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Befreiung
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Befreiung

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Über dieses E-Book

In diesen vier miteinander verflochtenen Erzählungen geht es um Menschen, die sich aus selbst geschaffenen Zwängen befreien wollen: Ein Verleger, der die Hälfte seines Besitzes an seine Angestellten verschenkt, um Maler zu werden. Zwei Frauen, die den aus ihrer Bildungslosigkeit resultierenden sozialen Zwängen entkommen wollen. Und ein Richter, der sein Gehör verliert, als er erkennt, dass er die Gitter vor seinen Fenstern selbst angebracht hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum1. Sept. 2015
ISBN9783990470350
Befreiung

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    Buchvorschau

    Befreiung - Ernst Brauner

    Haus

    Befreiung

    Alles anders

    An seinem 50. Geburtstag beschloss mein Freund Joseph, dass »alles« »anders« werden müsste. (Ich sage hier leichtfertig »Freund«, aber ob ich wirklich sein Freund war oder er der meine, muss sich erst herausstellen.)

    Zuerst tauschte er das ihm in seinen Dokumenten mitgegebene zeitbedingte »ph« gegen ein modernes »f« – statt Joseph schrieb er sich fortan Josef. Dann verließ er seine Frau und seinen inzwischen fast zwanzig Jahre alten Sohn und zog zu Alexandra, die sich Alex nannte. Und dann übertrug er, »verschenkte« er die Hälfte seiner Firma, genauer gesagt fast die Hälfte oder noch genauer: 49 Prozent an seine Mitarbeiter, seine bisherigen Angestellten, die jetzt seine Miteigentümer wurden. Und dann begann er wieder zu malen. So fügte sich, gleichsam selbstverständlich, alles zu einem neuen Ganzen.

    Dieses »dann« »dann« »dann« spielte sich nicht über einen längeren Zeitraum hinweg ab, sondern ereignete sich tatsächlich innerhalb weniger Tage. So war denn auch, wenn er einerseits zu Alex zog, mit der er erst seit einigen Tagen schlief, und andrerseits »wieder zu malen begann«, Letzteres in dem kleinen Untermietzimmer, das sie bewohnte, nicht wirklich gedeihlich. Also blieb er nur wenige Tage, genau gesagt zwölf Tage bei ihr, bis er wieder davonzog, hinaus aufs Land, in einen kleinen Weiler nahe Grafstetten, wo die von flacher Ebene ins Hügelige changierende Landschaft genug Anregung oder besser gesagt Anregungslosigkeit bot, um seinen Pinsel gleichsam von selbst über die Leinwand fahren oder »toben«oder fast meditativ gleiten zu lassen. Und so kam es, allein schon durch die räumliche Distanz, schnell auch zu einer körperlichen Trennung zwischen seiner neuen jungen Freundin und ihm. Kurz gesagt: Kaum dass diese Liebe – oder war es wieder nur eine »Beziehung«? – begonnen hatte, war sie auch schon wieder zu Ende. Oder doch nicht zu Ende … denn alle zwei oder drei Wochen kam Alex zu Besuch in seine Klause bei Grafstetten oder er verirrte sich (flüchtete?) in die Stadt, zu Alex und ihrer Wärme und Zärtlichkeit.

    Wenn man es allerdings genau betrachtet, so standen diese scheinbaren Unvereinbarkeiten in einem zwingenden Zusammenhang, der sich aus Josefs (oder Josephs?) bisherigem Leben ergab. Bis zu dem Augenblick, als Alexandra, Alex also, in sein Arbeitszimmer trat.

    Den von seiner Sekretärin mit Alex vereinbarten Termin hätte er am liebsten platzen lassen, weil ihm das Ganze eher lästig war, aber er konnte, wie seine Sekretärin ihn überzeugte, der Sache nicht ausweichen, es sei »wichtig«. Für ihn oder besser gesagt für die »Firma«. Diese hatte Joseph gerade offiziell übernommen, obwohl er sie ja de facto schon seit Jahren allein geführt hatte. Ein Interview also, in einer für ihn (oder für die »Firma«) wichtigen Tageszeitung. »Der Mann der Woche« sollte das heißen. Und dass die Zeitung zu diesem Interview eine sichtlich sehr junge Journalistin geschickt hatte, Alexandra eben, lag wiederum daran, dass die ganze Angelegenheit in Wahrheit auch für dieses Blatt ziemlich uninteressant war, es sich ihr aber aus bestimmten Gründen nicht entziehen konnte. So schickte die Zeitung irgendeine junge Anfängerin. Und diese, von Joseph mit Missvergnügen erwartet, kam jetzt in sein Büro, betrat sein Arbeitszimmer.

    Sie war hübsch, ausgesprochen hübsch sogar, das machte die Sache zumindest angenehmer. Und dass sie intelligent zu fragen verstand, über den Anlass hinaus das Gespräch in die Nähe einiger nicht ungefährlicher Klippen führte, ließ ihn diese junge Person erst richtig bemerken. Sein Interesse war geweckt, und auch das ihre.

    Es war also keineswegs so, dass nur sie ihn befragte. Vielmehr kam es dazu, dass er Fragen stellte, um etwas über ihr Leben zu erfahren. Aber wie bei solchen Begegnungen üblich, bewegt sich das meiste ja doch auf der Oberfläche. (In die Tiefe gekratzt wird erst später, so es ein »Später« gibt.)

    Sie war noch keine dreißig. (Mein Freund Joseph damals schon fünfzig!) Zur Zeitung, die sie zu ihm geschickt hatte, war sie eher auf Umwegen gelangt und leider nicht einmal »definitiv«. Keine fix angestellte Redakteurin, sondern bloß »freie Mitarbeiterin«, nur von Fall zu Fall herbeigerufen und beschäftigt, so wie eben auch für dieses Interview. Studiert hatte sie Soziologie (was sonst?) und vor zwei Jahren hatte sie promoviert. Ihr Dissertationsthema? »Geschlechtsspezifische Akzeptanz von Printmedien«. Also jedenfalls ein Thema, bei dem es um Zeitungen ging, sodass ihr Weg sie nicht zu einem ursprünglich geplanten Ziel führte (in die Forschung?, in die Politik gar?), sondern erst einmal zu einer Zeitung. Und da saß sie jetzt dem »Mann der Woche« gegenüber, den sie interviewen sollte, für ein erbärmliches Zeilenhonorar.

    Der Mann der Woche aber hatte sich zu versehen, dass nicht zu ihr gelangte, was keineswegs für eine Zeitung bestimmt gewesen wäre, etwa dass er mit seiner Firma viel Geld verdiente (nun ja: wenn schon nicht »viel«, so immerhin »genug«), aber zweifellos auch viel Unheil anrichtete; und dass er das alles gar nicht selbst gewählt, gewollt und betrieben hatte (das Geldverdienen wie das Unheilanrichten). Weil ihn in all das, zumindest anfangs gegen seinen Willen, sein Vater hineingeritten, hineingezwungen hatte. Denn für sich hatte Joseph ja einen anderen Lebensweg erträumt: als Maler. An die Kunstakademie hätte er gewollt – das hatte ihm sein Vater freilich gründlich ausgeredet, »ausgetrieben« … wie sollte einer »davon« leben können! An die Uni also, Jus natürlich! Wo Joseph dann auch pünktlich alle Vorlesungen belegte, aber zu keiner einzigen Prüfung antrat, während sein Vater für Josephs gesamten damaligen Lebensunterhalt aufkam, inklusive Josephs früher Heirat, eigener Wohnung und frühem Kind – natürlich in der falschen Erwartung, dass Joseph demnächst sein Studium beenden würde, während der ja in Wahrheit nur an seinen Bildern herumkleckste.

    Bis die Sache, die zum Himmel stank, weil schon alle davon wussten, endlich auch dem Alten zu Ohren kam, in die Nase stank, in seinem Gehirn, seinen Gedärmen, seinem Herzen brannte. Und er dem Jungen alle Gelder zu streichen drohte, »wenn der nicht …«, keinen Groschen mehr für die Wohnung, »wenn nicht …«, und er mit Frau und Kind also auf der Straße säße, »wenn nicht …« – Nein, Held war mein Freund Joseph keiner, nicht einmal ein Künstler zu sein, traute er sich wirklich zu. Aber einer, den alle Menschen liebten, war er, wo immer er auftauchte. Und einer, der immer einen Weg fand, mit Schwierigkeiten fertigzuwerden. Und dieses »Wenn nicht« des Vaters war ja auch gar nicht so schlimm, er sollte nur kurzerhand in des Vaters Firma eintreten und dort arbeiten, bis er sie eines Tages würde übernehmen können – was schließlich auch passierte, nachdem Joseph (wie schon gesagt und allgemein bekannt) sie nun schon seit Jahren allein geführt hatte, bis er dann mit dem Tod des Vaters zum »Mann der Woche« wurde. So war es zu diesem Interview gekommen.

    Und jetzt saßen die beiden einander gegenüber: sie, die Fragen stellte, denen er auswich, und er, der die Interviewerin erkunden wollte; die mittellose Vollakademikerin und der wohlhabende Studienabbrecher. Sie, die in ihr Leben wollte. Und er, der sich im falschen wusste.

    Die Krakenarme der Vergangenheit

    Wie falsch dieses war, Josefs oder Josephs bisheriges Leben, lag an der Firma, die sein Vater gegründet und aufgebaut hatte. Und das hatte mit Bratislava zu tun, das früher Preßburg hieß und gleichzeitig Pozsony, wo einst die Könige Ungarns gekrönt worden waren und wo es heute viele Fabriken und hässliche Plattenbauten gibt, aber aus früheren Zeiten ein Theater, an dem damals der ehemalige Zahnarzt und später berühmt-berüchtigte Bühnenzauberer Georg Megerle von Mühlfeld gewirkt hatte. In diesem Preßburg oder Bratislava nämlich war Josephs Vater, der wie der Sohn hieß, Joseph Karmanski also, geboren worden und aufgewachsen. Und hier war der nicht nur zu Vermögen, sondern auch zu einem nie geklärten zweifelhaften Ruf gekommen. Was aber nichts mit dem damals schon hundert Jahre toten Theaterdirektor Megerle von Mühlfeld zu tun hatte, sondern vielmehr mit keinem Geringeren und keinem Schlimmeren als Adolf Eichmann, dem Schreibtisch-Judenschlächter.

    Josephs Vater, der damals noch junge Karmanski, hatte trotz seiner Jugend eine führende Position in der deutschen Landsmannschaft inne, deren Vertretung ganz offiziell die NSDAP war. Da war soeben das Sudetenland »heim ins Reich« geholt worden, die restliche Tschechoslowakei zerschlagen und unter dem strammen Deutschenfreund Tiso als selbstständige Slowakei auf die Bühne der Nazi-Satelliten getreten. Und der alte, damals noch junge Joseph Karmanski in der ersten Reihe.

    Natürlich hatte er gewusst, dass die Juden mit nicht mehr als einem kleinen Köfferchen aus ihren Wohnungen geschleppt und in finstere Viehwaggons gestopft wurden. Natürlich hatte er gewusst, wohin diese menschlichen Viehtransporte gingen. Dass er geholfen hätte, sie zu organisieren und mit Menschen zu füllen, war nach dem Krieg Gegenstand eines gegen ihn angestrengten Kriegsverbrecherprozesses, konnte aber nie bewiesen werden, und so verließ er das Gericht nach zwei Jahren Untersuchungshaft als freier Mann. Gewiss auch hätte er weder die Verhaftungen noch die Transporte verhindern können. Aber dass er nicht versucht hatte, die Bedrohten rechtzeitig zu warnen, um ihnen eine Flucht zu ermöglichen, bleibt unbestritten. Und unbestritten ist auch, dass diese Nicht-Gewarnten, Bedrohten, Verschleppten

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