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Werkausgabe Ernst Brauner / Theater
Werkausgabe Ernst Brauner / Theater
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eBook392 Seiten4 Stunden

Werkausgabe Ernst Brauner / Theater

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Über dieses E-Book

Ernst Brauner schreibt:

„Wie bei allen jungen Menschen begann das Schreiben mit Gedichten. Die sollten in einer Zeitung publiziert werden. Aber: ‚Alles – nur keine Zeitung!' Da war ich 18. Später arbeitete meine erste Frau beim eben gegründeten österreichischen Fernsehen. Das war damals für mich noch schlimmer als eine Zeitung. Also: ,Alles – nur kein Fernsehen!' Doch durch neue Freundschaften kam ein Theaterstück, das ich eben geschrieben hatte (Das Kreuz), nicht auf eine Bühne, aber ins Fernsehen. Und dann gleich ein zweites, zum Opernlibretto mutiert, wieder ins Fernsehen (Der Kardinal).

Und wieder über einen Freund, der Dramaturg im Wiener Theater in der Josefstadt war, gelangte mein nächstes Theaterstück in eine Schreibtischlade dieses Theaters. Zu einer Aufführung kam es zwar nicht, aber von einem Bühnenverlag wurde es angenommen und herumgereicht und dann auch in einem Buchverlag gedruckt: Oratorium für Wölfe. Realiter spielt das Stück zwischen den Gräueln des Dreißigjährigen Kriegs und dann – fiktiv – als eine Alternative, die in der Geschichte niemals zustande kam und leider wieder vermutlich „realiter“ nie zustande kommen wird. Und auch in meinem nächsten Theaterstück Wir, Kaiser von Haiti geht es vordergründig um einen historischen Ablauf in einem einst tatsächlich existierenden karibischen Kaiserreich, in dem sich alles so ereignet hat wie später und heute in den Pseudodemokratien und Defacto-Diktaturen der jungen, eben den kolonialistischen Ausbeutungen entronnenen Staaten Schwarzafrikas.

Ebenso spielt sich in Rosenbaum, König der Juden eine besonders schlimme, durch alle Zeiten hinweg wirkende Apokalypse ab: wie Opfer zu Tätern werden … auf dem unvermeidlichen Geschichtsweg von Auschwitz zu den Gemetzeln von Sabra und Shantila, im Libanon, nahe der israelischen Grenze.

Und auch bei anderen meiner Theaterstücke wie in den viel später geschriebenen Goethe- und Ovid-Paraphrasen Philemons Sohn geht es um Apokalypsen – oder um Parallelwelten.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum6. Okt. 2016
ISBN9783990470572
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    Buchvorschau

    Werkausgabe Ernst Brauner / Theater - Ernst Brauner

    Juden

    DAS KREUZ

    Schauspiel in 3 Akten und 5 Bildern

    Personen:

    Lucien

    Rocky Morone

    Der Pfarrer

    Debres, ein ehemaliger Richter

    Luigi

    Jacques

    Giaffino

    Mariuccia, eine Stumme

    Ein Alter

    Ein Betrunkener

    Eine Frau

    Männer, Frauen, »Jünger«, Kinder

    Das Stück spielt auf Korsika, um die Osterzeit.

    ERSTER AKT

    1. Bild

    (Erhöhter Platz im Dorf. Hinten die Kirche, links und rechts, bereits an den abfallenden Flanken des Hügels, verhältnismäßig hohe, schmale Häuser, wie auch die Kirche aus rohen, nur notdürftig übertünchten Mauern; nur die Fensterläden leuchten blau – blau wie der tiefe Himmel über diesem grauen Stein. Es ist seltsam mit diesem Platz: Menschen können hier mitten im warmen, strahlenden Licht der Sonne stehen, sich strecken und regen und lachen, und sind doch immer wie zwischen den Mauern eines Gefängnisses, dem sie nie entrinnen. – Vor der Kirche stehen zwei hölzerne Kreuze, wie man sie von Bildern der Passion Christi kennt; ein drittes in der Mitte, ist eben von zwei Männern aufgerichtet worden und wird noch gehalten. Die beiden Männer sind LUIGI, ungefähr 50, und JACQUES, ungefähr 20 Jahre alt, zwei Zimmerleute. Vor ihnen steht DEBRES, ein pensionierter Richter. Links an der Hauswand lehnt GIAFFINO, ein jüngerer Polizist, und sieht misstrauisch zu.)

    LUIGI: Jedes Jahr wird es größer, das Kreuz, und schwerer. Ich möchte wissen, warum!

    DEBRES: Warum? Das muss so sein! Noch etwas nach rechts, Luigi!

    LUIGI: (verschiebt das Kreuz mit Jacques) Etwas nach rechts, etwas nach links, weiter vor, weiter zurück! Wozu soll das gut sein? Wir tragen es ohnedies wieder weg!

    DEBRES: Du verstehst nichts von der Kunst, Luigi. Warst du schon einmal im Theater?

    LUIGI: Nur im Kino!

    DEBRES: Eine ordentliche Premiere braucht eine harte Probe! Applaus kostet Schweiß!

    LUIGI: Theater, Herr? Das ist kein Theater! Wir brauchen keinen Applaus!

    DEBRES: Schon recht, mein Freund. Ihr braucht keinen Applaus! Aber das Geld steckt ihr ein, das die Fremden dalassen! Wie war das, bevor ich gekommen bin? Ein simples Spiel – nicht mehr! Und eine Gelegenheit, sich nachher zu besaufen und Händel zu suchen! Eine schöne Passion! Genau so wird der da oben es sich vorgestellt haben!

    GIAFFINO: Glauben Sie, so hat er sich’s vorgestellt, wie Sie es aufziehen? Golgatha zu mäßigen Preisen! Wenn möglich mit Wochenschau und Fernsehen!

    DEBRES: Oh, er hat nichts dagegen, wenn Geld ins Haus kommt! Und es kommt Geld ins Haus, auch in seines! Vor zehn Jahren tauchten die ersten Fremden auf. Ich habe sie eingeladen, ich persönlich! Und seither kamen jedes Jahr ein paar Hundert mehr. Ihr habt einen Ruf bekommen! Und drei Kreuze im Fremdenführer!

    LUIGI: Schon recht Herr, wir sagen ja nichts mehr! (Rückt das Kreuz) Steht es so gut?

    DEBRES: Lass stehen! Prächtig! Wie auf einem Gemälde!

    JACQUES: Ist es wahr, dass ein Krimineller kommt? Ein richtiger Schwerverbrecher?

    GIAFFINO: Ja, einer, den die Polizei auf der ganzen Welt jagt! Ein Vieh, eine bluttriefende Bestie – aber hier wird er mit allen Ehren empfangen werden. Wie ein gekröntes Haupt! Wie der Heilige Vater selber!

    DEBRES: Und du musst dabeistehen, mein Junge, was? Und die Handschellen zwicken dich in der Tasche, und der Revolver juckt dir in der Hand, ha ha!

    GIAFFINO: Ich muss mich über Sie wundern, Herr! Sie waren doch auch einmal Rechtsanwalt oder so etwas!

    DEBRES: Richter, mein Junge! Fünfundzwanzig Jahre lang! Zuerst in Paris und dann in eurem verfluchten Ajaccio!

    GIAFFINO: Richter! Und da finden Sie das in Ordnung, was hier jedes Jahr vorgeht? Finden Sie das im Sinne der Gerechtigkeit?

    DEBRES: Es ist das Vorrecht der Pensionisten, sich an ihrem alten Beruf zu rächen. Was aber dich betrifft, so sprichst du das Wort Gerechtigkeit wirklich leichthin aus! Wenn du das meinst, was in unseren Gesetzbüchern steht, so habe ich – dem Himmel sei Dank! – nichts mehr damit zu schaffen – das heißt höchstens passiv wie jeder andere Staatsbürger auch. Wenn du aber jene Gerechtigkeit meinst, die riesengroß hinter all den Büchern hockt, die unnahbare, geheimnisvolle … – so muss ich dir sagen: Sie ist mir unheimlich. Ich will nichts von ihr wissen! (Deutet auf das Kreuz) Und auch er hielt nicht viel von ihr! Er starb – und brachte Gnade in die Welt statt Gerechtigkeit!

    GIAFFINO: Worte, Herr, schöne Worte! Aber hohle Worte! Man weiß, dass Sie ein Atheist sind, ein Gottesleugner, der die Kirche nur betritt, um mit dem Pfarrer in der Sakristei eine Partie Karten zu spielen!

    DEBRES: Oh, oh, oh! Im Übrigen – was willst du? Er gewinnt ohnedies immer! Ich nehme ihm nichts! (Deutet zum Kreuz) Ich nehme ihm auch nichts! Im Gegenteil: Ich bemühe mich sogar um mehr Glanz für sein Spiel! Mit dem nötigen Abstand, versteht sich! Den braucht man – das ist ein Stilprinzip, eine klassische Regel!

    GIAFFINO: Ach was, Sie drehen es, wie Sie es brauchen! (Er schlendert ärgerlich davon.)

    LUIGI: (schlägt auf das Kreuz) Können wir es jetzt niederlegen?

    DEBRES: Ja, aber markiert euch zuerst den Platz! Und dann grabt ein wenig auf, damit es morgen schnell geht!

    LUIGI: (Kratzt mit den Füßen eine Markierung) Graben! Wir sind Zimmerleute, keine Totengräber! (Zu Jacques) Heb an! (Sie legen das Kreuz gemeinsam auf den Boden) Warum scharrt er sich das Loch für sein Kreuz nicht selber?

    DEBRES: Ein wenig Zuvorkommenheit kann nie schaden. Wir wissen ja auch gar nicht, wer er sein wird …

    JACQUES: Also – ich verstehe noch immer nicht ganz …

    LUIGI: (zu Debres) Er ist erst vor drei Tagen herübergekommen. Aus Nizza!

    DEBRES: Oh, Nizza! Monte Carlo! Das Kasino, die Nelkenfelder und die schönen Frauen, die eleganten Frauen! Was zum Teufel, mein Junge, haben Sie da bei uns verloren? Bei unseren schmierigen Weibern! Bei unseren grauen Mauern! Bei unseren stinkigen Schafen und dürren Krämern!

    JACQUES: Sie zahlen guten Lohn! Und man spart hier leichter! Ich will mich nämlich selbstständig machen – später!

    DEBRES: Selbstständig! Was für ein Wahn! Und dafür lässt er Nizza, das Lachen, die Liebe … Oh, mein armer, verblendeter Freund!

    JACQUES: Sie leben auch hier!

    DEBRES: Am Ende, mein Freund, am Ende eines nicht ganz unlustigen Lebens, aber nicht in selbstverschuldeter Verbannung! Aber ich bereue nichts! Außerdem habe ich hier eine Aufgabe gefunden! Sie werden sehen – morgen!

    JACQUES: Morgen! Seit ich hier bin, reden alle in Andeutungen davon, aber keiner rückt offen mit der Sprache heraus!

    DEBRES: Oh, das sieht ihnen gleich, diesen dummen Hirten und Ölquetschern! Sie sind abergläubisch wie alte Marktweiber …

    LUIGI: Haben wir dir nicht gesagt, dass wir eine große Prozession machen: mit einem Herrn Christus und allen Jüngern, und dass wir ein Kreuz aufstellen? Hier das dritte in der Mitte?

    DEBRES: Aber das Kreuz trägt nicht euer Herr Christus, sondern ein Sünder, einer von dem man es weiß, dass er es ist: ein waschechter Galgenbruder, mit einem Wort!

    LUIGI: (zu Jacques) Haben wir dir das nicht gesagt?

    DEBRES: Und der Kerl hat sozusagen freies Geleit. Er taucht irgendwo auf der Insel auf, kommt hierher, trägt das Kreuz und verschwindet wieder, ohne dass einer einen Finger rührt, ihn zu fassen.

    JACQUES: Aber ich begreife nicht …

    DEBRES: Oh, ich sagte dir doch, sie sind abergläubisch. Wenn sie schon keinen echten Christus haben, wollen sie wenigstens einen echten Barrabas. Für sie kommt es auf eins heraus: Wo Christus, ist auch Barrabas, und wo ein Barrabas, wird wohl auch ein Christus sein!

    LUIGI: Es ist eben ein alter Brauch, sonst nichts!

    DEBRES: Analysen liebt man hier nicht, wie Sie sehen. Vielleicht weil Analysen immer etwas Zynisches an sich haben – je besser sie sind, desto mehr davon. Und den Zynismus haben diese Bauern noch nicht entdeckt: Sie schmecken ihn genauso wenig auf der Zunge wie eine teure Sauce aus erlesenen Zutaten. Sie wollen ihr Hammelfleisch und ihren trockenen Käse! Besser verstehen sie es nicht!

    LUIGI: (halsstarrig) Es ist der Brauch so!

    DEBRES: Ja, vor hundert Jahren oder länger fing es an. Da kamen die Tollköpfe, die ihrem Nachbarn aus Familientradition die Gedärme aus dem Leib gerissen hatten, aus ihren Verstecken in den Bergen herunter, und man ließ sie ihr Kreuz tragen. Das war immerhin so etwas wie eine ritterliche Geste. Aber später tauchte dann alles mögliche Gesindel auf: die Diebe und Halsabschneider von der ganzen Insel. Weiß der Henker, was sie hertrieb. Jetzt kommen sie schon vom Festland herüber, Jahr um Jahr. Beim Pfarrer sind sie bereits auf zehn Jahre voraus angemeldet. Und wir könnten pro Jahr ein Dutzend Barrabase haben. Und jeder lässt ein paar tausend Franc in der Sakristei, verstehen Sie das?

    JACQUES: Und die Polizei?

    DEBRES: Schaut an diesem Tag besser zur Seite! Einmal, vor zehn Jahren, versuchte sich solch ein uniformierter Tölpel dabei, einen Stern zu verdienen. Dem haben sie aber übel mitgespielt! Lag nachher zwei Wochen im Spital und kam auch nicht wieder hierher zurück. Sie haben ihn versetzt, von Ajaccio aus!

    JACQUES: Von Ajaccio aus?

    DEBRES: Natürlich! Glaubst du, die sind auf dem Kopf gefallen? Ein Barrabas beim Fest gefasst und nie wieder ein Barrabas in der Grube! Nein, sie lassen ihn hinaus, aber heften sich an seine Fersen. Meistens sind die Halunken zwar doch schlauer und verschwinden, als hätte sie der Erdboden verschlungen. Manchmal aber erwischt man doch einen – Monate nachher!

    LUIGI: Weil sie sich erwischen lassen! Weil sie das Kreuz, das sie auf den Schultern gespürt haben, zu Ende tragen wollen …

    DEBRES: Vielleicht! Jedes Ding hat immer viele Seiten – auch für uns Realisten!

    (Während des Folgenden kommt MARIUCCIA, ungefähr 30 Jahre alt, eine Frau von verwilderter und bereits verloren gehender Schönheit, in einem grellroten Kleid, einen Wasserkrug auf dem Kopf. Bei den Kreuzen bleibt sie stehen, nimmt den Krug ab, lehnt sich rastend an das eine Kreuz und sieht JACQUES unverwandt an.)

    DEBRES: (fährt fort) Dein Kreuz zum Beispiel, Luigi! Wie leicht hätte es ein Sarg werden können oder eine Wiege! Aber es ist ein Kreuz geworden. Und in einer Woche wird Mariuccia es vielleicht zersägen und in ihren Herd werfen, um einen ihrer Liebhaber mit einem guten Essen zu ermuntern!

    LUIGI: (fährt Mariuccia an) Musst du gerade da herumstehen?

    MARIUCCIA: (gibt keine Antwort und sieht Jacques weiter unverwandt an)

    DEBRES: Warum schreist du sie an? Warum soll sie nicht hier stehen? Sie macht sich sogar sehr dekorativ! Wartet einmal – vielleicht können wird das für morgen verwerten! Maria Magdalena unter dem Kreuz! Maria Magdalena! Ha ha ha!

    LUIGI: Was gibt’s da zu lachen, Herr?

    DEBRES: Schau, wie sie deinen Kameraden anstarrt! (Zu Jacques) Sie verschlingt Sie mit den Augen. Und unter uns gesagt: sie ist noch eines von den reinlichsten Weibern hier. Aber sie ist stumm!

    JACQUES: Oh –!

    DEBRES: Sie gefallen mir! Für einen bunten Fetzen Stoff oder ein paar Nylons tut sie Ihnen, was Sie wollen! Sie ist gar nicht spröde, das Luder! (Er fasst sie am Arm)

    MARIUCCIA: (schüttelt Debres’ Hand ab, ohne hinzusehen, und lächelt Jacques an)

    LUIGI: (ergreift Mariuccias Krug und drängt ihn ihr auf) Mach, dass du jetzt fortkommst!

    (MARIUCCIA nimmt den Krug und verschwindet in das Haus rechts)

    LUIGI: (zu Debres) Sie sollten nicht so viel von ihr reden!

    DEBRES: Warum nicht? Habt ihr etwas für sie getan? Hat einer von euch ihr zum Fressen und Anziehen gegeben? Ihr habt sie alleine stehen lassen, wie sie sich fortbringt. Nun, sie hat sich fortgebracht, so gut sie konnte.

    LUIGI: Man redet wenigstens nicht darüber!

    DEBRES: Große Warenhäuser bezahlen einen eigenen Werbechef, damit er ihre Artikel unter die Leute bringt. Warum sollte Mariuccia etwas dagegen haben, wenn man ein wenig Propaganda für sie macht? – Maria Magdalena unter dem Kreuz – das finde ich ausgezeichnet. Ein echter Barrabas, eine echte Maria Magdalena – das muss ich unserem Pfarrer schmackhaft machen!

    JACQUES: Ist sie seit Geburt stumm?

    LUIGI: Nein!

    DEBRES: Das ist eine von vielen blutigen Geschichten dieser Insel. (Zu Luigi) Erzähl sie ihm!

    LUIGI: Erzählen Sie selber, Herr! Das ist doch Ihr Ressort!

    DEBRES: (zu Jacques) Haben Sie schon von Morone gehört?

    JACQUES: Von Morone …?

    DEBRES: In Amerika nennen sie ihn Rocky! Er hat eine internationale Karriere gemacht, die Zeitungen schreiben jedes Jahr von ihm!

    JACQUES: Rocky … Rocky Morone … Jetzt erinnere ich mich!

    DEBRES: Ein veritabler Gangster, auf den drüben der elektrische Stuhl wartet!

    LUIGI: Wenn sie ihn erwischen!

    DEBRES: (zu Jacques) Merken Sie, man hat hier seinen Lokalstolz! Morone ist nämlich von hier! Hier begann er seine Laufbahn! Vor fünfzehn Jahren gab es da einen Sonderling im Ort, einen verrückten Alten, Parrault mit Namen. Wollte einmal nach Kupfer graben. Dann wieder eine Spinnerei bauen. Hatte immer tolle Pläne im Kopf und viel Geld in der Lade. Jawohl, Geld und Schmuck, man hat’s bei ihm gesehen! Eines Morgens fand man ihn dann mit eingeschlagenem Schädel. Und Morone fort, mit ihm das ganze Geld und die Steine.

    JACQUES: Und Mariuccia?

    DEBRES: Ach ja, Mariuccia …! Bevor Morone verschwand, gab er noch eine Vorstellung, hier auf dem Platz. Ich habe es ja nur erzählen hören, aber du warst doch dabei, Luigi … So rede doch!

    LUIGI: Ja, also … es war Sonntag. Wir wollten gerade in die Kirche und stehen noch so auf dem Platz herum. Da taucht Morone auf – die Geschichte mit Parrault war noch nicht entdeckt – und geht auf Mariuccia zu, die damals noch ganz jung war, mit langem, dickem, schwarzem Haar, und sie trug es offen wie heute, verstehst du? Morone geht also auf sie zu, ganz ruhig, wie auf dem Tanzboden, plötzlich fährt er mit einer Hand in ihr Haar und wickelt es blitzschnell um sein Handgelenk, dass es ihr den Kopf hochreißt …

    JACQUES: Und …?

    DEBRES: … in der anderen Hand schwingt der Kerl ein Messer und schneidet ihr den Hals durch. Wie einem Huhn, mit einem einzigen Schnitt.

    LUIGI: Bevor wir noch begriffen hatten, was geschehen war, war er schon fort. Mariuccia lag da – in einer Lache Blut – mit aufgerissenen starren Augen. Wir dachten, jetzt ist sie tot, aber sie röchelte noch!

    DEBRES: Es muss ein Wunder gewesen sein, doch man brachte sie noch lebend ins Spital. Der Schnitt war zwar durch die ganze Kehle gegangen. Aber sie nähten sie irgendwie zusammen. Nur die Stimme war verloren. Und noch etwas … (Er deutet sich an den Kopf) Man sagt der Schock …!

    JACQUES: Entsetzlich!

    DEBRES: Oh, das ist nur eine kleine Episode! Es gibt noch viel blutrünstigere Geschichten hierzulande! Aber die Sonne scheint über Gute und Böse, golden und warm. Und der Himmel – schau ihn die an, mein Kleiner, wie tief und blau er ist – der zuckt mit keiner Braue! Und da heißt mich dieser gelbe Hohlkopf Giaffino einen Atheisten! Als ob man eine andere Wahl gehabt hätte! Glaube mir, was Bestand hat, ist immer nur die Dekoration. Darum spielen wir morgen die Passion. Und es soll eine schöne Prozession werden! Mit einem echten Sünder unter dem Kreuz, in einer grellroten Kutte, dass es euch kalt über den Rücken läuft, selbst den Fremden, die dafür bezahlen. Und diese Bilder, die euch schaudern machen, sind auch wahrhaftig das Einzige, was wir von Gott verstehen können!

    (In diesem Augenblick hört man laute Rufe von links, die zum Gebrüll einer großen Menschenmenge anschwellen. Dazwischen hört man Detonationen kleiner Böller. Männer, Frauen Kinder laufen von rechts nach links über die Bühne, dem Erwarteten entgegen.)

    JACQUES: Was ist das?

    EINE FRAU: (läuft mit zwei Kindern an der Hand vorbei) Er ist da!

    DEBRES: Wer?

    DIE FRAU: Er!

    DEBRES: Zum Teufel …!

    DIE FRAU: Er wirft Geld unter die Kinder! Kommt! (Zerrt die Kinder mit sich davon)

    (Von rechts kommt LUCIEN, der Lehrer, ein junger Mann von ungefähr 30 Jahren, von DEBRES mit Spott begrüßt.)

    DEBRES: Wo ist Ihre Klasse, Lucien? Ich dachte, Sie rückten mit allen Ihren Schülern zum Empfang aus, die Burschen gewaschen, die Mädchen im weißen Kleid mit Blumen auf dem Arm. (Zu Jacques) Das ist unser Lehrer, wissen Sie! (Zu Lucien) Haben Sie kein frommes Lied zur Begrüßung einstudiert?

    LUCIEN: (zitiert) »Viel Volks breitete die Kleider auf den Weg. Die anderen hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna!«

    DEBRES: Ja – aber sie schreien es nicht mehr dem Erlöser, wie damals. Sie schreien es dem Schächer, dem Erzverbrecher, dem Massenmörder! – Hosianna! Hosianna!

    (Währenddessen kommt von links ROCKY, in weißem Anzug und Hut, mit Sonnenbrille, von einer dichten, brüllenden Menschenmenge umringt. GIAFFINO versucht vergeblich, die Menschen wegzudrängen. MARIUCCIA kommt aus dem Haus rechts und schiebt sich näher.)

    ROCKY: (schwenkt lachend die Hände in der Luft wie ein Triumphator und wirft zwischendurch Münzen in die Menge) Ich bitte euch, lasst mich durch! – Ihr zerdrückt mich ja, Leute! Lasst noch etwas von mir übrig!

    DIE MENSCHEN: Trag unser Kreuz! Du wirst es tragen! Feste Schultern hat er – das ist wahr! Seht doch – das viele Geld! Er hat ein gutes Herz, er beschenkt die Kinder! Ruft »Bravo!«, Kinder! Bravo! Bravo! (Sie heben Rocky auf ihre Schultern.)

    GIAFFINO: Ruhe! Ruhe! Blödes Pack!

    ROCKY: Da habt ihr, da! Trinkt auf meine Gesundheit! (Streut Geld unter die Leute, dann nimmt er seine Sonnenbrille ab und winkt damit)

    MARIUCCIA: (erkennt Rockys Gesicht und stößt einen markerschütternden, unartikulierten, tierischen Schrei aus, der schauerlich nachhallt. Der vielstimmige Lärm bricht ob der Wildheit des Schreis ab)

    (Alle schauen entsetzt auf Mariuccia; auch Rocky blickt verwirrt von den Schultern seiner Träger herab.)

    MARIUCCIA: (heult ein zweites Mal auf, dann rast sie wie besessen davon)

    GIAFFINO: (erkennt Rocky gleichfalls und stürzt sich brüllend auf ihn) Er ist es: Morone! Warte, du Bestie, du Vieh …

    (Einige Männer, darunter LUIGI, fallen GIAFFINO in den Arm und halten ihn zurück. Die anderen lassen ROCKY von den Schultern und weichen zurück.)

    DIE MENSCHEN: Er ist es wirklich! Morone! Rocky Morone!

    ROCKY: (drohend) Na und – habt ihr was dagegen?

    GIAFFINO: Lasst mich los, dass ich ihm ins Maul trete! Dass ich ihm das Hirn aus dem Schädel quetsche! Mörder! Bluthund!

    LUIGI: So beruhige dich doch, Giaffino! Nimm Vernunft an!

    (Aus der Kirche ist währenddessen der PFARRER getreten, ein lebendiger, wacher Greis mit schlohweißem Haar. Er eilt durch die Menge auf ROCKY los.)

    DER PFARRER: Bist du es?

    ROCKY: Ja!

    DER PFARRER: Dann komm! (Er fasst Rocky bei der Hand und zerrt ihn durch die zurückweichende Menge zum Kirchentor)

    2. Bild

    (In der Kirche. Im Hintergrund das Kirchentor. An den kahlen Steinwänden links und rechts davon einige schwarz verhängte Bilder, ein plumper Armleuchter mit großen Kerzen, ein Beichtstuhl, seitlich ein von der Decke herabhängender Strick zur Glocke. Vorne, gegen den im Zuschauerraum zu denkenden Altar gerichtet, eine Reihe Betbänke. Das Tor wird von außen geöffnet. Der PFARRER, ROCKY noch immer an der Hand haltend, tritt herein, schließt das Tor hinter sich und schiebt einen schweren, eisernen Riegel vor. Dann kniet er nieder und schlägt, gegen den Altar ein Kreuz. ROCKY bleibt währenddessen, den Hut auf dem Kopf, stehen und starrt um sich.)

    DER PFARRER: (erhebt sich) Weißt du nicht, wo du bist? Nimm den Hut ab!

    ROCKY: (gehorcht und schlägt mürrisch und flüchtig ein Kreuz)

    DER PFARRER: Du kannst bei mir bleiben – bis morgen. Da bist du sicher!

    ROCKY: Glauben Sie, ich habe Angst? Vor denen da? Pappendeckelhelden! Feiges, trenziges Pack!

    DER PFARRER: Es sind deine Leute!

    ROCKY: Meine Leute? Pah! Ich kann mich nicht einmal mehr an ihre Visagen erinnern! Aber Sie hätte ich gleich erkannt! Die weißen Haare! Und Ihre Augen: hart wie Butter überm Feuer! Weiß Gott – Sie haben sich nicht verändert! Wie das Gemäuer da, wie die Bänke und das wackelige Kreuz da vorne! Hier ist die Zeit stehen geblieben, was?

    DER PFARRER: Die Zeit steht immer. Nur wir jagen an ihr vorbei. Wenn du beten willst, setz dich! Ich habe keine Eile!

    ROCKY: Beten? Ich will Sie jetzt nicht unnütz aufhalten! Auf morgen früh also! (Will den Riegel fortschieben und hinaus)

    DER PFARRER: (fasst ihn am Arm) Halt! Ich denke, wir haben noch ein Wort miteinander zu reden, du und ich!

    ROCKY: (schlägt sich auf die Stirn) Ach ja, natürlich! (Zieht seine Brieftasche und nimmt Geld heraus) Haben Sie Angst, ich wäre Ihnen damit durchgegangen? Fünftausend – wie abgemacht!

    DER PFARRER: (nimmt das Geld, ohne nachzuzählen)

    Möge dir dieses Geld zum Segen gereichen.

    ROCKY: (lacht) Darauf können Sie sich verlassen, Herr Pfarrer! Das gereicht mir zum Segen! Auf mich niederprasseln wird er, der Segen! Gott mit Ihnen, Herr Pfarrer! (Will fort)

    DER PFARRER: (hält ihn fest) Bleib! Wir haben miteinander zu reden, sagte ich!

    ROCKY: (schlägt anzüglich auf die Brieftasche) Wir haben doch geredet – oder nicht?

    DER PFARRER: Wenn ich sage, dass wir miteinander zu reden haben, so meine ich, dass du mir wohl beichten willst!

    ROCKY: Nein, danke! Kein Bedarf, Herr Pfarrer!

    DER PFARRER: Kein Bedarf?

    ROCKY: Nichts für ungut! Wenn es so weit ist, werde ich mich bei Ihnen melden.

    DER PFARRER: Hör einmal zu, mein Sohn: Hast du vergessen, was für ein Tag morgen ist? Du sollst das Kreuz tragen! Das Kreuz, an dem unser Herr Jesus für unser aller Sünden gestorben ist.

    ROCKY: Ja, ja, ich weiß!

    DER PFARRER: Du trägst das Kreuz als Sünder. Aber als Sünder, der durch die Gnade des Herrn errettet wird. Verstehst du das? Als Sünder, dem in der Finsternis seines Herzens wieder Licht geschenkt wird! Du bereust doch, nicht wahr, du bereust, was du getan hast. Darum willst du ja das Kreuz tragen, auf dem ein anderer für deine Schuld stirbt!

    ROCKY: Ehrlich gesagt, Herr Pfarrer, darüber habe ich mir noch nicht den Kopf zerbrochen!

    DER PFARRER: Ja, warum bist du dann gekommen? Warum hast du mir geschrieben? Hast dich aufgedrängt – und nicht ohne Gefahr für dein Leben! Für ein sündiges, verdorbenes Leben zwar … aber immerhin dein Leben, an dem du hängst – mit der Feigheit aller Kreatur! Warum bist du gekommen?

    ROCKY: Warum, warum? Ich weiß es nicht! Ich bin eben gekommen! (Zynisch) Ich wollte meine Heimat wiedersehen! Ja, das ist es: meine Heimat …! Den dreckigen Stall, in dem ich geboren wurde. Die Mauern, über die ich gestiegen bin. Die Schenke, in der ich das Saufen gelernt habe. Die Schafe, diese blöden, blökenden Schafe, die nirgends so blöde blöken wie bei uns. Aber es sind eben unsere Schafe, nicht wahr, Herr Pfarrer?

    DER PFARRER: Bleiben wir dabei: Du wolltest deine Heimat sehen. Und die Schafe, die du gehütet hast, als du ein Kind warst.

    ROCKY: Ich habe mit Steinen nach ihnen geworfen!

    DER PFARRER: Vielleicht hast du mit Steinen nach ihnen geworfen. Aber du hast auch dein Gesicht in ihr Fell vergraben und geweint, wenn du unglücklich warst!

    ROCKY: Ich …?

    DER PFARRER: Ja, du willst deine Heimat wiedersehen – und dich in ihr. Das ist es! Dich, wie du damals warst – ein Wort, erst halb geschrieben: Noch konnte niemand wissen, was aus ihm würde, das Beste oder das Erbärmlichste! Ja, ja, gib es zu! Darum bist du gekommen! Um die Pfade zu gehen, die du damals gelaufen bist. Um die Bäume zu suchen, unter denen du damals gesessen bist. Um die Lieder zu hören, die du gesungen hast. Die Vergangenheit, das ist Reue – weißt du das nicht?

    ROCKY: Habe ich gesagt, dass mich die Sehnsucht getrieben hat?

    Der Pfarrer: Warum bist du so verstockt? Warum willst du dein Herz nicht auftun?

    ROCKY: Sie werden lachen, Herr Pfarrer, aber es gibt nicht viele Menschen, die so wenig zu verbergen haben wie ich! Andere begehen ihre Sünden heimlich und leise. Von meinen spricht die ganze Welt, wenn ich so sagen darf. Die Polizei kennt mich wie ein Beichtvater. Und erst die Zeitungen! Die wissen Bescheid von mir! Von den Drüsen bis zu den Eingeweiden – die kennen sogar meine Gedanken! Und den Drall, den die Kugel aus meiner Kanone hat. Haha! Wenn Sie meine Beichte hören wollen, Herr Pfarrer, dann lesen Sie die Zeitung!

    DER PFARRER: Ich habe sie gelesen! Mit Abscheu und Entsetzen!

    ROCKY: Was wollen Sie dann noch?

    DER PFARRER: Unter jede Beichte, auch unter die furchtbarste, muss ein Wort gesetzt sein, so wie die Unterschrift unter den Vertrag, damit er gilt: »Ich bereue!« Dieses Wort musst du sagen, dieses Wort muss aus dir herausschreien – oder alles war nur eine erbärmliche Prahlerei! Dieses »Ich bereue!« will ich hören, damit ich glauben kann, dass die Schuld dich drückt wie das Kreuz, das du morgen tragen sollst!

    ROCKY: Tut mir leid,

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