Warten Sie, ich hole meine Schubkarre.« Schon rannte sie davon und brachte die Karre herbei, die sie vor ihm umstürzte.
Jetzt ging es. Graf Arnold stieg zuerst auf die Karre und von dort schwang er sich auf den Rücken seiner Stute. Er sah noch einmal kurz zu dem Mädchen hinunter. Es schien, als wolle er noch etwas sagen, aber dann ritt er doch ohne ein Wort davon.
Eva atmete erleichtert auf, drehte die Karre wieder aufs Rad und wollte losfahren, als sie den Stiefel des Grafen erblickte. Zuerst nahm sie einen Anlauf und wollte hinter dem Reiter herrennen, aber dann sah sie ein, wie sinnlos das war, denn längst hatte der Wald das Paar aufgenommen. Außerdem wurde es nun zusehends dunkel, und so lud sie schnell ihr Gras auf, steckte den Rechen oben hinein und stülpte den schweren schwarzen Stiefel darüber. Es schaute aus, als wäre jemand kopfvoran ins Gras gefallen. Trotz des überstandenen Schreckens mußte Eva lachen.
*
Das kleine Haus, in dem Eva mit ihrem alten Onkel lebte, stand mitten im Dorf. Es war das schiefste und verwittertste von allen, und das in einem Ort, wo die Kirche so ungefähr das einzige Gebäude war, das einigermaßen gerade Wände und ein ganzes Dach hatte.
Die Grafen von Lechfeld, die Lehnsherren der armen Bauern, hatten von jeher den Leuten nur das gelassen, was sie unbedingt brauchten, um überleben zu können. Die Männer zeigten nur mit geballten Fäusten zum Schloß hinauf, und die Frauen schlugen die Augen nieder, wenn vom Grafen die Rede war, den man nicht nur häßlich, sondern obendrein auch noch einen Satan nennen mußte.
Eva war ihm an diesem warmen Sommerabend zum ersten Mal begegnet. Eine direkte Beschreibung des gefürchteten Herrn von Schloß Hassloh hatte sie noch nie bekommen. Sie würde den alten Onkel bitten, ihr nach der Nachtmahlzeit endlich einmal etwas mehr über Arnold von Lechfeld, seine Schwester Ulrike und die Familie überhaupt zu erzählen.
Der alte Jörgl, Evas Onkel, stand schon am niederen Gartenzaun und wartete. Mißtrauisch sah er auf den langen Stiefel, der auf dem Stiel des Holzrechens steckte.
»Was bringst du uns denn da ins Haus?« Sein welker, zahnloser Mund bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit, während er sprach. »Hat dir der Teufel einen Tritt gegeben und dabei den Stiefel verloren?«
Das Mädchen hatte sein Erlebnis beinahe schon überwunden und konnte bereits darüber scherzen.
»Fast so ist’s gewesen. Bin ihm davongesprungen, dem Teufel, und wie er dann noch im weichen Boden steckengeblieben ist, saß er in der Falle.«
»Der Graf!«
Jörgl krallte seine schwieligen Fäuste in Evas magere Schultern, bis sie aufquietschte. »Hat er dir was angetan?«
Blitzschnell ließ sich Eva in die Hocke fallen, damit die harte Hand, die ihr so weh tat, von der Schulter rutschte.
»Aber nein«, versicherte sie und rieb sich die Schulterknochen. »Er hat mich nicht erwischt.«
Der Alte schnaufte auf. »Gott sei Lob