Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Urknall: Roman
Urknall: Roman
Urknall: Roman
eBook318 Seiten4 Stunden

Urknall: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der promovierte Kunsthistoriker Benjamin Lorant lebt seit zwanzig Jahren als freiberuflicher Publizist und Übersetzer in Genf. Im September 2008 nimmt ein Unbekannter, der sich unter dem Namen Petrow vorstellt, überraschend Kontakt zu ihm auf. Er spricht Lorant auf dessen Vergangenheit an, offensichtlich informiert darüber, dass er vor zwanzig Jahren seine Identität gewechselt hat und als Agent des DDR Geheimdienstes HVA in Genf zum Einsatz hätte kommen sollen. Allerdings fiel dieser Auftrag genau in die Zeit des Mauerfalls, sodass Lorant, geborener Johann Blume aus Leipzig, nicht mehr zum Einsatz kam und gezwungenermassen Gefangener seiner falschen Biografie blieb. Petrow benützt in der Folge sein Wissen über Lorants eigentliche Herkunft, die scheinbar auch dessen Frau verborgen blieb, um ihn zu erpressen: Er soll seine Beziehungen zu einem führenden Wissenschaftler des CERN ausnützen und herauszufinden versuchen, wie der grossangelegte Versuch dieses nuklearen Forschungszentrums, den Urknall zu rekonstruieren, sabotiert werden könne. Auf einer gefährlichen Reise zurück in seine nur scheinbar abgelegte DDR-Vergangenheit versucht Lorant jene Menschen wiederzufinden, die sein damaliges Leben mitbestimmt und jetzt erneut in sein Schicksal eingegriffen haben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Feb. 2014
ISBN9783724520122
Urknall: Roman

Mehr von Peter Zeindler lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Urknall

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Urknall

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Urknall - Peter Zeindler

    Verlag

    1. Kapitel

    Wenn der Nordostwind blies wie an diesem Sonntag Anfang September 2008, fühlte er sich ausgesetzt, nackt. Er war durchgefroren, obwohl es eigentlich noch Sommer war. Spätsommer. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass seine Frau neben ihm auf der Strassenseite ging, die der Bise zugewandt war. Sie bot ihm keinen Schutz vor deren Zugriff. Heute schon gar nicht, dachte er. Sie waren zerstritten, was ihn ungleich mehr quälte als sie. Ihr machte eine vorübergehende Disharmonie wenig aus, im Gegenteil. Grundsatzdiskussionen waren für sie das Salz in der Suppe, der Garant für eine stabile Beziehung. Sie war es denn auch meistens, die das letzte Wort hatte, während er hilflos nach Argumenten suchte, schliesslich resignierte, entweder in dumpfes Schweigen versank oder türknallend den Schauplatz des Duells verliess. Es gab nur ein Thema, bei dem sie sich nicht auf ihren Intellekt abstützte, sondern allein auf ihre Gefühle: ihre Familie.

    Um ihre Vereisung zum Schmelzen zu bringen, hatte er sie scheinbar zufällig hierhin an den Quai du Mont Blanc dirigiert, wo sie sich kennengelernt hatten. Sie war ihm zwar kommentarlos gefolgt, aber mit diesem kleinen wissenden und auch verächtlichen Lächeln auf den Lippen, auf das er keine Antwort mehr fand, seit sie ihm bei seinem ersten Versuch, auf ihre Verstimmung zu reagieren, angeherrscht hatte: «Lächle nicht so falsch!»

    Er war sich dabei ertappt vorgekommen. Sie hatte ja recht. Es war nicht ein Lächeln, das zu dem selbstbewussten Mann passte, der nicht nur in ihrem erlesenen Freundeskreis wegen seines Charmes und seiner souveränen Umgangsformen beliebt und geschätzt war. Es war ein Lächeln, das von weither kam.

    Eine Unzahl kleiner Wellenkämme mit messerscharfen Spitzen liessen den Genfersee wie einen Nagelteppich aussehen, den die Polizei ausgerollt hatte, um die Autofahrt eines flüchtigen Verbrechers zu bremsen. Nur die Fontäne des Jet d’eau durchbohrte die scheinbar hermetische Oberfläche des Sees und schoss steil himmelwärts. Aber sie kam dort nicht an. Die Bise kappte ihre Spitze, zerfledderte sie. Den Mann im schwarzen Regenmantel, der, das Monument Brunswick im Rücken, auf der Plattform stand und auf den See hinausschaute, schien dieses Naturschauspiel zu faszinieren. Er hatte seinen dunkelgrauen Filzhut tief in die Stirn gezogen.

    Benjamin Lorant wandte sich ab. Es war wohl kein Zufall, dass dieser Fremde seit Tagen immer wieder in seiner Nähe auftauchte, manchmal nur schemenhaft, dann wieder folgte er ihm wie ein treuer Hund, hielt aber immer so viel Abstand, dass er nicht angesprochen werden konnte.

    «Mir ist kalt, Sela», sagte Lorant zu seiner Frau und blieb stehen. «Ich möchte jetzt einen heissen Tee.» Die Abkürzung ihres Vornamens war in einem intimen Augenblick entstanden, als er ihren Namen hauchen wollte, sich dabei aber plötzlich bewusst wurde, dass das spitze «I» in der ersten Silbe, die Harmonie ihres Zusammenseins, diese Symbiose, die ihm so wichtig war, wie mit einem spitzen Messer durchtrennen könnte.

    «Jetzt und hier?», fragte Gisela scheinbar erstaunt und zeigte über ihre rechte Schulter zum Eingang des Hotels ‹Beau Rivage›.

    Sie wirkte verunsichert. War es seine Aufforderung, in diesem erinnerungsbeladenen Nobelhotel einzukehren, die sie irritiert hatte, oder war ihr aufgefallen, dass er in seiner spontanen Reaktion den Schlussvokal ihres Kosenamens verformt, gepresst ausgesprochen hatte?

    «Warum nicht? Ist jetzt nicht der Augenblick, schöne Erinnerungen zu wecken?»

    Es war der schwache Versuch eines Friedensangebots, obwohl er aus Erfahrung wusste, dass es dauern würde, bis sie sein Angebot zur Versöhnung annehmen würde. Jetzt blieb auch sie stehen. Sie wandte sich um und schaute ihn spöttisch an. Dachte sie, dass es wohl in diesem Augenblick nicht angezeigt war, bei Kuchen und Tee ein Tête-à-Tête zu zelebrieren, wie damals, als sie sich vor beinahe zwanzig Jahren zum ersten Mal begegnet waren?

    Mit Zeigefinger und Daumen zupfte er an seinem rechten Ohrläppchen. Ein Tick. Vielleicht hatte es mit den Erinnerungen an seine früheste Kindheit zu tun, als ihn seine Grossmutter jeweils kurz und heftig ins Ohrläppchen gebissen hatte, wenn er auf ihren Knien gesessen und sie ihn geherzt und gedrückt hatte.

    Das Hotel ‹Beau Rivage› war für Lorant ein magischer Ort, der ihn aus verschiedenen Gründen immer wieder anzog. In erster Linie verknüpfte sich dieses Hotel mit den Erinnerungen an Uwe Barschel, den ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, der hier im Zimmer 317 tot in der Badewanne aufgefunden worden war. Bis heute waren die Umstände, die zu seinem Tod geführt hatten, nie ganz aufgeklärt worden. Am 11. Oktober 1987, an Barschels Todestag, war es gewesen, als der Entscheid gefallen war: Benjamin Lorant würde nach Genf ziehen. Und im Hotel, in dem Barschel gestorben war, hatte er drei Jahre später, ebenfalls an einem 11. Oktober, mit Gisela, die er, nach Plan, bald nach seiner Ankunft kennengelernt hatte, Hochzeit gefeiert. Allerdings hatte an dieser Hochzeit niemand aus seiner Familie teilgenommen, aus welcher Familie auch immer! Zwei Wochen nach seiner Ankunft in Genf, im November 1988, hatte ihm ein anonymer Anrufer mitgeteilt, dass sein Vater gestorben sei.

    «Welcher Vater?», hatte er gefragt. «Und wann ist er gestorben?»

    Aber auf diese Fragen hatte er keine Antwort erhalten. Der Anrufer hatte aufgelegt. Drei Tage später hatte er in seiner Post einen Brief mit einer undatierten Todesanzeige gefunden. Es waren die ehemaligen Lehrerkollegen von Karl Blume, die sie verfasst hatten. Sie bedauerten den unerwarteten Tod ihres Freundes und Kollegen im Ruhestand. Ein Todesdatum war nicht vermerkt. Die Trauerfeier habe bereits im engsten Freundeskreis auf dem Leipziger Ostfriedhof stattgefunden. Und in der rechten oberen Ecke der kargen Anzeige hatte kursiv gesetzt ein Merksatz des Demokrit gestanden: Es werden mehr Leute durch Schulung, als durch natürliche Begabung tüchtig.

    Diesen Satz hatte sein Vater mit Tusche auf Pergament festgehalten und ihm goldgerahmt zu seinem zwölften Geburtstag geschenkt. Hatte er etwa damit früher auch im Lehrerzimmer hausiert, wo er bei seinen Kollegen ebenfalls eine dominierende Position eingenommen hatte? Ein Leittier!

    Benjamin Lorant wunderte sich über die Gelassenheit, mit der er die Nachricht vom Tod seines Vaters entgegengenommen hatte. Als ob es sich um ein Stück Literatur handelte, um Fiktion, nicht um Wirklichkeit. Letztlich folgenlos. Aber vielleicht hing dies auch damit zusammen, dass er seinen Vater in manchem als Kunstfigur erlebt hatte, einerseits als Regisseur in einem Projekt, das die Entwicklung seines Sohnes zum Gesamtkunstwerk zum Ziel hatte, andererseits in der Rolle des Liebhabers, der sich immer wieder in bildungsträchtige Bereiche verstieg, in die ihm seine in dieser Hinsicht eher unbedarfte Geliebte nicht zu folgen vermochte. Und weil Benjamin ja keine Möglichkeit hatte, Näheres über das Sterben seines Vaters zu erfahren, ohne sich selbst auszuliefern, beliess er ihn in diesem fiktionalen Bereich. Trotzdem begleitete ihn der Vater, welcher auch immer, noch heute wie ein Schatten.

    Er hob den Blick. Oben auf dem Dach des monumentalen Hotelkomplexes flatterte die Schweizer Fahne im steifen Nordostwind. Es war nicht seine Flagge, obwohl er immer wieder einmal Heimatgefühle verspürte, wenn er das weisse Kreuz mit den satten Balken auf blutrotem Grund betrachtete. Unmittelbar unter der Flagge befand sich das Zimmer, in dem er mit Gisela die Hochzeitsnacht verbrachte, während im Hotelrestaurant im Erdgeschoss ihre Familie weitergefeiert hatte. Aber schliesslich hatte ihr Vater das Essen ja auch bezahlt. Dass von seiner Familie niemand an dieser Feier teilgenommen hatte, schien Gisela nicht wirklich bedauert zu haben. Er hatte ihr ja gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft von seiner kaum mehr existenten Familie erzählt, dass seine Eltern bei einem Autounfall in der Nähe von Pretoria ums Leben gekommen waren, Onkel und Tanten in der ganzen Welt verstreut seien. Und die einzige offizielle Blutsverwandte, Benjamins Schwester Peggy, die in Kapstadt als Buchhändlerin arbeitete, musste ihre Zusage wegen einer akuten Blinddarmentzündung zurücknehmen. Entsprechende Briefe aus Südafrika waren nie eingetroffen, und Gisela hatte diese Entschuldigung, die ihr Benjamin mündlich mitgeteilt hatte, nicht geglaubt und ihn einmal mehr gefragt, ob denn ihr geschwisterliches Verhältnis so oberflächlich sei, dass seine Schwester es nicht für nötig befände, an der Hochzeitsfeier ihres Bruders teilzunehmen. Benjamin hatte nur stumm mit den Achseln gezuckt. Was hätte er auch antworten können? Er hatte sich seine Schwester in Kapstadt vorzustellen versucht, hatte probeweise verschiedene Standorte für sie geprüft, an denen er sie auftreten liess: in ihrer Buchhandlung ganz oben auf der Leiter vor dem Bücherregal, wo sie berufshalber hinpasste, auf einem Barhocker am Tresen, wo sie sich schon wegen ihrer langen wohlgeformten Beine gut ausnehmen würde. Und er inszenierte auch immer wieder einen pompösen Sonnenuntergang am Hafen, den sie eng umschlungen mit einem schwarzen Freund bewunderte und dabei ihre Zukunft plante. Das Wichtigste für ihn bei dieser Variante war der Lichteinfall der Sonne, die ihre Schatten wachsen und das blonde Haar der Schwester oszillieren liess. Mehr fiel ihm nicht ein, und die Bilder, die er beschworen hatte, begannen sich auch bald wieder aufzulösen. Aber sie waren zumindest immer wieder abrufbar.

    Gisela und Peggy hatten sich bisher nie getroffen, wie auch? Nicht einmal die Adresse dieser Schwester hatte Benjamin Lorant preisgegeben. Sie wolle keine Kontakte zu irgendwem in Europa, hatte er Gisela gesagt, die nur ungläubig den Kopf geschüttelt hatte. Mit Recht. Und übrigens sei das Verhältnis zu seiner Schwester seit dem Tod der Eltern gespannt gewesen: Ein ewiger Kampf um den Nachlass, den er schliesslich ganz ihr überlassen habe.

    «Blut ist dicker als Wasser!»

    Da war er wieder, dieser ominöse Satz, das Losungswort der Familie Schröder.

    Benjamin Lorant betete stumm die ehernen Silben nach, die seine Ehe strukturierten. Eigentlich wusste er es ja zu schätzen, dass Gisela bereit gewesen war, den Familiennamen Lorant anzunehmen, auch wenn sie dann doch noch den Namen Schröder ohne Bindestrich hinzugefügt hatte. Sie hatte so wortlos die Distanz dokumentiert, hatte das Niemandsland abgesteckt, das sich zwischen ihrer kompakten Familie und dem zersprengten Haufen der Lorants befand: die Schwester, eine Tante in Namibia, ein Onkel in Bombay, ein Cousin in Brisbane. In regelmässigen Abständen memorierte Benjamin die Namen und Wohnorte dieser Familienmitglieder. Bis jetzt hatte er sich nie vertan. Und es hatte sich auch niemand aus diesem Kreis bei ihnen gemeldet.

    «Blut ist dicker als Wasser», wiederholte er mit heiserer Stimme und zupfte an seinem Ohrläppchen.

    Sie schaute ihn mit diesem wissenden Lächeln an. Die Heiserkeit, die ihn immer wieder überraschend heimsuchte, war ihr vertraut. Aber die Schlüsse, die sie daraus zog, waren wohl nicht die richtigen.

    Er räusperte sich. In diesem Augenblick tauchte der Mann mit dem etwas aus der Mode gekommenen Filzhut auf dem Kopf unmittelbar neben Benjamin auf. Er warf ihm einen kurzen Blick zu und ging dann weiter. Zum ersten Mal huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. Dann schürzte er die Lippen und begann laut zu pfeifen. Nur ein paar Takte. Benjamin erschrak. Er hörte eine ihm wohlbekannte Melodie. Die Hymne der ehemaligen DDR.

    Benjamin spürte Giselas Zeigefinger, der sich in seine Wange bohrte.

    «Also dann!»

    Sie ging mit ihren kurzen schnellen Schritten an ihm vorbei und steuerte das Eingangsportal des ‹Beau Rivage› an. Er folgte ihr zögernd, straffte seinen Rücken und musste sich dazu zwingen, nicht zurückzuschauen. Er dachte an Lots Weib aus der Bibel, das sich auf der Flucht aus dem brennenden Gomorra trotz des ausdrücklichen göttlichen Verbots umgewandt hatte und zur Salzsäule erstarrt war.

    Im Entree blieb er stehen und sah zu, wie Gisela sich bückte und mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand die Oberfläche des kreisrunden Wasserbeckens in der Mitte der Halle durchkämmte. Sie wirkte so mädchenhaft, verträumt. In diesem Augenblick war sie eine andere Frau; sie war die Frau von früher, in die er sich verliebt hatte, obwohl echte Liebe nicht vorgesehen gewesen war. Er hatte das Bedürfnis, neben sie hinzuknien, doch als er sich ihr näherte, war sie mit ihren energischen Schritten bereits unterwegs zur Bar.

    Gisela und Benjamin sassen schon eine Weile stumm auf den gepolsterten Stühlen in der Nähe des Fensters und warteten darauf, dass der Kellner den bestellten Tee bringen würde, als der Mann, der ihm seit Tagen auf Distanz gefolgt war, die Bar betrat. Er stand im Eingang, den Hut hatte er abgenommen, die beiden obersten Knöpfe des schwarzen Regenmantels geöffnet, und er musterte mit scheinbar spöttischem Gesichtsausdruck die wenigen Gäste im Raum.

    «Kennst du den?», fragte Gisela leise.

    Sie strich ihren Rock über den Knien glatt. Er nahm es aus den Augenwinkeln wahr. Er wusste, wie er diese Geste zu deuten hatte. Noch verharrte sie in ihrer unerotischen Igelhaltung. Benjamin schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Der Kellner stellte das Tablett mit dem Tee auf das blendend weisse Tischtuch und zog sich wieder zurück.

    «Merci», murmelte Benjamin mit Verspätung. Er hatte das silberne Löffelchen in die Teetasse getaucht, nachdem er mit spitzen Fingern ein Stück Zucker hatte hineingleiten lassen, darauf bedacht, nicht zu spritzen.

    Gisela hatte bereits ihre Tasse zum Mund geführt. Sie hatte dabei ihren kleinen Finger kokett abgespreizt. Ein klirrendes Geräusch liess sie zusammenzucken, als Benjamin seinen Löffel in das Untertellerchen legte. Sie schaute ihn vorwurfsvoll an, er hob entschuldigend beide Hände.

    «Verzeihung. Ich wills nie wieder tun», sagte er mit einem schiefen Lächeln. Der Satz war ihm so herausgerutscht, und die Ironie war ihr nicht aufgefallen, die er zu unterlegen versucht hatte.

    Sie schüttelte den Kopf. «Was für eine Formulierung! Ich bin doch nicht deine Mutter!»

    Sie wirkte verstimmt. Eine tadelnde Mutterstimme. Er presste die Lippen zusammen und schwieg. Er musste warten. Sie würde wie jedes Mal ihre Hand ausstrecken und sie auf seine legen. Aber diesmal wartete er umsonst. Wieder zupfte sie an ihrem Rocksaum.

    Der Fremde hatte seinen schwarzen Regenmantel ausgezogen und über die Lehne seines Stuhls gelegt. Er hatte sich den freien Tisch neben dem massiven Kamin ausgesucht. Sein Hut, dessen Krempe abgegriffen war, lag auf einer zusammengefalteten Zeitung. Es war die «Leipziger Volkszeitung». Ein Signal?

    Lorant schaute weg. Er suchte nach einem Anknüpfungspunkt für ein Gespräch, das sich endlich auf einer unverfänglichen Ebene abspielen würde. Doch immer wieder drängte sich der Gedanke an die lange zurückliegende Hochzeitsnacht dazwischen, die sie in diesem Hotel zelebriert hatten. Er sah das riesige leere Doppelbett mit dem kostbaren Baldachin vor sich. Er hörte das quirlende Geräusch des Duschstrahls, der Giselas nackten Körper abtastete, als er vor dem leeren Bett gestanden und beklommen und gleichzeitig erregt auf sie gewartet hatte. Eine Hochzeitsnacht verpflichtet. Er erinnerte sich an diesen diffusen Erfüllungszwang, der seine Vorfreude gedämpft hatte. Seither waren sie lange Jahre verheiratet, aber er horchte noch immer, wenn sie im Bad war, ob sich die Qualität dieses Geräuschs, das sich für immer in sein Gedächtnis gefressen, verändert hatte, ob es sich weniger animierend ausnahm, weil die Fettpölsterchen, die sich im Laufe der Jahre wie eine Schutzschicht unter ihrer strahlend weissen Haut wölbten, den angriffigen Wasserstrahl der Dusche erstickten.

    Giselas Körper war ihm je länger, je mehr abhanden gekommen; er war für ihn nur noch ein akustisches, kein optisches Erlebnis mehr, und auch der Tastsinn spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Aber all das hatte damit zu tun, dass die Erinnerung an die Badegewohnheiten seiner Mutter noch immer gegenwärtig waren. «Ich bin doch nicht deine Mutter», hatte Gisela zu ihm gesagt.

    Die strenge Falte über ihrer Nasenwurzel hatte ihre Stirn in zwei ungleiche Hälften geteilt.

    Als Jugendlicher hatte er oft vor der Badezimmertür gelauscht, wenn seine Mutter jeweils am Samstagabend vor dem einmal wöchentlich angesetzten ehelichen Geschlechtsverkehr ins Bad gestiegen war. Er konnte sie sich noch immer vorstellen, wie sie in die Wanne kletterte, sich mit der linken Hand auf dem Rand abstützte, dann das rechte Bein rückwärts ausstreckte, es auf dem Wannenrand ruhen liess, sich dabei wohl für Augenblicke in den scheinbar schwerelosen Körper einer Eiskunstläuferin versetzte, das Bein dann zögernd ins heisse Wasser eintauchte, sich etwas aufrichtete, auf dem Boden der Wanne Halt suchte, darauf das linke Bein anwinkelte und dem andern beigesellte. Eine Weile stand sie jetzt aufrecht da, bückte sich dann, umklammerte mit beiden Händen den Wannenrand und liess langsam ihren schweren Körper ins Wasser gleiten. Ihr Gesäss drängte sich mit einem dumpfen Geräusch wie eine Abrissbirne in die Wanne, schaffte Raum für ihren nachdrängenden Körper. Jetzt lehnte sie sich, die Arme auf den Rand gelegt, etwas zurück, gerade so, dass ihre Dauerwelle, die sie unter einer hellblauen Plastikhaube trug, im Nacken nicht nass wurde. Ihre etwas schlaffen bananenförmigen Brüste, die anfangs noch obenauf schwammen wie herrenloses Strandgut, tauchten ein, lösten sich begleitet von ihrem Seufzer scheinbar auf, verloren vollends ihre Form. Eine Weile war es still im Bad. Sie lag jetzt wohl regungslos auf dem Rücken. Dann endlich vernahm er dieses vertraute schneidende Geräusch, das ihn an eine Bugwelle erinnerte. Sie hatte sich aufgesetzt. Ihre beiden Knie ragten jetzt wie kleine Inseln aus dem Wasser. Sie beugte sich darüber und betrachtete sie nachdenklich.

    Anfangs hatte Benjamin dieses Ritual fasziniert durch das Schlüsselloch mitverfolgt, aber bald einmal hatte er nur noch mit geschlossenen Augen mitten im Flur gestanden und sich darauf konzentriert, die vertrauten Geräusche zu interpretieren. Es gab keine Erklärung dafür, warum ihn dieses Baderitual seiner Mutter so fasziniert hatte. Und erst, wenn sie sich geräuschvoll hochgeschafft und er ihren finalen Ausruf «Voilà» gehört hatte, war er fähig gewesen, sich wieder zu rühren. Voilà! Seine Mutter war Französin gewesen, hatte während des Zweiten Weltkriegs in Paris gelebt, wo sie Benjamins Vater kennengelernt hatte, der als junger Soldat mit Hitlers Truppen in der französischen Metropole einmarschiert war. Ein Jahr nach Kriegsende hatte sich der junge Mann zu einem zweiten Eroberungsfeldzug aufgemacht, um die ferne Geliebte, die sich ja damals nicht getraut hatte, sich zum deutschen Eroberer zu bekennen, endgültig zu der Seinen zu machen. So jedenfalls lautete die Fassung, die Benjamins Vater immer wieder ein bisschen modifiziert hatte. Benjamin ballte die Fäuste. Einmal mehr hatte er sich in die falsche Biografie verirrt. Die Bilder liessen ihn nicht los, drängten sich immer wieder in sein Denken. Wenn er sich diesen Bildern völlig ausgeliefert fühlte und sie zu neutralisieren versuchte, ging er zu seinem Bücherregal, griff sich den mächtigen Bildband, der sich mit dem Werk des belgischen Surrealisten René Magritte, seinem Lieblingsmaler, beschäftigte und öffnete ihn mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Seite, wo eine stämmige nackte Frau, deren Oberkörper sich aufgelöst zu haben schien, auf ein riesiges Blechinstrument, eine Tuba, gestützt am Meeresufer stand. Dieses Bild, das den Titel «Überschwemmung» trug, kanalisierte seine Gedankenflut, fror sie gleichsam ein. Im Laufe der Jahre war es ihm so immer besser gelungen, seine Mutter gleichsam als Kunstprodukt zu konservieren, doch oft kam es vor, dass sie diese scheinbar gefestigte Form sprengte, dass aus dem isolierten Unterleib ein neuer Oberkörper herauswuchs mit einem Kopf, aus dem ihn zwei grosse Augen vorwurfsvoll anstarrten. Dann dauerte es wieder, bis er sie, die ihm in immer neuen Anläufen ihre Geschichte aufdrängte, wieder zu bändigen vermochte, sie mit Magrittes Hilfe zurück in ein Bild drängen und sie dort zur Ruhe kommen lassen konnte. «Die symmetrische List» hiess dieses Gemälde, auf dem ein weiblicher Unterleib zu sehen war, dessen obere Ergänzung wohl mit Gewalt abgehackt worden war. Ein Tuch bedeckte die Schnittstelle, und rechts und links des Torsos waren zwei von Tüchern bedeckte Erhebungen zu sehen, unter denen wahrscheinlich Kopf und Rumpf der Frau verborgen waren.

    Gisela hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Sie wirkte plötzlich verunsichert.

    «Und jetzt?», fragte sie.

    Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten ihn über den Rand der Teetasse prüfend an.

    Er räusperte sich vernehmlich.

    «Jetzt? Wir wechseln das Thema, Seelchen.»

    Sie lachte lautlos. Sie ignorierte, dass er sie mit ihrem zweiten potenzierten Kosenamen angesprochen hatte. Seelchen – ein Kosename, der nicht zu Gisela passen wollte. Er hatte ihn in zwei Phasen entwickelt: Von Gisela zu Sela zu Seelchen. Aber diese konturlose dahinfliessende Buchstabenkombination benutzte er selten, meist nur, um Gisela sanft zu stimmen.

    «Haben wir uns denn überhaupt unterhalten? Es ist immer dasselbe. Sobald ich meine Familie ins Gespräch bringe, schweigst du verstockt. Du neidest mir meine Verwandten, weil du selbst keine wirkliche Familie hast. So ist es doch, nicht wahr? Ein kindisches Verhalten.»

    «Ich empfinde eine Familie zu haben als Belastung. Wenn ich deine anschaue! Dein Bruder ist ein Alkoholiker. Er zieht dir und deinen beiden Schwestern das Geld aus der Tasche. Ihr lasst euch ausnehmen. Nur weil er von euerm Blut ist. Sippendenken! Und dein Grossvater – ach was!»

    Er unterbrach sich selbst, als er das zischende Geräusch hörte, das sie produzierte, schnellte von seinem Stuhl hoch, eilte ins Foyer, zögerte und ging dann zur Toilette. Ein Fluchtversuch, bevor er wieder in sein verstocktes Schweigen verfallen würde. Dort stand er lange vor dem Spiegel und betrachtete den Mann, der ihn seinerseits freudlos musterte. Die Falten, die das Leben in dieses Gesicht geschrieben hatten, verliefen nicht in harmonischen Bahnen, sondern schienen sich gegenseitig zu bekämpfen, im Versuch, dem Gesicht ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Er mochte diesen Mann im Spiegel nicht. Vielleicht mochte er ihn deshalb nicht, weil er, wenn er aus seinem Kopf herausschaute, sich einen andern Kopf vorstellte, als der, den er dann im Spiegel zu Gesicht bekam. In letzter Zeit hatte er sich ernsthaft überlegt, ob er sich wieder wie vor zwanzig Jahren nass rasieren sollte. Bei der elektrischen Rasur war er gezwungen, ein Gesicht ins Visier zu nehmen, das ihm eigentlich fremd war. Dieser Irritation konnte er nur begegnen, indem er sich auf eine der Parzellen dieses fremden Antlitzes konzentrierte, verbissen die stoppeligen Hautpartien attackierte, ohne dabei das ganze Gesicht betrachten zu müssen. Doch wenn er dann endlich das Resultat seiner Bemühungen begutachtete, musste er jedes Mal feststellen, dass er nur die etwas gepflegtere und auch nacktere Fassung dieses fremden Gesichts vor sich hatte, das ihm jetzt aber noch fremder geworden war. Früher, als er sich noch

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1