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Das Rabenmädchen
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eBook235 Seiten3 Stunden

Das Rabenmädchen

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Über dieses E-Book

Ravna, Rabenmädchen. So nennen die Leute das schwarzhaarige Mädchen, das, gemieden von den Leuten am Wikingerhof, völlig auf sich allein gestellt in der Wildnis lebt; ein Schwarm Raben sind ihre einzigen Gefährten.Doch da ist Sigurd, der Sohn des Wikingerfürsten, mit dem sich Ravna seltsam verbunden fühlt. Aber wer ist Ravna wirklich? Wohin gehört sie?Sie ist eine Auserwählte, so jedenfalls hat es die Wahrsagerin verkündet...Als sie nach vielen Abenteuern als anerkannte Heilkundige an den Wikingerhof zurückkehrt, erfährt sie endlich, wer sie wirklich ist. AUTORENPORTRÄTTorill T. Hauger wurde 1943 in Norwegen geboren. Sie studierte archäologie und arbeitete am Historischen Museum in Oslo, wo sie unter anderem Ausstellungen zur Wikingerzeit organisierte. Sie starb am 4. Juli 2014. REZENSIONEN"Das aussergewönliche Schicksal eines jungen Mädchens auf der Such nach seiner Herkunft und Identität schildert Torill T. Hauger in einer pachenden Erzählung vor dem Hintergrund nordischer Mythologie und Geschichte" - aus einer Rezension"Dies ist eines der schönsten Kinderbücher, das ich kenne.Es erzählt sehr sorgsam und spannend das Schicksal des Mädchens Ravna, das auf einem Wikingerhof lebt, dort aber nicht gern gesehen ist." - Ein Kunde, Amazon.deREZENSIONEN von Mond über Eikaberg"Die Geschichte ist schön flüssig erzählt. Einzelne Kapitel gibt es in dem Sinne gar nicht es wird eher aufgeteilt in verschiedene Charaktere die die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen. Bin schon auf den letzten Rest gespannt. :)" - Reasworld, lovelybooks.de"Mir hat das Buch sehr gefallen, da die Geschichte von Sunniva sehr eindringlich und glaubhaft erzählt wird." - ZwergPinguin, lovelybooks.de"Auch für Erwachsene ein spannendes, unterhaltsames Buch, das lange nicht loslässt und zu vielem Nachdenken anregt." - Ravn, Rabenforum.de-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum3. Apr. 2015
ISBN9788711452448
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    Buchvorschau

    Das Rabenmädchen - Torill Thorstad Hauger

    Saga

    I


    »Die Wahrsagerin kommt! Da kommt die Wahrsagerin!«

    Eine häßliche alte Frau mühte sich zum Jarlshof hinauf. Ihr Gesicht war bleich wie der Tod selbst, die Augen lagen wie glühende Kohlestücke in den tiefen Höhlen, das Haar hing ihr in wirren Fransen in die Stirn. Sie war in einen knöchellangen Umhang aus Katzenfellen gehüllt; Katzenköpfe mit fauchenden Mäulern bildeten den Kragen. In einer Tasche um den Leib trug sie Knochen von neun verschiedenen Tieren, neun Sorten giftiger Pflanzen und neun Arten von Stürmen und Unwettern.

    Alles an ihr war häßlich und abstoßend.

    Trotzdem riefen sie sich auf dem großen Jarlshof von überall her zu, daß die Wahrsagerin gekommen sei. Hatten sie vor ihr auch Furcht und fast soviel Angst wie vor der Todesgöttin Hel, so war doch niemand so klug wie diese häßliche Alte. Eine Hellseherin, die in die Zukunft schauen konnte, und nur sie wußte, wie das Schicksal jedes einzelnen aussehen würde. Die Leute strömten aus den Häusern, ob Bauersleute, Krieger oder Sklaven. »Die Wahrsagerin kommt!« Sie wanderte durch das ganze Reich von Hof zu Hof, und nur einmal im Jahr kam sie auf den Jarlssitz.

    Die alte Weissagerin blieb auf dem Hofplatz stehen und atmete schwer. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann starrte sie auf die Menschen ringsum, und die meisten wichen zurück, denn es war, als schösse sie mit ihren durchdringenden Blicken glühende Pfeile ab. Sie schaute die starken Krieger und jungen Mädchen an, die alten Sklaven und die Kinder, die ihre neugierigen, schmutzigen Gesichter hervorstreckten. Es gab niemanden, der sich traute, etwas laut zu sagen. Trotzdem begann ein leises Flüstern: »Sag uns die Zukunft voraus! Sage uns unser Schicksal! Wie wird das nächste Jahr werden? Gibt es Krieg oder Frieden, Glück oder Unglück?«

    Aber die Alte blieb nicht lange stehen. Sie ergriff mit ihrer knochigen, gelben Hand den Stock. Die Tür zur Halle des Jarls war offen. Dort drinnen sollte sie ein Gastmahl bekommen und anschließend Zeichen und Warnungen deuten, die im Dampf, der aus dem Topf stieg, sichtbar wurden.

    Doch plötzlich, kurz bevor sie über die Türschwelle treten wollte, hielt sie inne. Eine Sklavin stand dort, und direkt hinter ihr versuchte sich ein Mädchen zu verstecken. Die Wahrsagerin streckte die Hand aus und bedeutete dem Kind, hervorzukommen.

    Das Mädchen zog ein Bein nach. Sein Körper war schief, und es war in Lumpen gehüllt. Aber seine Augen waren groß und glänzend, und sein Haar schwarz wie die Nacht. Ängstlich ging es zu der Wahrsagerin, sah sie aber mit klarem, festem Blick an.

    »Ich sage dir voraus, daß du ein merkwürdiges Schicksal haben wirst, mein Kind«, krächzte die Alte mit heiserer Stimme. »Du bist nicht wie die anderen. Die Götter haben dich für etwas Großes ausersehen.«

    Sie sagte das so leise, daß keiner der Umstehenden es hören konnte, und danach beugte sie sich zu der Sklavin und flüsterte ihr ins Ohr: »Sorge dafür, daß das Mädchen fortkommt. Hier ist es nicht sicher. Es wehen kalte Winde auf dem Sitz des Jarls.«

    Dann ging die Wahrsagerin in die Halle.

    Das schwarzhaarige Mädchen würde sich immer an diese Begebenheit erinnern, obwohl es nur sieben Winter alt war und noch am Rockzipfel der alten Sklavin Kumba hing.

    »Die Wahrsagerin hat recht«, murmelte Kumba und drückte das Mädchen an sich. »Du kannst hier nicht auf dem Jarlshof bleiben. Wenn der Frühling kommt, werde ich Haavard bitten, dich fortzuführen. Ganz oben am Ende des bewohnten Gebietes liegt ein Hof. Dort bist du sicher. In seiner Nähe lebt niemand außer den schwarzen Raben, die in den Bergspalten umherflattern.«

    Seitdem waren drei Jahre vergangen.

    Jetzt war sie fast elf Winter alt und lebte auf dem einsamen Rabenhof.

    Sie hörte die Vögel schreien und den Wind in den Felsspalten heulen. Aus der Ferne konnte sie das Rauschen des Flusses und weiter weg das Brausen des Meeres hören.

    Nur ab und zu stieg sie den Hang hinunter und dann meistens, um nach dem blaugekleideten Jungen Ausschau zu halten.

    Er kam immer zur gleichen Stelle: in den Wald, wo es eine Lichtung mit einer großen Eiche gab. Die Eiche spiegelte sich in einem kleinen See.

    Sie setzte sich an sein Ufer und wartete, daß der Junge kam. Immer hoffte sie es.

    Aber gleichzeitig spürte sie eine Angst, die sie erbeben ließ.

    Sie beugte sich über das Wasser. Das schwarze Haar fiel ihr über die Schultern. Ihr Gesicht schien bleich von unten herauf. Es leuchtete ihr wie eine erfrorene Seerose entgegen.

    »Bin ich ein Vogel oder ein Mensch?«

    Ein zartes Kräuseln durchzog das Wasser, sie wartete, bis die Oberfläche wieder glatt wie ein Spiegel war. Nun sah sie deutlich den schmalen Mund, die Nase und die leicht hervorstehenden Wangenknochen. Für einen Augenblick erschienen ihr auch die Augen nachtschwarz, tief im Wasser. Die schiefen Schultern ließen den Körper vogelartig erscheinen. Die Arme spreizten sich wie unbeholfene Flügel vom schmächtigen Körper.

    »Ja, ich sehe wie ein Rabe aus«, flüsterte sie. »So nennen sie mich ja auch: Rabenmädchen.«

    Sie wußte von keinem anderen Namen, Rabenmädchen oder nur Ravna war der Name, den sie gehört hatte, soweit sie sich zurückerinnern konnte. Der Rabe war ein stolzer Vogel – und ein kluger Vogel. Aber er war auch ein wilder Raubvogel, der sich in den dunklen Spalten tief im Felsen aufhielt.

    Fast drei Jahre lang hatte sie allein gelebt.

    Jetzt fing ein neuer Winter an.

    Die Luft war weißgrau und voller Frost. Erste Schneeflocken fegten über das Land. Sie wurden vom Wind getrieben und setzten sich wie winzig kleine Sterne in ihrem schwarzen Haar fest. Sie band ein paar Zweige, die sie gesammelt hatte, mit einem Riemen zusammen, stand auf, zog ihren Umhang fester um den Körper und warf sich das Bündel auf den Rücken. Ihre Hände waren rot von der Kälte, und der Atem stob wie eine Wolke aus ihrem Mund. Sie warf den Kopf zurück und gab einen leisen Pfeifton von sich. Schon sauste es in der Luft, ein Vogel mit gezackten Flügeln und kräftigem Schnabel umkreiste sie ein paarmal, bevor er sich auf ihre Schulter niederließ. Dort blieb er sitzen, während sie weiterging. Der Wind nahm zu, immer mehr Schneekörner wirbelten den Berg hinunter. Sie ging mit gesenktem Kopf und zog ein Bein nach. Der Winter war gekommen. Der Winter war hart. Einmal würden die Kälte und die Einsamkeit es schaffen, sie zu zerbrechen.

    »Ein häßlicher, angeschossener Vogel, so sehen sie mich«, flüsterte sie. »Sie haben Angst vor mir, dort unten im Dorf.

    Muß ich mich deshalb auf dem windigen Rabenhof hoch in den Bergen aufhalten?«

    Sie legte ihr Bündel ab und holte tief Luft, bevor sie die schroffe Steigung zum Hof erkletterte. Dort hinauf mußte sie, wo das Häßliche Gebirge sich mit seinen mächtigen Gipfeln erhob und schneeschwere Wolken sich durch die Gebirgsspalten wälzten.

    Da hörte sie das Geräusch von Pferdehufen auf dem gefrorenen Boden.

    Ihr Herz klopfte. War es möglich ... Ja, das mußte er sein. Es war lange her, daß sie ihn gesehen hatte. Seit dem frühen Herbst, als das Schiff des Jarls zurückgekommen war, nicht mehr. Er war immer allein, genau wie sie. Er war in ihrem Alter. Und merkwürdigerweise freute sie sich jedesmal, wenn sie ihn sah.

    Kurz darauf erschien der Junge zwischen den Bäumen. Ein Ritter in weitem, blauem Umhang. Er ritt einen Falben mit gelbweißer Mähne. Sein Haar war hellblond, über den Ohren und im Nacken geschnitten, und um die Stirn trug er ein Goldband. Die Silberplatten am Gürtel rasselten, und an einer Kette um den Hals hing ein glänzendes Odinszeichen. Der Junge brachte das Pferd zum Stehen und saß aufrecht im Sattel, nicht weiter als einen Pfeilschuß von ihr entfernt.

    Sie wußte, was er sagen würde.

    Er kniff die Augen zusammen und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Er spuckte aus. Sein Mund zog sich zu einem Strich zusammen. »Pfui!« rief er. »Verschwinde, du Unhold!«

    Dann zerrte er an den Zügeln und jagte wieder in den Wald. Noch lange sah sie seinen Umhang wie einen blauen Wirbelwind leuchten.

    *


    Das Rabenmädchen begann schneller zu gehen. Ihr wurde warm, und der Schweiß brach ihr aus. Das Bein zog sie nach. Jetzt nach oben! Nach oben! Sie mußte den Jungen noch einmal sehen, mußte ihn unbedingt sehen, bevor er verschwand.

    Als sie den ersten Gipfel erreicht hatte, flog der Vogel von ihrer Schulter und mischte sich unter eine Schar anderer, die unterhalb des Rabenberges schwebten. Mit heiserem Schrei begrüßten sie den Neuankömmling. Dann flogen sie unter einen Vorsprung, um sich vor dem Wetter zu schützen. Endlich erklomm das Rabenmädchen den mächtigen Stein, der wie der Fuß eines Riesen aus dem Berg hervorragte. Dort hielt sie an. Es schneite jetzt so dicht, daß sie kaum das Tal unter sich erkennen konnte. Nur der Fjord schnitt sich wie eine graublaue Zunge ins Land, und an dessen Ende lag das weite, offene Meer, auf dem jeden Frühling und Sommer Drachenschiffe hinaussegelten. Auch jetzt konnte sie dort draußen Schiffe erkennen, aber die steuerten dem Land zu. Den Strand entlang kauerten sich Bootshäuser, und die Höfe lagen weit verstreut, wie schlafende Tiere.

    Der blaugekleidete Junge ... Da war er wieder! Er spielte alleine und ritt in vollem Trab die Hügel hinauf und hinunter, ließ die Zügel schleifen und focht mit den Fäusten durch die Luft, als kämpfte er mit den wirbelnden Schneeflocken. Plötzlich zuckte er zusammen. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken, zielte und schoß. Aber der Hase in seiner weißen Winterkleidung konnte rasch entfliehen.

    »Schwarze Todesgöttin Hel!« Der Ruf hallte durch den Wald. Mit einem Satz war der Junge unten, um den Pfeil wiederzuholen. Dann preschte er aus dem Dickicht und ritt zum Hofplatz des mächtigsten Gutes in der Umgebung. Der Sitz des Jarls! Er lag über allen anderen wie ein triumphierendes Adlernest: am äußersten Rand des Berghanges, stolz und mächtig, an allen Seiten von steilen Felsen gut geschützt. Nur der Rabenhof lag noch höher im Gebirge.

    Die Häuser des Jarlssitzes bestanden aus geteerten Holzstämmen, genauso schwer wie die Steine in der Erde. Niemand wußte, wie alt der Hof war. Die Halle mußten wohl die Götter selbst erbaut haben, irgendwann am Morgen der Zeit. Das Geschlecht des Jarls saß seit undenklichen Zeiten dort. Fackeln leuchteten draußen, ein paar wolfsähnliche Hunde waren vor der Eichentür festgebunden, und Wachen gingen mit dem Speer in der Faust auf und ab. Schnee wirbelte in der Luft und legte sich weiß auf das Feld und alle Dächer.

    Sobald der blaugekleidete Junge angeritten kam, lief ihm einer der Knechte entgegen, ergriff das Halfter und führte sein Pferd davon. Mit stolzem Schritt ging der Junge zur Halle. Dort kam ihm ein anderer Knecht entgegen, nahm ihm den Umhang von den Schultern und schüttelte den Schnee ab. Dann schlossen sich die Türen vor dem schlechten Wetter. Der blaugekleidete Junge ging in die Wärme der großen Halle. Er war der Sohn des Jarls.

    Das Rabenmädchen holte tief Luft und zitterte.

    Vor langer, langer Zeit hatten die beiden zusammen gespielt, sie und Sigurd, der Jarlssohn. Sie hatte es niemals vergessen können, dieses Bild eines hellen und warmen Sommers, und bewahrte es wie einen Traum.

    Ravna blieb auf dem Riesenstein stehen, bis sie merkte, daß ihre Finger gefühllos wie Holzstücke wurden und der eisige Wind sie in die Wangen biß. Dann kletterte sie weiter zu dem kleinen Hof hinauf, der jetzt im Schneetreiben kaum zu sehen war. Sie ging ins Haus und warf das Reisigbündel von sich.

    Das Rabenmädchen stand in einem Raum mit Boden aus festgetretener Erde und Bänken an den Wänden. Mitten im Raum war die Feuerstelle, ihr Holz, fast niedergebrannt, glühte unter einem rußigen Kessel. An den Dachbalken hingen Bündel von Pflanzen und getrockneten Blumen, die süßlichen, starken Kräuterduft verströmten. In der einen Ecke stand die Kiste aus dicken Eichenbrettern mit ihren wenigen Habseligkeiten, in der anderen ein breites Bett mit braunen und weißen Schaffellen.

    Das war ihr Reich.

    Und abgesehen von den schwarzen Hausvögeln, die sich ab und zu von ihrem Schwarm lösten, um ihr zu folgen, war sie auf dem Hof hier oben unter den Felsen ganz allein.

    *


    Das Rabenmädchen schlief wachsam wie ein wildes Tier. Immer vollständig angezogen, warf sie sich nur ein Fell über. Ein scharfes Messer lag dicht neben ihr, und Pfeil und Bogen standen am Bettpfosten bereit. Die Tür war mit einem Eisenriegel versperrt.

    Dunkelheit barg viele Geräusche, und oft lag Ravna lange wach, ehe sie einschlafen konnte. Der Wind fegte übers Dach, manchmal so stark, daß sie sicher war, den einäugigen Odin zu hören, wie er mit seinem Totenheer angefahren kam. In stillen Nächten heulten die Wölfe unter dem einsamen Berghimmel. Hu, wie unheimlich und wild das klang! Und weit entfernt war das Tosen des mächtigen Wasserfalls, der sich in den Abgrund des Bergriesen ergoß.

    Manchmal kamen auch Menschen vorbei, und vor ihren Geräuschen hatte sie mehr Angst als vor allen anderen Lauten.

    Ravna fürchtete nicht die Hirten, die in ihren leichten Feldschuhen kamen und verirrte Schafe hoch oben im Gebirge suchten. Sie fürchtete nicht die Jäger, die steile Pfade herunterstiegen, das Wild über den Schultern, oder die armen Leute, auf ihrer Suche nach Schneehühnern in ihren Fallen. Nein, was sie fürchtete, war das Klirren von hartem Metall und Pferde, die unter dem Gewicht schwerer Kriegerausrüstung schnaubten. Der Rabenhof lag zwischen zwei verfeindeten Höfen. Dem Jarlssitz, wo Jarl Haakon herrschte, und dem Fürstenhof von Ottar Illuge nördlich des Häßlichen Gebirges. Die beiden Geschlechter bekämpften einander wie Bestien und waren Feinde auf Leben und Tod. Die Leute des Jarls hielten am nächsten Wegzeichen beim Rabenberg Wache, so nahe, daß Ravna Pferdewiehern hören konnte, wenn eine neue Mannschaft die Böschung heraufgeritten kam. Die Illuger bewachten eine steile Felsenkluft, die zum Häßlichen Gebirge hinaufführte. Jeden Abend, wenn die Sicht klar war, konnte man sie sehen, am besten, wenn der Mond schien. Die beiden feindlichen Gruppen trafen oben in den Bergen und ab und zu auch auf dem Fjord im Kampf aufeinander. Die Blutrache hatte vor neun Jahren in einer klaren Vollmondnacht begonnen, als die Illuger den ältesten Jarlssohn Eirik mit dem Schwert getroffen hatten und ihm den Todesstoß gaben. Der Jarl rächte sich fürchterlich, indem er zwölf von Ottar Illuges besten Männern bei lebendigem Leibe verbrannte.

    Als Ravna noch ganz klein war, hatte sie einmal Kumba gefragt, warum es zwischen den beiden mächtigsten Familien im Land immer Kampf gab. Damals lebte sie noch unten auf dem Jarlssitz. Sie saß eng an die alte Sklavin geschmiegt und spürte, wie ein Zittern durch deren Körper ging. Weit draußen auf dem Fjord war der Lichtschein eines brennenden Schiffes zu sehen.

    »So ist es immer gewesen«, sagte Kumba. »So wird es immer sein. Das Menschengeschlecht hat zu allen Zeiten nach Blut gedürstet.«

    »Kommen sie hierher?«

    Kumba hieß sie leise sein. »Bleib ruhig, kleine Ravna. Sie kommen nicht hierher. Dieses Mal nicht.«

    Kumba hielt sie in ihren Armen. Noch immer zitterte sie. Ravna hörte heisere Schreie und den Schlag schwerer Waffen. Sie konnte Männer erkennen, die wie lebende Fackeln vom brennenden Schiff sprangen, bevor sie in der Meerestiefe verschwanden. Der Rauch stieg wie eine Säule gegen den bleichen Nachthimmel.

    »Mach die Augen zu«, sagte Kumba. »Hör dir lieber eine schöne Sage aus meiner Heimat, dem Frankenland, an. Aber bald muß ich gehen, denn Kumba ist nie Herrin ihrer Zeit.«

    Sie tat, wie Kumba ihr gesagt hatte, und lauschte der Sage. Die handelte von einem mutigen Helden, der die fränkische Königstochter davor rettete, Beute eines Drachen zu werden. Kumba summte und sang in ihrer eigenen Sprache. Das Rabenmädchen versuchte die Augen zu schließen, schaffte es aber nicht. Draußen auf dem Fjord sank das brennende Schiff. Kalte Schauer durchzogen sie, denn wenn es das Schiff der Illuger war, das brannte, würden diese eines Tages wiederkommen und Rache fordern.

    *


    Das Mädchen mit den rabenschwarzen Haaren stand mit der Sonne auf. Sie legte ein paar Zweige auf die Feuerstelle und brachte das Feuer wieder zum Brennen. Sie kaute langsam ein wenig Brot und kippte ein Gebräu in sich hinein, das aus Brennesseln und Wurzeln gekocht war. Dann zog sie warme Kleidung an. Zuerst eine Jacke aus Wolle, dann Beinkleider, eng geschnürt, darunter Birkenrinde. Ihre Stiefel waren aus Rentierleder, der Umhang ein leichtes, weiches Luchsfell mit Kapuze. Eine Wollmütze bedeckte fast ihr ganzes Gesicht. Sie hängte sich den Pfeilköcher über den Rücken, band den Gürtel mit dem scharfen Messer um und ging aus der Tür.

    Bereits seit sie sieben Winter alt war, konnte Ravna gut jagen. Sie war ein Meisterschütze mit Pfeil und Bogen, ihre Augen waren scharf wie die eines Wildvogels. Schon weit entfernt entdeckte sie ihre Beute, schoß Hasen, Füchse und anderes Kleinwild und traf fast immer. Es kam vor, daß sie auf Rentiere oder Hirsche traf. Auch die wären mit einem schnellen Pfeil niederzustrecken gewesen, aber sie ließ die Tiere laufen. Eine so große Beute war nicht allein zu tragen. Außerdem hatte sie Angst, daß Wölfe kommen würden, sobald sie das Blut eines großen Wildes röchen. Das Rabenmädchen mühte sich vorwärts. Der Schnee hatte noch keine großen Wehen gebildet, bisher lag nur eine leichte Decke auf dem Boden. Wie oft schon verfluchte sie die Götter, daß sie es mit ihrem Körper so schwer hatte. Schultern und Rücken waren schief, und das eine Bein wollte ihr nicht immer gehorchen. Unterwegs blieb sie oft stehen. Der Wind heulte und wirbelte den Schnee in wilden

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