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Noahs Erben: Roman
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eBook265 Seiten3 Stunden

Noahs Erben: Roman

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Über dieses E-Book

In seinem Roman nimmt Peter Zeindler ein Motiv auf, das seine Prosa seit jeher bestimmt hat: die Verstellung als Überlebenskonzept. Hat er jedoch bisher seine Protagonisten vorwiegend aus dem Bereich der Spionage rekrutiert, Agenten, die ihre wahre Identität hinter einer Maske versteckten, sich in fremden Biografien bewegten, hat er diesmal einen Kunstmaler zur Hauptfigur gemacht. Dieser Künstler hat sich im Verlauf seines Lebens zu einem genialen Kopisten entwickelt, der sich immer wieder in anderen künstlerischen Identitäten, von Nolde bis Vallotton, auslebt, und so immer mehr zu seinem eigenen schöpferischen Ich auf Distanz geht. Ausgelöst durch eine Wiederbegegnung mit einem alten Schulkollegen, beginnen sich Vergangenheit und Gegenwart zu überlagern, wechselt die Erzählperspektive, wird die Grenzlinie zwischen Realität und Fiktion immer unschärfer und zwingen den desorientierten Protagonisten zu einem ultimativen Befreiungsschlag.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Feb. 2014
ISBN9783724520139
Noahs Erben: Roman

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    Buchvorschau

    Noahs Erben - Peter Zeindler

    beabsichtigt.

    März 2011

    Seit drei Tagen beobachte ich diese Frau. Heute folge ich ihr auf Distanz hinunter zum See, wo sie sich auf der Uferpromenade auf eine Bank setzt, scheinbar versunken in den Anblick der orangefarbenen Bojen, die zwischen den mit blauen Planen bedeckten Segelbooten torkeln. Langsam hebt sie den Arm auf Kopfhöhe, greift in ihr schulterlanges, dunkelbraunes Haar und fingert sich mit Daumen und Zeigefinger den einzelnen Strähnen entlang abwärts, bis ihr die letzte Haarspitze entgleitet und die Prozedur von vorn beginnt. Immer wieder. Doch dann unterbricht sie dieses Ritual und wirft einen kurzen Blick auf ihre Uhr, nickt, scheinbar zufrieden, dass die Zeit des Wartens endlich ausgestanden ist.

    Sie gibt sich einen Ruck und schwingt ihre schlanken Beine über die Sitzfläche, die auf zwei weit auseinanderstehenden Betonklötzen fixiert ist. Den See im Rücken hebt sie erneut ihren rechten Arm, berührt mit dem Zeigefinger ihre Stirn, dort, wo sie eine Haarsträhne kitzelt, tastet sich dann über die Schläfe nach unten, ihre Fingerspitze verharrt kurz im Mundwinkel und hakt sich endlich in der Halskuhle ein, wo sie ihren dunkelblauen Schal übereinandergeschlagen hat. Dieser bedächtige Bewegungsablauf lässt darauf schliessen, dass ihr Leben nicht hektisch verläuft, dass die Frau in sich ruht, immer wieder Pausen einlegt, in denen sie vielleicht das Stück Leben reflektiert, das sie soeben absolviert hat, und sich dann zurückzieht in ihre eigene Welt, in der sie sich aufgehoben fühlt. Nur ihre abschliessende Kopfbewegung, dieses leichte Anheben des Kinns, den Blick hinaus auf den See gerichtet, dann die leichte Drehung in südlicher Richtung, ins gleissende Sonnenlicht, deuten darauf hin, dass sie noch Sehnsüchte hat. Ihre Art, sich zu bewegen, ist nicht kokett. Vielleicht deshalb, weil sie nicht weiss, dass ich sie beobachte.

    Nein, ich bin kein Stalker. Vielleicht wäre «Beschatter» der passendere Ausdruck. Sie ist ja eine Agentin. Das hat sie auf Ihrer Website augenzwinkernd erläutert: «Ich bin die Frau, die Sie suchen. Sie finden mich, wenn Sie jemanden brauchen, der zu Ihnen steht. Sofern Sie mich von sich überzeugt haben. Und dann werde ich andere von Ihnen überzeugen.»

    Julia Erler ist Literaturagentin und legt renommierten Verlagen Manuskripte von angehenden oder gestandenen Autoren vor, sofern sie ihren eigenen literarischen Kriterien standhalten.

    Ihre rechte Hand verschwindet jetzt in ihrer grossbauchigen Handtasche. Sie kramt darin herum, zieht ein paar zusammengeheftete Blätter heraus und faltet sie auseinander. Ihr Körper versteift sich, als sie zu lesen beginnt. Doch schon bald bricht sie die Lektüre ab, rollt die Blätter wieder zusammen und stopft sie mit einer resoluten Bewegung in die Tasche. Sie wirkt jetzt wie verwandelt. Die Anmut scheint von ihr abgefallen zu sein, hat sich auch schon verflüchtigt, als sie die Zettel überflogen hat.

    Diese Veränderung im Ausdruck dieser Frau habe ich in den drei Tagen, in denen ich ihr immer wieder auf Distanz gefolgt bin, schon mehrfach festgestellt. Und jedes Mal packte mich in diesem delikaten Augenblick trostlose Ernüchterung, wurde ich vom hingerissenen Zuschauer zum kritischen Beobachter. Erst wenn ich bis gegen Mitternacht vor ihrem Wohnhaus stehe, immer wieder ihre Silhouette an einem der Fenster im Hochparterre vorbeihuschen sehe und warte, bis das letzte Licht erlischt, finde ich in diese vibrierende, sehnsuchtsvolle Stimmung zurück, in der mich alle Vorbehalte wieder verlassen und ich mich in ihrer Nähe aufgehoben fühle. Dann kehre ich glücklich und hoffnungsvoll ins Hotel zurück, in dem ich für vier Nächte abgestiegen bin, und schreibe wie im Rausch an meinem Roman weiter, bis es vom fernen Kirchturm her drei Uhr schlägt. Um acht Uhr morgens lasse ich mich wecken; denn ich will rechtzeitig wieder zurück sein, wenn meine Muse die Fensterläden ihres Schlafzimmers öffnet, das Fenster aufreisst, sich weit hinausbeugt, dreimal tief Atem holt und den Kopf schräg hält, als ob sie auf ein bestimmtes Geräusch warte, auf eine Vogelstimme vielleicht. Bisher habe ich nie einen zweiten Kopf, den eines Mannes, an ihrem Schlafzimmerfenster gesehen. Das ist beruhigend. Eine halbe Stunde später sitzt sie nahe am Fenster in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch, Ich weiss, dass es ihr Arbeitszimmer ist, weil ich einen Ausschnitt davon im Internet gesehen habe.

    Julia dreht langsam den Kopf, steht auf und entfernt sich in Richtung Stadtzentrum, bleibt dann aber noch einmal stehen, schaut sich um, hebt die rechte Hand, winkt einem etwas gebeugt gehenden älteren Mann zu, der ihr entgegenkommt, umarmt ihn flüchtig und zieht ihn dann mit sich fort. In diesem Augenblick stürzt sich ein Schwarm von Möwen auf die Bank, wo Julia zuvor gesessen hat, lässt sich flügelschlagend kurz nieder und stiebt dann wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander. Nur ein einzelner Vogel bleibt zurück und würgt ein vergessenes Stück Brot in sich hinein. Wind ist aufgekommen; eine Polizeisirene zerstört die Idylle. Die Möwe hebt schreiend ab.

    Hat der schon etwas angegraute Mann, mit dem Julia Erler an diesem Nachmittag im März am See verabredet war, sie als zukünftiger Autor in ihrem Stall zu überzeugen vermocht? Noch gibt es keine Anzeichen, die dafür sprechen. Mir fällt auf, dass beider Schrittrhythmus nicht synchron ist. Er bewegt sich im Synkopentakt auf ihrer rechten, der «falschen» Seite, was wohl für einen Mann seines Alters, aufgewachsen in einer Zeit, in der noch Wert auf korrekte Umgangsformen gelegt wurde, nicht selbstverständlich ist. Und er macht auch keine Anstalten, scheinbar zufällig oder absichtlich, nach ihrer Hand zu greifen oder sich bei ihr unterzuhaken, was darauf schliessen lässt, dass kein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen besteht.

    Ich folge den beiden auf Distanz. Der Mann redet auf Julia Erler ein. Seine Armbewegungen werden immer hektischer, und oft bleibt er stehen, entweder, um Atem zu holen, oder, um sie zu einer frontalen Konfrontation zu zwingen, hat sie doch die ganze Zeit nur geradeaus geschaut, schien die Zwillingstürme des Grossmünsters im engeren Blickfeld zu haben. Doch seine Versuche scheitern; sie geht unbeirrt weiter, auch wenn er stehen bleibt und er sich beeilen muss, um sie wieder einzuholen. Später, als sie in der Nähe der grossen Strassenbahnhaltestelle am Bellevue die Fahrbahn überqueren, wirkt sie etwas verkrampft. Fürchtet sie sich vor dem Augenblick, wenn ihr der Mann im Restaurant gegenübersitzen wird und die Möglichkeit, seinen Blicken auszuweichen, eingeschränkt ist?

    «Ich bin die Frau, die Sie suchen. Sie finden mich, wenn Sie jemanden brauchen, der zu Ihnen steht. Sofern Sie mich überzeugen. Und dann werde ich andere von Ihnen überzeugen.»

    Ja, ich möchte Julia Erler von mir überzeugen. Die Frau fasziniert mich. Sie ist ungefähr in meinem Alter, irgendwo zwischen Anfang und Mitte vierzig. Ich möchte von ihr entdeckt werden. Doch ich werde jeden persönlichen Kontakt zu ihr meiden, bis sie mein Manuskript gelesen hat. Ich will sie beobachten, so lange, bis sie mir vertraut ist und jede Befürchtung, was ihr Engagement betrifft, von mir abgefallen ist. Deshalb möchte ich ihr nicht gegenübersitzen, wenn sie meinen Text zum ersten Mal liest. Ich kann mir vorstellen, wie sie reagieren wird: Zuerst würde mir wohl dieser Ausdruck freudiger Erwartung in ihrem Gesicht auffallen, der sich aber schon bald verflüchtigt, wenn sie sich zum ersten Mal im Text verhakt, noch einmal Anlauf nimmt, die Augenbrauen zusammenzieht, die Lippen schürzt und fast unmerklich den Kopf schüttelt. Und sollte sich diese Reaktion auf jeder Seite wiederholen, sie irritiert zurückblättert, kurz den Blick hebt, scheinbar verwundert registriert, dass der Autor des Manuskripts ihr gegenübersitzt, sich zu einem kurzen Lächeln zwingt, den Blick wieder senkt, entspannt weiterliest, bis sie ein nächstes Mal ins Stocken gerät, ist der Faden endgültig gerissen. Und wenn sie dann resolut einen Bleistift zückt, eine Textseite mit wilden Wellenlinien versieht, Ausrufezeichen setzt, weiss ich sicher, dass die Liebe bereits verhagelt ist, bevor sie aufkeimt.

    Immer wieder frage ich mich, warum sie Literaturagentin geworden ist. Sicher hat diese Berufswahl mit ihrer Biografie zu tun. Sollte ihr Vater die dominierende Figur in der Familie gewesen sein, haben es Männer wohl schwerer als Frauen, ihren Ansprüchen zu genügen; entweder weil der Vater noch immer das Mass aller Dinge ist, oder weil sie sich endgültig von seinem Schatten befreien will. Oder steht sie noch immer unter dem Diktat einer fordernden Mutter, deren Gesichtszüge sie jeden Tag wiedererkennt, wenn sie in den Spiegel schaut, und denen sie dann mit einer Grimasse zu entkommen versucht?

    Als ich ein paar Minuten später das Restaurant betrete, in dem die beiden verschwunden sind, sehe ich sie schweigend in einer Nische sitzen. Sie thront auf ihrem Stuhl wie eine Herrscherin, mit dem Rücken zur Eingangstür. Er hockt etwas gebeugt da, ein Glas mit Weisswein vor sich, das er mit beiden Händen umklammert hält. Sie hat einen Eistee bestellt, was darauf schliessen lässt, dass sie an einem gemütlichen Zusammensein nicht interessiert ist. Die Atmosphäre ist distanziert. Ich entdecke einen freien Tisch in ihrer Nähe, von wo aus ich beide von der Seite beobachten kann.

    Ist der Mann einer, der im fortgeschrittenen Alter noch einen letzten verzweifelten Versuch startet, als Autor von einer grösseren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden? Ein Überlebenskonzept? Vielleicht, um sein gelebtes Leben aufzuwerten? Oder will er einfach nur zur Ruhe kommen, den inneren Frieden finden, sich seine Geschichte von der Seele schreiben? Vielleicht findet er sich in der heutigen Welt, in der die Jungen permanent auf Empfang geschaltet sind und umgehend ihre eigenen kurzen Botschaften, oft stillos und in Mundart, absenden, nicht mehr zurecht. Er fühlt sich möglicherweise einsam; vielleicht hat ihn seine Frau verlassen oder sie ist schon gestorben. Und nachdem er im Internet Julia Erlers Angebot gelesen hatte, liess er diese Frau nicht mehr los, und ihr gelang es nicht, sich seiner zu entledigen, obschon sie schon sehr bald festgestellt hatte, dass er ihren literarischen Kriterien nicht genügte und keine Chance bestand, ihn in einem halbwegs bekannten Verlag unterzubringen.

    Ich erinnere mich an meinen ersten, gescheiterten Versuch, einen Roman zu schreiben. Er spielt in vergangener Zeit, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die ersten Sätze, über die ich nie hinausgekommen bin, kann ich noch immer auswendig zitieren: «Die alte Dampflokomotive ratterte durch die Landschaft. Paul stand breitbeinig in der Toilette über dem dunklen Loch, unter dem die Schwellen der Schienen und die Schottersteine vorbeiflogen, und er starrte den letzten müden Tropfen nach, die sich aus seiner Blase quälten und dann träge in die Schüssel krochen, sich auflösten und im Nirgendwo verschwanden.»

    Diese Sätze wirken etwas künstlich, melodramatisch. Kein zündender Anfang für einen Roman.

    Wenn ich jetzt die Köperhaltung des Mannes betrachte, völlig spannungslos, in sich zusammengesunken, könnte ich mir vorstellen, dass er sich mit der Idee eines Liebesromans an sie gewandt hat, die sie ihm gleich wieder ausredete. Alterserotik sei nicht gefragt. Und es sei aussichtslos, den literarischen Erstling eines Mannes in seinem Alter in der Literaturszene durchboxen zu wollen.

    Reine Spekulationen. Ich werde vielleicht später einmal versuchen, mit dem Mann Kontakt aufzunehmen, ohne meine Identität preiszugeben. Ich weiss ja, wer er ist. Zumindest ansatzweise, seit ich seinen Namen kenne und im Internet recherchiert habe. Er hat Germanistik studiert, war Gymnasiallehrer, später war er auch an der Volkshochschule als Dozent tätig. Er wirkt etwas zwanghaft in seinen Bewegungen. Vor allem fallen mir seine wiederholten Versuche auf, seine Brillengläser mit einem blütenweissen Taschentuch in regelmässigen Abständen zu reinigen, erfolglos, denn jedes Mal, wenn er die Brille gegen das Licht hält, schüttelt er den Kopf und zückt das Taschentuch erneut.

    Er hat offenbar noch nicht resigniert. Er verfolgt sie weiterhin. Ist es jetzt nur noch die unerwiderte Liebe, die ihn auf Trab hält, oder hat er doch noch Hoffnung, dass sie sich für ihn als Autor zu interessieren beginnt? Heute scheint eine endgültige Entscheidung anzustehen. Sie hat ihren rechten Arm auf dem Tischchen abgestützt und deckt mit den Fingern ihre Mundpartie ab. Jetzt nimmt er wohl einen letzten Anlauf, um sie von sich zu überzeugen; vorgebeugt, in Angriffshaltung artikuliert er ein einziges Wort im Zeitlupentempo. Ich starre auf seine Lippen. Der Mund ist jetzt ein wenig geöffnet, die Mundwinkel zeigen leicht nach unten. Ein bisschen dümmlich sieht er aus, doch umgehend wird dieser unentschiedene Ausdruck, auch Verachtung spielt hinein, von einem flüchtigen Glücksmoment abgelöst. G wie Glück! Ein erlöstes Lächeln, dann presst er die Lippen wieder zusammen, ihre Spannung lässt erneut nach, macht Erstaunen Platz, und schon befreit sich ein flacher rauer Luftstoss aus dem blockierten Kehlkopf: «T A – G E – BUCH!»

    Er hat wohl darauf verzichtet, einen Roman zu schreiben. Jetzt will er schreiben, wie es ist. Wie es war. Oder: Wie ihm zumute ist. Oder wer er sein möchte. Und er möchte von früher erzählen. Stoff genug hat er ja wohl.

    Die Agentin kann diesem literarischen Genre offensichtlich nichts abgewinnen. Da gehe ich mit ihr einig. Die Zeit der Konfessionen und aufrichtigen Bekenntnisse sei zu Ende, habe ich gerade gestern in einem Zeitungsartikel gelesen: Das Journal entpuppe sich als Ort der schockartigen Begegnung mit einem fremden Ich. Und der Schreibende nehme entsetzt zur Kenntnis, dass fremdes und scheinbar authentisches Ich nicht zur Deckung gebracht werden können.

    Sie beugt sich vor und redet auf ihn ein. Hält sie ihm einen Vortrag, erinnert sie ihn an Walter Benjamins Credo, das Wort «Ich» nie zu gebrauchen, ausser in Briefen?

    Der Alte ballt die Faust, schüttelt den Kopf. Immer wieder. Jetzt lächelt sie. Es ist kein glückliches Lächeln.

    «Keine Selbstdarstellungen!»

    Ich lese diesen Befehl von ihren Lippen ab. Vielleicht fügt sie auch hinzu, dass Ratlosigkeit kein Antrieb sei, um Literatur zu schaffen.

    Ich weiss nicht, ob sie das alles sagt. Vielleicht sind mir auch nur Passagen aus einer Abhandlung im Kulturteil der «Neuen Zürcher Zeitung», den ich kürzlich gelesen habe, in den Sinn gekommen.

    Er klappt den Mund auf, seine Oberlippe ist leicht gekraust, die Mundhöhle glänzt feucht. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er sie an. Er hat nichts mehr zu verbergen; seine Biografie, seine Erinnerungen, haben ihn wie eine Tsunamiwelle überrollt. Und wenn er diese Naturkatastrophe auch scheinbar mit viel Glück überlebt hat, so sitzt er jetzt wohl auf den verseuchten Trümmern seiner Welt und versucht, sie neu zu ordnen.

    Ich erinnere mich an einen alten Freund, einen Maler, der damit begonnen hatte, all seine frühen Bilder zu korrigieren. Es war vor allem der Schatteneinfall in den Bildern von damals, der seinen Ansprüchen nicht mehr genügte: Er eliminierte die schwarze Farbe, mit der er immer wieder gearbeitet hatte, und ersetzte sie durch eine Mischung verschiedener Blautöne. Er machte ein Stück seiner Geschichte als Künstler rückgängig, war offensichtlich damit beschäftigt, das Bild, das die Nachwelt von ihm haben würde, zu korrigieren, wollte seiner Biografie mit künstlerischen Mitteln auf den Leib rücken.

    «Keine Selbstdarstellungen!», hat Julia Erler gesagt.

    Das Lächeln, mit dem der Mann, der ihr gegenüber sitzt, dieses abschliessende Urteil quittiert, passt nicht zu seiner verkrampften Körperhaltung. Ein Versuch, die Situation ironisch zu unterlaufen? Oder forscht er verzweifelt nach Situationen in seinem mittlerweile unerheblichen Alltag, die zwar privaten Charakter haben, aber, eindringlich formuliert, einzelne Leser wachrütteln, einen Wiedererkennungsprozess auslösen und den Autor in seiner Arbeit und Weltsicht bestätigen könnten? Aber vorläufig hat die grosse Öffentlichkeit diesen Mann als Schriftsteller noch nicht wahrgenommen. Und es ist anzunehmen, dass sie sich auch zukünftig nicht für die etwas skurrilen Gedankengänge dieses Einsiedlers interessiert. Nur die Öffentlichkeit, die Literaturkritik, könnten ihn zum Schriftsteller machen. Und diese Öffentlichkeit sucht er wohl jetzt. Umsonst.

    Der junge Kellner stellt ein zweites Glas Weisswein auf den Tisch, verbeugt sich andeutungsweise, nickt der Frau strahlend zu, schenkt dem männlichen Gast ein ironisches Lächeln und entfernt sich mit durchgedrücktem Kreuz, als hätte er soeben einen Sieg errungen. Der Mann steht hastig auf. Er presst die Lippen zusammen, murmelt eine Entschuldigung, dreht sich um und geht mit hastigen Schritten auf die Tür zu, die zu den Toiletten führt. Ob er noch rechtzeitig dort ankommt?

    In seiner Gestik, in seinem ganzen Verhalten erinnert er mich an einen Onkel, weckt er in mir die Erinnerung an ein Stück Familiengeschichte. Es ist, als hätte er sich in meinen Roman verirrt, als wolle er die Rolle des Protagonisten übernehmen, für die ich meinen Onkel vorgesehen habe. Dessen Leben habe ich aus seinem Tagebuch, aus Gesprächen, denen ich immer wieder gelauscht hatte, und aus Äusserungen seines Hausarztes, neu zusammengesetzt und für meine Zwecke eingerichtet. Er war ein Mann, der ein grosses Geheimnis mit sich trug, eine Künstlerseele, die sich nur als Plagiator verwirklichen konnte, einer, der unter lebenslänglicher Vormundschaft stand. Dieser Onkel war für mich eine Art Vaterersatz gewesen. Inzwischen ist er tot. Ich habe ihn zu neuem Leben erweckt.

    Für heute habe ich genug gesehen. Ich bin jetzt endgültig überzeugt, dass ich dieser Frau mein Romanmanuskript anvertrauen werde. Ich werde persönlich den Postboten spielen und ihr meinen Text in den Briefkasten schieben. Nicht den ganzen Text aufs Mal. In Raten. Ich könnte ihr ja das Manuskript per Mail zuschicken. Aber ich möchte mich nicht der Phantomwelt des Internets ausliefern. Die Phantasie ist nur so lange unangreifbar, wie sie sich nicht in einer künstlerischen Form einzunisten versucht.

    Ich werde meine Identität erst zu einem späteren Zeitpunkt preisgeben, dann, wenn ich ihr auch diese, meine persönlichen Aufzeichnungen, die ganz ohne literarischen Anspruch sind, nachliefere.

    1. Kapitel

    Das Gesicht des Mannes in Weiss drückte Erstaunen, Begeisterung und Besorgnis zugleich aus. Er fixierte den Monitor, schloss dann das linke Auge wie ein Schütze, der über Visier und Korn sein Ziel sucht, schüttelte den Kopf, immer wieder. Endlich senkte er den Blick und betrachtete wohlgefällig den Unterleib seines Patienten, der mit angehaltenem Atem die Diagnose erwartete. Wagner hatte sich auf Empfehlung seines Basler Hausarztes entschlossen, sich in Zürich, bei Doktor Blarer, untersuchen zu lassen: «Ein alter Studienkollege, Freund, eine Kapazität!»

    «So etwas habe ich noch nie gesehen! Einmalig!», sagte die Kapazität. Begeisterung schwang in Dr. Blarers Stimme mit.

    «Einmalig!» Das war noch immer kein medizinisch überzeugendes Urteil. Der Arzt brauchte wohl Zeit, bis er sich wieder gefasst hatte. Jetzt schaute er verklärt, als ob er soeben eine weltverändernde wissenschaftliche Entdeckung gemacht hätte. Noch immer ruhte das

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