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Nordflucht
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eBook270 Seiten4 Stunden

Nordflucht

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Über dieses E-Book

Auf einer Autobahnraststation setzt sich in einer
nebeligen Novembernacht eine Frau ungefragt
an den Tisch eines Mannes. Sie wirkt verwirrt,
gehetzt, wie auf der Flucht, und will wissen,
wo Norden ist, denn sie habe, so sagt sie, völlig
die Orientierung verloren. Und nachdem ihr
der Mann die Richtung gewiesen hat, beginnt
die Frau über das Verhalten von Zugvögeln
zu sprechen. Immer mehr weiten sich dabei ihre
Gedanken aus und im Laufe der Nacht legt sie
eine schonungslose Lebensbeichte ab, bei der
sie von einem schrecklichen Ereignis berichtet,
das sich vor ein paar Stunden zugetragen hat.
Je mehr jedoch die Frau von sich preisgibt, desto
rätselhafter erscheint der Mann ihr gegenüber . . .
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Nov. 2015
ISBN9783738046694
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    Buchvorschau

    Nordflucht - Hans-Peter Junger

    Begegnung

    Unlängst traf ich auf einer Raststation eine Frau, die mir erzählte, sie habe in der vorangegangenen Nacht versucht sich das Leben zu nehmen. Vielleicht, so sagte sie, werde sie es heute Nacht wieder versuchen, oder morgen Abend, wenn sie nach Hause käme, spätestens aber an ihrem vierzigsten Geburtstag, der schon nächste Woche sei, am Dienstag, wie sie mir sagte.

    (Ich würde gewiss nicht über diese Begegnung berichten, wenn ich nicht ihr Bild gestern in der Zeitung gesehen hätte, auf dem sie schlecht getroffen und kaum zu erkennen war.)

    Die Frau hatte sich mit einer irritierenden Selbstverständlichkeit zu mir an den Tisch gesetzt, ungefragt, gerade so, als seien wir gute Bekannte und hätten uns an diesem Ort verabredet, und einfach zu erzählen begonnen, ohne mir dabei in die Augen zu sehen.

    Sie habe eben ihren Wagen vollgetankt, sagte sie, und wolle nach Norden, und ob ich denn wisse, wo überhaupt Norden sei, denn sie, so meinte sie, sei sich da nicht mehr ganz so sicher. Erst heute Morgen habe sie einen Schwarm Wildgänse gesehen, der, wie sie annehme, in den Süden fliegen müsse, denn es sei schon November und höchste Zeit, das Winterquartier aufzusuchen, der Schwarm sei aber, wie sie sagte, nicht nach Süden, sondern in den Norden geflogen, zumindest, so dachte sie oder habe sie ihr ganzes Leben lang immer gedacht, müsse dort in der Richtung, in die die Wildgänse geflogen sind, Norden sein. Während sie redete, fuhr sie sich ständig mit ihren Fingern durch ihre Haare und zerzauste dabei ihr braunes, schulterlanges Haar noch mehr, als es ohnehin schon war. Ich zeigte mit meiner Hand Richtung Norden, dort in etwa, so vermute ich, sei Norden, sagte ich, worauf sie mich ansah und ich den Eindruck hatte, dass sie mich erst in diesem Augenblick, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment, als Person wahrnahm. Sie lehnte sich zurück und meinte, es sei ein Mysterium, warum manche Vögel den Winter über hierblieben. Sie selbst verstehe die Zugvögel, sagte sie, im Gegensatz zu den Standvögeln, denn sie selbst verspüre auch oft ein Ziehen in ihr, diesen Drang, wegzumüssen. Es fange, wie sie sagte, mit einem flauen Gefühl im Magen an, das sich von dort immer mehr ausbreite, von dort ihren ganzen Körper erfasse, bis sie schließlich von einer Vorahnung gepackt werde, dass, wenn sie hierbliebe, einem erlebten und geschauten Schrecknis ein noch größeres folgen könnte. Bei Zugvögeln, so sie weiter, müsse es ähnlich sein. Die Vorahnung, von einem noch nie zuvor erlebten und geschauten Schrecknis heimgesucht zu werden, wenn sie an diesem Ort blieben, lasse sie in den Süden ziehen, obwohl viele von ihnen, und das sei das Faszinierende und Widersprüchliche daran, die Strapazen nicht überleben. Sie selbst überkomme, so die Frau weiter, diese Vorahnung nicht wie bei Zugvögeln ausschließlich im Herbst, also saisonal, sondern immer mal wieder in unregelmäßigen Abständen das ganze Jahr über. Meist bei Regen, sagte sie, in den letzten Jahren auch öfter bei Nebel, nie aber bei Schnee, im Gegenteil, da verspüre sie immer, so sagte sie, eine völlige Dranglosigkeit, wie sie es nannte, oder Drangabwesenheit, wenn man so will, die in Wahrheit, und so müsse es auch bei den Standvögeln zugehen, eine Schockfrostung der Gefühle sei. Eine Art Schutzmechanismus, der bei völlig unerwartet über einen hereinbrechenden Schrecknissen aktiviert werde. Gerade eben aber habe sie wieder, so sagte sie weiter, die Vorahnung eines bevorstehenden Schrecknisses gehabt. Deswegen habe sie auch ihren Wagen vollgetankt und wolle noch, nachdem sie einen Kaffee getrunken habe, in Richtung Norden fahren, vermutlich, so sagte sie weiter, werde sie noch die ganze Nacht unterwegs sein, denn sie fahre grundsätzlich nur bei Nacht, denn am Tag sei man von all den visuellen Eindrücken zu sehr abgelenkt. Nachts sei alles auf das Wesentliche, Essenzielle reduziert, so sie weiter, auf Gerüche und Geräusche. Sie sei überhaupt ein Nachtmensch, also kein visueller Mensch, sondern ein olfaktorischer und auditiver, orientiere sich an Gerüchen und Geräuschen, und, wie auch Zugvögel, vor allem am Erdmagnetfeld. Deswegen mache ihr auch der dichte Nebel nichts aus. Ich fragte sie, während sie dabei war ihren Kaffee auszutrinken, warum sie denn nach Norden wolle, wo doch, soweit mir bekannt, Zugvögel, bis auf die Anomalie bei dem von ihr kürzlich beobachteten Wildgänseschwarm, gewöhnlich nach Süden ziehen. Mir war die Lächerlichkeit dieser Frage bewusst, die jeder Ernsthaftigkeit und Vernunft entbehrte, aber ich wollte nicht, dass sie aufhörte von Zugvögeln zu erzählen oder überhaupt aufhörte zu erzählen, dass sie aufstand und wieder draußen im Nebel verschwand. Mir war ihre Gesellschaft in dieser tristen Novembernacht nicht unangenehm. Im Gegenteil, es war mir mit einem Mal so, als hätte ich auf diese Frau und gerade auf diese Frau gewartet, als wäre unser Aufeinandertreffen Schicksal, Bestimmung. Aber wer kann das schon sagen in einer solchen Nacht? In Novembernächten, und vor allem in einer nebeligen Novembernacht wie jener, scheint der Nebel aus einer anderen Welt zu stammen, einer Welt inmitten der unsrigen, einer Welt, die uns sonst verborgen ist, die nur in Novembernächten als eine Ahnung nebelhaft und schemenhaft zu erkennen ist. Es sind diese Nächte, in denen seltsame Dinge geschehen, unerklärliche, dem Verstand unzugängliche. Ich hatte eine lange, anstrengende Autofahrt hinter mir, die mir im Nachhinein als Flucht erschien, die sie vielleicht auch in einem gewissen Sinne gewesen war. Kurz vor der Ausfahrt zu dieser Raststätte hatte ich ein Rotwild am Pannenstreifen gesehen. Es war plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht. In den Lichtern des wie erstarrt dastehenden Wildes hatte sich das Scheinwerferlicht meines Wagens widergespiegelt. Ich war auf die Bremse gestiegen und knapp, eine Handbreit, wie mir schien, an dem Rotwild vorbeigefahren, hatte dann, nachdem ich den Wagen beinahe zum Stillstand gebracht hatte, in den Rückspiegel gesehen, wo aber nichts als vom Rücklicht rot eingefärbter Nebel zu erkennen war. Ich befand mich auf dem Weg nach Hause oder an den Ort, den ich aus reiner Gewohnheit oder aus Ermangelung eines angebrachteren Begriffes als Zuhause bezeichne. Denn was heißt schon Zuhause? Eine Adresse, mit der sich ein Ort lokalisieren lässt, an den man sich Rechnungen und Mahnungen schicken lässt? Ich hatte noch etwa eine Stunde Fahrzeit vor mir, doch irgendetwas in mir weigerte sich, diese letzte Strecke zu fahren, an diesen Ort, an dem womöglich wieder all die Erinnerungen hochkommen würden, einen Ort, der sich wohl kaum verändert hatte, der sich aber verändern hätte sollen, so wie ich. Gilt man nur deswegen als geheilt und geläutert, weil man vergessen hat? Vielleicht war es ja auch, wie die Frau gemeint hatte, eine Vorahnung, dass etwas Schreckliches passieren werde, oder sollte ich sagen, wieder passieren wird, sobald ich mich meinem Zuhause nähere?

    Ich mochte wohl an die zwei Stunden schon allein in der Raststation gesessen sein, als ich durch die Glasscheibe am Fensterplatz plötzlich, so wie vorher das Rotwild am Pannenstreifen, die Frau wie aus dem Nichts aus dem vom Scheinwerferlicht des Parkplatzes in kühles Gelb getauchten Nebel auftauchen sah. Sie trug einen knielangen Mantel und schwarze Schuhe mit hohen Absätzen, drehte sich ständig um, als würde sie verfolgt werden, kam auf die Raststation zu, eilig, ja fast, wie mir schien, panisch, in einer Vorwärtsbewegung, die weder ein Gehen noch ein Laufen war, die beides zu sein schien, mal Gehen und mal Laufen, einer Vorwärtsbewegung, die mich an ein Fluchttier erinnerte, an ein scheuendes Pferd, an eine scheuende Stute, unentschlossen mal im Schritt, mal im Trab, mal im Galopp, dabei stolpernd, strauchelnd, torkelnd. Ich beobachtete sie mit voyeuristischer Lust, fasziniert, gebannt und erregt, wie sie sich immer wieder umsah, nach vorne bewegend im Schritt sich immer wieder umsah, scheute, in den Trab überging, sich wieder umsah, wieder scheute, dann mit dem Kopf nach vorn in den Galopp überging, stolperte, strauchelte, torkelte, dabei einen Schuh verlor, stehen blieb, sich umdrehte, einen Schritt zurückging, ohne sich zu bücken, umständlich wieder in den Schuh schlüpfte, dabei in den Nebel starrte, wieder anfing zu traben, zu gehen, zu galoppieren, zu laufen, eilig, fast in Panik, wie mir schien, wie in einem dieser Albträume, in denen man von einem Nachtmahr verfolgt, in einem Vorwärtsdrang, einem Fluchtdrang, panisch laufend und strampelnd kaum von der Stelle kommt.

    Ihr Haar war zerzaust, der knielange beige Mantel saß nicht so recht an ihren Schultern und war bloß um die Mitte zugeknöpft, als hätte sie ihn eben erst hastig übergestreift. Sie hielt ihn mit ihrer linken Hand am Kragen zusammen und presste die rechte an ihren Oberkörper, hielt etwas in ihrer rechten Hand fest, etwas, das ich auf die Entfernung und wegen der schlechten Sicht und den diesigen Lichtverhältnissen nicht gleich erkennen konnte, das, wie ich nachher feststellte, dieser Schlüsselbund war, an dem diese kleine und, wie ich fand, unheimliche Porzellanpuppe hing.

    Ich hatte den Eindruck, dass sie eben noch geschlafen hatte und von irgendetwas aufgeschreckt worden war. Als sie sich dann meinem Tisch näherte, sah ich, dass ihr übertrieben aufgetragenes Make-up, das ihrem Gesicht etwas Clowneskes verlieh, mich an einen Harlekin erinnerte, verronnen war, verschmiert war. Unter ihren Augen hatte sie tiefschwarze Ränder, die sich übergangslos vom brüchigen und craqueléartigen Weiß ihrer Wangen abgrenzten, und ich war mir nicht sicher, ob diese Art der Gesichtsmalerei, diese Gesichtsdarstellung, Gesichtsverstellung und letzten Endes auch Gesichtsentstellung, nicht etwas gewollt und bewusst Kunstvolles darstellen sollte, eine Helldunkelmalerei in der Art eines Clair-obscur, wie ich sie schon ab und zu bei meinen Gesichtsstudien, die sich vor allem auf Gesichtsproportionen und Gesichtsformen konzentrierten, an Gesichtern bereits in jungen Lebensjahren lebensüberdrüssig und lebensmüde gewordener Frauen gesehen hatte.

    Und obwohl es angenehm warm in der Raststation war, hatte die Frau mit dem formschönen und außergewöhnlich proportionierten Harlekingesicht den Mantel anbehalten, als sie sich zu mir an den Tisch gesetzt hatte. Sie nahm, als sie Platz genommen hatte, die Hand vom Kragen ihres Mantels und es bildete sich ein zwei oder drei Finger breiter Spalt, unter dem ihre blasse, von feinen Äderchen durchzogene Haut bläulich hervorschimmerte. Ich konnte ihre stark hervortretenden Schlüsselbeine sehen, die sanfte Wölbung ihres Brustansatzes. So weit ich es erkennen konnte, hatte sie unter ihrem Mantel nichts an. Sie trug keine Strumpfhose, keine Strümpfe, womöglich auch kein Unterhöschen, hatte auch keine Handtasche bei sich, nur ihren Schlüsselbund mit dieser, wie ich fand, unheimlichen kleinen Porzellanpuppe in einem rosa Tüllkleid, den sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Ihr Parfum roch intensiv nach Flieder, oder zumindest dachte ich, dass Flieder so riechen müsse, denn ich konnte mich in dieser tristen und nebeligen Novembernacht an keinen einzigen Frühling mehr erinnern, in dem ich jemals Flieder gerochen hätte.

    Ich fühlte plötzlich zu dieser Frau eine seltsame Verbundenheit oder Vertrautheit, eine Übereinstimmung, die in dieser Novembernacht von einer essenziellen Bedeutung zu sein schien. Es war, als ob ich selbst plötzlich ein Zugvogel wäre und auf dem Weg ins Winterquartier, ob dieses sich nun im Süden oder Norden befinden mag, zufällig an einen anderen Zugvogel geraten war. Vielleicht, so dachte ich, geraten ja auch in der Natur ab und an zurückgelassene und versprengte Zugvögel verschiedenster Art, Form und Größe, die den Anschluss an ihre Schwärme verloren haben, aneinander und verbringen anschließend eine Nacht zusammen, als Zweck- und Zufallsgemeinschaft, ehe sie am Morgen, jeder für sich, wieder versuchen den Anschluss an ihren Schwarm zu finden.

    Ich bestellte der offenbar den Orientierungssinn verloren habenden Frau mit dem hübschen Harlekingesicht und mir noch einen Kaffee, und sie meinte, auf meine Frage eingehend, warum sie ausgerechnet nach Norden wolle, sie sei heute Abend, nachdem sie den ganzen Tag neben dem Bett, also nicht im Bett, wie sie sich ausdrückte, sondern daneben, mal stehend, wie sie sagte, mal liegend, mal hockend, mal kniend, verbracht hatte, vor den Wohnblock, in dem sie wohne, getreten und habe plötzlich gespürt, sie müsse nach Norden. Daraufhin sei sie, so wie sie war, in den Wagen gestiegen und auf die Autobahn aufgefahren. Unterwegs aber habe sie dann die Ungewissheit überkommen, ob denn die Richtung, in die sie fahre, überhaupt Norden sei, denn es war schon dunkel gewesen, als sie aufgebrochen war, und im dichten Nebel war jede Orientierung unmöglich.

    Überhaupt, so sagte die Frau weiter, sei ja gewöhnlich der ideale Zeitpunkt zum Aufbruch an fremde, unbekannte Orte für den Menschen während der Dämmerungsphasen. Sie hingegen, so die Frau weiter, orientiere sich ausschließlich, so wie auch die Vögel, am Erdmagnetfeld, da sie ausschließlich bei bewölktem Himmel, am liebsten nachts bei regnerischem Wetter, aufbreche. Bei klarem Himmel hingegen verharre sie während der Dämmerungsphasen, dieser himmlisch-astronomischen Trinität, wie sie sich ausdrückte, aus Ehrfurcht in völliger Stille und Unbeweglichkeit. Mit dem Einbruch der bürgerlichen Dämmerung, also der ersten Dämmerungsphase, so die Frau weiter, wenn im Westen am Horizont noch ein Schimmer der untergehenden Sonne Orientierungshilfe biete und sich die ersten Fixsterne zeigen, fühle sie plötzlich eine Stille in sich, die sich während der zweiten Dämmerungsphase, der nautischen Dämmerung, bei der die ersten Sternbilder am Himmel zu erkennen sind, in eine heilsame Leere wandle, die ihr beim Übergang in die dritte, die astronomische Dämmerung, bei der die Welt, wie sie sagte, wenn auch nur flüchtig, für einen Moment den Atem anhält, das Gefühl gebe, im völligen Einklang mit dem Universum zu sein, und sie, zumindest für diesen magisch-flüchtigen Moment, nicht das geringste Bedürfnis in ihr verspüre, wegzumüssen. Bei Regen hingegen, also bei bewölktem Himmel und vor allem nachts, verspüre sie den unwiderstehlichen Drang aufzubrechen. Sie orientiere sich dann, so wie auch die Vögel, am Erdmagnetfeld, das sie, wie sie sagte, mit der Deutlichkeit eines Zugvogels bis auf den heutigen Tag immer gespürt und als Orientierungshilfe herangezogen habe. Im Auto aber, das, wie jedes Kind weiß, wie ein faradayscher Käfig wirke, habe sie das Erdmagnetfeld noch niemals gespürt, obwohl, wie die Schulbücher sagen, ein statisches Magnetfeld wie das der Erde in einem faradayschen Käfig nicht abgeschirmt wird. Doch Schulbücher können, wie jeder Erwachsene irgendwann weiß, auch mal irren. Und so sei sie, wie auch auf früheren Fahrten schon, auf einen Parkplatz gefahren, sei dort aus dem Wagen gestiegen, habe sich neben diesen gestellt und die Augen geschlossen. Jedes Mal, so die Frau, habe sich bisher dann der linke Arm wie von selbst langsam gehoben und wie eine Kompassnadel unbeirrt nach Norden gewiesen. Doch an diesem Abend wollte sich der Arm nicht heben, habe sie nicht das Geringste gespürt und gefühlt. Darum sei sie auch in die Raststation gekommen, um zu fragen, wo denn Norden sei. Jetzt aber, sagte sie, sei sie erleichtert, nachdem sie nun wisse, dass sie sich nicht geirrt hatte, sie von Anfang an in die richtige Richtung gefahren sei, nämlich nach Norden, also in die Himmelsrichtung, von der sie ihr ganzes Leben lang immer schon angenommen habe, dass es Norden sei.

    Ich fragte sie, ob sie denn irgendeine Erklärung habe für diesen Drang, plötzlich wegzumüssen. Sie meinte, das hänge wohl, was das Hier und Jetzt betreffe, mit den Ereignissen der vorigen Nacht zusammen, die wiederum andere Ereignisse zur Ursache hätten, so wie ihr Leben und auch das Leben anderer, wie sie annehme, wie sie sagte, eine Verkettung von unvorhersehbaren, aber gewiss vorherbestimmten Ereignissen und Geschehnissen sei, sogenannten Zufällen, also Impulsen, Lebensimpulsen.

    Mit einem Mal verstummte die Frau, griff nach ihrer Porzellanpuppe und betrachtete diese gedankenversunken, ehe sie weitersprach.

    Sie wisse aber nicht mehr genau, sagte sie, wie alles angefangen habe oder ob es überhaupt jemals einen Anfang gegeben habe. Vielleicht war es auch dieser ewigliche, unerbittlich zermalmende Strom aus Tränen, Lügen und Lachen, meinte sie, der allmählich in das Bewusstsein dringt und der eines Tages wieder irgendwo in den Tiefen eines dunklen Ozeans verschwinden wird. Sie erinnere sich noch an den fahlen Schein der Lampe, unter denen sie ihre Kleinmädchenfüße untersuchte, die kleinen Knöchel, die vom vielen Tanzen und Herumhopsen schmerzten. Ihre Mama war irgendwo, sagte sie, sie habe nach ihr geschrien, unfähig, sich dabei von der Stelle zu bewegen. An der Wand war wieder dieses Clownsgesicht zu sehen gewesen, sagte sie, dieses fratzenhafte Clownsgesicht, eine Seite hell, eine dunkel, ein Clown oder Harlekin, unter dessen Make-up Max steckte.

    Ich wagte die Frau nicht zu unterbrechen, um zu fragen, wer denn dieser Max sei. Sie hatte diesen Namen mit derselben irritierenden Selbstverständlichkeit ausgesprochen, mit der sie sich zuvor zu mir an den Tisch gesetzt hatte, eine Selbstverständlichkeit, die vorauszusetzen schien, wir würden uns schon lange kennen, als wären uns die Lebensgeschichten des anderen wohlvertraut. Und mit einem Mal war ich mir selbst nicht mehr ganz sicher, ob da eine mir völlig Fremde oder eine alte Bekannte vor mir saß, die man mir während der gewaltsamen Geistesentrümpelung während des Sanatoriumsaufenthaltes, dieses gewaltsamen Eindringens in meinen Geistes- und Seelenraum, einfach aus dem Gedächtnis gestohlen hatte.

    Max, sagte die Frau weiter, erschien eines Tages in Mamas Hutgeschäft. Es war wieder einmal eine von diesen schicksalhaften Begegnungen, die meinem Leben einen Impuls in eine völlig andere Richtung gaben. Ich nenne es das Billardkugelprinzip.

    Meine Mama wurde von einer beunruhigenden Unruhe erfasst, als sie Max sah, einer Unruhe, die auch mich erfasste, einem Gefühl, sagte sie, das ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, so sagte die Frau, hatte ich das Gefühl, jeden Moment würde etwas Schreckliches geschehen. Mamas rechte Hand umfasste krampfartig die große Schneiderschere. Ich konnte die dicken Adern auf ihrer Handoberfläche sehen, die Muskeln ihres Unterarmes, die zitterten. Die beiden standen nur da, still, unbeweglich und, wie mir schien, unendlich lange. Ich saß hinten in der Ecke und spielte mit bunten Hutfedern. Die Zeit schien stillzustehen, einen Nachmittag, eine Woche, eine ganze Kindheit lang, wer kann das schon sagen? Ich dachte sofort an das Clown- oder Harlekingesicht an der Wand, das so anders aussah, als das von Max, lieblicher, weicher, nicht so furchteinflößend. Trotzdem schienen diese Gesichter irgendwie auf geheimnisvoll-magische Weise zusammenzugehören. Nach unendlich langer Zeit, einer ganzen Kindheit, meiner Kindheit, wer mag das schon sagen, löste sich allmählich Mamas rechte, krampfhaft die große Schneiderschere umfassende Hand. Dann ging alles blitzschnell, zu schnell. Mama zog ihre Schürze aus und fragte Max, ob er mit ihr nach oben gehen wolle, in unsere kleine Wohnung. Ihre Stimme klang so anders, so fremd, sagte die Frau, machte mir Angst, verunsicherte mich. Es war nicht Mama, die aus ihr sprach, sondern eine fremde Frau, eine fremde Frau, deren Fremdheit mir mit den Jahren, die seit meiner Kindheit vergangen waren, zunehmend vertrauter wurde. Max legte den Mantel ab, sah zu mir herüber, lächelte mich an. Ich tat so, als sehe ich ihn nicht, beobachtete ihn aber aus den Augenwinkeln, durch meine Haarsträhnen hindurch, die ich über mein Gesicht fallen ließ. Ich summte ein Lied, ein deutsches Kinderlied, das er mir beigebracht hatte, O, du lieber Augustin, Augustin, Augustin. Dann verschwanden beide hinauf in die Wohnung über dem Hutgeschäft. Ich hörte ihre Schritte über mir, ihre lauten Stimmen, ihre Vogelstimmen. Ich suchte in den Schachteln voller Hutfedern nach zu den Stimmen passenden Federn. Eine schillernd schwarze für Mama, die plötzlich zu krächzen anfing, zu husten, wie die Raben auf den Dächern, die ich oft von dem kleinen Balkon unserer Wohnung, der in den Hinterhof hinausging, beobachtete, und eine Seeadlerfeder für Max, eine große, weiße, die an der Spitze schwarz war, eine Seeadlerfeder, wie sie die Indianer als Schmuck getragen hatten. Ich sah ihm in Gedanken zu, verträumt, dumm, naiv, einem schönen, majestätischen Vogel, wie er mit meiner Mama zur Tür hinausflog.

    Da tropfte eine Träne auf die schillernde schwarze Rabenfeder in meiner Hand, die ich, so zumindest glaubte ich damals, meiner Mama aus ihrem Gefieder gerupft hatte. Ich suchte weiter in der roten Schachtel nach Federn, obwohl mir meine Mama verboten hatte, die säuberlich geschlichteten, von Schichten von Schutzpapier umgebenen Federn aus der roten Schachtel zu nehmen. Aber an diesem Tag war alles anders, schienen Mamas Verbote für ein paar Stunden nicht zu gelten. Ein einziger Tag in meiner Kindheit, der einzige, an den ich mich zu erinnern glaube. Alle anderen Kindheitstage sind verzerrt in meiner Erinnerung, sind zu einem einzigen klumpigen, grauen Kindheitstag verschmolzen, wie Plastilin, wenn man die einzelnen farbigen, runden Stangen nur lang genug miteinander verknetet.

    An eben einem dieser klumpigen, grauen und geschmolzenen Kindheitstage kreiste der Adler über mir. Ich war oben in unserer kleinen Wohnung, hörte Mamas Nähmaschine unten in ihrer Hutmacherwerkstatt, während ich wie ein Vogelküken herumhopste, herumflatterte und herumpiepste. Der Adler drehte pfeifend über mir seine Kreise, giak, giak. Ich sah ihm dabei ängstlich zu, während das Vogelkükengepiepse gierig von dem schrillen und gefräßigen Giak, Giak verschlungen wurde. Ich schloss die Augen, hörte das immer lauter werdende Flügelschlagen des Adlers, spürte den Wind, den seine Flügel erzeugten. Da stürzte er herunter und stieß seine Krallen in mein Fleisch, zerrte und zog mich hoch. Steh auf, du Miststück, wirst du wohl aufstehen?

    Nach ein paar Minuten oder Stunden, einem ganzen Kindheitstag, wer kann das schon sagen, kam meine Mama dann in einem wehenden, grauen Nachthemd zerzaust zur Tür hereingeflogen. Ohne Max. Sie lahmte. Einer ihrer Flügel, der rechte, mit dem

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