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Wut, Spaß und Tränen.: Von der Notwendigkeit sich selbst zu behaupten
Wut, Spaß und Tränen.: Von der Notwendigkeit sich selbst zu behaupten
Wut, Spaß und Tränen.: Von der Notwendigkeit sich selbst zu behaupten
eBook258 Seiten3 Stunden

Wut, Spaß und Tränen.: Von der Notwendigkeit sich selbst zu behaupten

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Über dieses E-Book

Werde, der du bist! (Pindar)

Was passiert, wenn ein 13-Jähriger eine existenzielle Frage stellt?
Was lösen die schäbigen Reaktionen eines politisch überholten Systems aus?
Wie viel Wut, Spaß und Tränen brauchst du, um zu werden, der du bist?

Autobiografisch angelehnte Episoden, authentisch und hautnah aus der Perspektive eines Heranwachsenden geschrieben, führen uns zurück in die DDR und das wiedervereinte Deutschland der Jahre 1986 bis 1991.
Zwischen der Katastrophe von Tschernobyl, Mauerfall und neuer Weltordnung erleben wir Zeitgeschichte, in ungeschönter Form.
Die heile Welt sieht anders aus.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilitzke Verlag
Erscheinungsdatum4. Nov. 2014
ISBN9783861899655
Wut, Spaß und Tränen.: Von der Notwendigkeit sich selbst zu behaupten

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    Buchvorschau

    Wut, Spaß und Tränen. - Tino Hünger

    Alter Ego

    Wohin ich auch schaue, schwarze Lavafelder überall, stahlblauer Himmel, durchsetzt mit langgezogenen, schnell dahinziehenden Wolkenstreifen. Der Wind ist stark und unbarmherzig. Genau wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Immer dann vorgestellt hatte, wenn mir jemand von dieser Insel erzählte oder ich wieder einen Artikel in einer dieser Sportzeitschriften fand. Früher las ich Bücher über ferne Länder und exotische Tiere, heute glotze ich auf Tabellen mit Rundenzeiten und Pulswerten. Dauernd die Vermutung, dass ich noch mehr trainieren und mein Trainingslager in sonnigeren Gegenden absolvieren muss, sollte ich jemals die Leistung abliefern wollen, die ich mir seit ein paar Jahren vornehme. Früher wollte ich gar nichts leisten, mich auf keinen Fall für irgendwas Sinnloses krumm machen. Aber darum geht es jetzt gar nicht. Oder vielleicht doch?

    Ich quäle mich auf meinem Karbonrennrad gegen den Wind eine leicht ansteigende, schnurgerade verlaufende Straße entlang. Der Asphalt ist rau und widerspenstig, die Beine brennen schon leicht, ich fühle mich wie im Paradies. Weit am Horizont kann ich in einiger Entfernung mit wässrigen Augen, Wind und Euphorie arbeiten hier Hand in Hand, das Meer sehen.

    Piep, piep, piep … was ist das denn? Ich stelle nie Limits an meiner Pulsuhr ein, mein Puls ist immer genau so hoch, wie es die Situation gerade erfordert. Diese ganze Technikabhängigkeit geht mir gegen den Strich, ich bin keine Maschine. Wer denkt sich bloß diesen ganzen Mist aus? Mehr Zeit mit der elektronischen Vor- und Nachbereitung meines Trainings zu verbringen, als im Sattel zu sitzen, ist gegen meine Prinzipien. Aber was piept denn nun? Mein Tacho kann es nicht sein, der hat aus bereits erwähnten Gründen keine Piepfunktion. Nein, verdammt, ich ahne es. Ich bin nicht auf einer Insel im Atlantik. Kein Wind, keine Lava, kein Laktat in den Beinen. Nur der Harndrang ist echt.

    Ich liege zu Hause in meinem Bett, der Wecker piept, es ist 6.25 Uhr morgens. Warum ich? Warum werde ich von meinem eigenen Unterbewusstsein so brutal hinters Licht geführt? Was hab ich bloß getan? Doch die Antwort kenne ich bereits. Meine verborgenen Sehnsüchte verschaffen sich mal wieder Raum. Der Gegenentwurf zur alltäglichen Routine, in die sich weite Teile meines Lebens entwickelt haben, nimmt mal wieder Gestalt an. Siegmund Freud würde wahrscheinlich sagen, mein Es schreit nach Triebbefriedigung und ist dabei, die Herrschaft zu übernehmen. Mein freudsches Über-Ich versucht zu kompensieren und mich dazu zu bewegen, vernünftig zu sein. Wieder einmal gewinnt der Verstand, ich streife die Decke ab, das Außenthermometer zeigt minus 16,1 °Celsius. Wahnsinn! Rekordkälte in Sachsen, jetzt kommt mir auch noch die Natur dumm von der Seite. Was soll das? In mir wächst langsam ein Verdacht. Das Schicksal hat offensichtlich einen Pakt mit meiner dunklen Seite geschlossen und diesen mit meinem Herzblut besiegelt. Ich soll hart geprüft werden, ich habe es schon lange geahnt. Kurz spüre ich einen Hang zur Resignation, ich will aufgeben und dann passiert etwas. Irgendetwas ist anders, da ist ein Gefühl, das ich kenne, aber nicht mehr einzuordnen verstehe. Seit vielen Jahren habe ich das nicht mehr gefühlt. Plötzlich bin ich bereit. Ich werde kämpfen, gegen mich selbst zunächst. Niemand ist schwerer zu besiegen und wenn ich ehrlich bin, vor keinem Monster dieser Welt habe ich größere Angst.

    Da ich aus angeborener Skepsis und mit einem gewissen selbstgefälligen Stolz in keiner Weise konfessionell gebunden bin, muss ich nicht in Jesusmanier die andere Wange hinhalten, wenn mich jemand schlägt. Nein, ich darf zurückschlagen! Kaum führe ich diesen Gedanken zu Ende, vernachlässige ich die Deckung nur für die Dauer eines Wimpernschlages und kassiere den ersten harten Schlag. Die Erkenntnis, dass die Zeit voranschreitet, während ich hier philosophiere und zu spät auf Arbeit kommen werde, schlägt ein wie die Faust eines Profiboxers oder mindestens wie die von Regina Halmich. Der Schlag sitzt, ich gerate sofort ins Taumeln und begebe mich auf den Arbeitsweg.

    Während ich mein citytaugliches Fahrrad, ein Fixie im Retrolook mit in den USA handgeschweißtem Stahlrahmen, aus der Haustür schiebe, erhalte ich den zweiten Schlag. Eisige Luft, die so trocken ist wie der mittlerweile stark nadelnde Weihnachtsbaum in unserer Wohnung, kickt mir in die Weichteile. Als sich meine Lunge langsam mit ebendieser Luft füllt, drängt sich vor stechendem Schmerz erneut der Gedanke an Tannennadeln auf. Meine körpereigenen Schutz- und Verteidigungssysteme antworten mit der vermehrten Ausschüttung von Adrenalin und Testosteron, ich werde zum verletzten Tier, wild und unberechenbar.

    Nachdem die animalische Wildheit mich einige Sekunden beflügelt hat, muss ich einsehen, dass mir erstens das keuchende Atmen heftige Schmerzen bereitet, ich muss langsamer fahren und durch die Nase atmen, und zweitens der Tiefschnee auf den nicht beräumten Straßen und Waldwegen meinen Stollenreifen eines namhaften Herstellers so wenig Grip bietet, dass gut jeder zweite Tritt ohne Vortrieb verpufft. Eine radikale Anpassung meines sonst eher explosiven Fahrstils tut not, sonst werde ich hier im Großstadtinferno sterben. Also nehme ich Druck vom Pedal, atme ruhig und tief durch die Nase, komme innerlich zur Ruhe. Der Gedanke drängt sich auf, dass mein kurzer Anflug von Wildheit, das alte Leuchten in meinen Augen, schon wieder abklingen. Nein! Das kann ich nicht zulassen. Es hat sich so gut angefühlt. Ich muss dringend nachdenken. So stoppe ich die Fahrt komplett, lehne mein Rad an eine Laterne und setze mich in den Schnee. Spüren kann ich gar nichts mehr, nicht einmal die beißende Kälte. Mein Blick fällt auf das zugefrorene Elsterflutbett. Vorn am Palmengartenwehr ist die Strömung zu stark, deshalb konnte sich dort noch kein Eis bilden. Das Wasser erinnert mich an den Stausee in meiner Heimatstadt an einem warmen Sommerabend vor langer Zeit. Es war 1986, eigentlich greifbar und klar zu fassen, aber ich habe das Gefühl, es war in einem anderen Leben. Nichts davon scheint noch real zu sein und doch beginne ich plötzlich und völlig überraschend damit, mich an Details aus meiner eigenen Vergangenheit zu erinnern.

    Geboren wurde ich im Herbst 1972 in einer kleinen Stadt mit gerade mal 20.000 Einwohnern, sehr hübsch gelegen an einem Stausee, mitten in der thüringischen Provinz. Hier hatte ich eine zwar emotional etwas anstrengende, aber doch sehr ausgefüllte Kindheit. Jede Menge frische Luft, große Träume und die Pionierorganisation, alles hatte seine Zeit und alles war an seinem Platz. Der schönste aller Plätze war der See und dort machte ich auch einige der nachhaltigsten Erfahrungen. Selbstversorgung durch Angeln, Survivaltraining und Nacktbaden, hier war alles möglich.

    Heute bin ich vierzig, habe Familie und einen festen Job. Ich lebe in einer großen Stadt, treibe viel Sport, um mich hin und wieder noch lebendig zu fühlen, und es geht mir verhältnismäßig gut. Und doch sitze ich nun an einem Montagmorgen, dem ersten des neuen Jahres, hier im Schnee, bin unzufrieden und drifte in Gedanken ab. Diese führen mich weit zurück in meine frühe Jugend, an diesen einen Abend im Sommer 1986. Dann vibriert unpassenderweise mein Handy, aber ich ignoriere es und gebe mich dem begonnenen Tagtraum hin, lasse mich zurückversetzen in eine längst vergangene Zeit. Ich sitze also im Schnee an diesem beschissen kalten Januarmorgen und schwelge in Erinnerungen. Das tut gut.

    Da taucht das verzweifelte Gefühl von nicht erwiderter Verliebtheit auf und auch das Wissen darum, wie sich bittere Verachtung und pure Aggression anfühlen, drängelt sich im Eiltempo durch mein Gehirn. Der Geruch von blumigen Frauenparfums strömt mir wie ein süßes Versprechen in die Nase und wird abgelöst vom Bohnerwachsgestank in den Fluren der Jugendhilfekommission und verpinkelten Bahnhofstoiletten. Die Geschmackserinnerungen von rosa Lippenstift, Zigarettenqualm und meinem eigenen Blut erscheinen in munterer Folge. In meinen Ohren vermischen sich die schräg klingenden Töne gitarrenschrubbender Jungpunker mit dem Gezwitscher der Vögel im Frühling. Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf, Herr Walter, Lumpi, Janine, Ede, abfahrende Züge, brennende Flugzeugmodelle und blutige Nasen.

    All das läuft gleichzeitig innerhalb weniger Minuten ab. Und doch sorgt es nicht für eine massive Reizüberflutung, sondern gleicht eher einer warmen Empfindung in meinem Magen. Ich fühle mich wohl, ich weiß plötzlich wieder, wer ich bin. Dieser seltsame Typ, dem ich in den letzten Jahren nur selten begegnet war, den ich oft bewusst verdrängt habe, kehrt mit jedem Atemzug in meinen Körper zurück. Ich spüre das alte Gefühl bis in die Haarspitzen. Was wäre, wenn ich jetzt und hier alles verändern würde? Würde der vermeintliche Selbstbetrug, würden die Lebenslügen des Erwachsenseins damit auch enden? Könnte ich auf der verzweigten Rutschbahn meines Lebens eine neue Richtung wählen, mich noch einmal auf den Weg machen, gleiten? Wäre es möglich, nicht mehr einfach nur Nils Trapper oder gar Herr Trapper zu sein, sondern wieder auf den Spitznamen Trap zu hören, ganz so wie früher?

    Mein Handy vibriert erneut, ich ziehe es aus der Jackentasche und schaue auf das Display, eine mir nicht bekannte Nummer wird angezeigt.

    Ich stelle mir vor, wie mein jugendliches Alter Ego wieder die Kontrolle übernimmt, als ich das Handy in meiner Hand wiege. Es fühlt sich ergonomisch und gut verarbeitet an. In meiner Phantasie werfe ich es flach, mit einem leichten Drall, auf den zugefrorenen Fluss. Es schlittert über das Eis, wie früher die Steine über die Wasseroberfläche am See geschlittert waren. Kurz vor dem Wehr, am Ende der Eisfläche, fällt es in das offene Wasser und versinkt. Es muss von guter Qualität sein, denn es dringt lange kein Wasser ein. Im Herabsinken kann ich das Display des immer noch vibrierenden Gerätes eine ganze Weile leuchten sehen, zuerst noch recht hell, dann wird es immer dunkler, je tiefer das Handy sinkt. Der Verlust würde kein Bedauern in mir auslösen, ich stelle kaum emotionale Bindungen zu Gebrauchsgegenständen her. Außerdem würde ich dann ohnehin kein Mobiltelefon mehr brauchen.

    Soweit die Phantasie. In der realen Welt fange ich allmählich an zu frieren. Das Ergebnis der Mischung aus arktischen Temperaturen, aufblitzenden Erinnerungen an alte Zeiten und der Erkenntnis, dass es im Leben keine Abzweigung gibt, die wieder zum Ausgangspunkt führt.

    Mit diesen Gedanken greife ich mein Fixie mit der linken und mein Handy mit der rechten Hand. Automatisiert wähle ich die Nummer, von der mir der entgangene Anruf angezeigt wird. Am anderen Ende der imaginären Leitung antwortet eine mir bekannte Stimme. Es ist Pascal, der fünfzehnjährige Punk, dem ich in meiner Eigenschaft als Sozialarbeiter, also als Herr Trapper, einen Erziehungsbeistand an die Seite gestellt habe. Er sitzt vor meinem Büro und wartet. Die Sekretärin habe ihm soeben die Nummer meines Diensthandys gegeben und er wollte mich gern heute noch sprechen, weil über die Feiertage zu Hause wieder mal die Kacke am Dampfen gewesen sei. Seine Handynummer solle ich mir gar nicht erst abspeichern, das Teil hätte er sich heute früh nur kurz von seinem bescheuerten Stiefvater ausgeliehen.

    Es gelingt mir gerade noch, ihm mitzuteilen, dass ich in etwa zehn Minuten im Büro bin und ein offenes Ohr für sein Anliegen mitbringe, als die Verbindung abbricht. Sein Akku war leer.

    Als ich mein Fahrrad vor dem Bürogebäude anschließe, steht Pascal in einer Ecke, lehnt an der Wand aus grauem Rauputz und raucht eine Filterzigarette. Sein Anblick löst erneut Erinnerungen in mir aus. Langsam beschleicht mich das Gefühl, bei mir selbst sei gehörige Vergangenheitsbewältigung angezeigt. Sind es seine rot gefärbten, verstrubbelten Haare? Ist es die übertrieben lässige Haltung, in der er dort steht? Ist es das betont coole „Peace, Herr Trapper, und ich wünsch Ihnen was", das er mir als Gruß, verbunden mit Neujahrswünschen, entgegenkrächzt? An der Filterzigarette kann es nicht liegen, ich habe immer filterlos geraucht. Es ist mir auch egal, woran es liegt. Jedenfalls erinnere ich mich mehr und mehr an Ereignisse aus meiner eigenen Biographie und werde den Verdacht nicht los, dass ich mich damit noch einmal beschäftigen muss.

    Aber nicht jetzt. Jetzt liegen die Aufgaben, die das Tagesgeschäft für Herrn Trapper bilden, vor mir. Es ist einfach nicht der Moment, an mich zu denken, Trap eine Bühne zu bieten. Also erwidere ich Pascals Begrüßung ebenso wie die Neujahrswünsche und teile ihm mit, dass ich mich noch umziehen muss und er mich in fünf Minuten in meinem Büro antreffen wird.

    Eine Weile später klopft er an die Tür und betritt mein Büro, mit einem imprägnierten Pappbecher „Coffee to go aus dem Bäckerladen nebenan in der Hand. Er setzt sich auf einen der abgewetzten Stühle an meinem Beratungstisch und fängt an, sich seinen Ärger von der Seele zu reden. „Voll krasse Kälte da draußen, wie in Sibirien. Ich hab schon den übel peinlichen Fleecepullover unter die Lederjacke gezogen, dass ich mir nicht den Arsch abfriere. Komm mir voll vor wie Reinhold Messner oder mein Stiefvater oder irgendein anderer sinnloser Bergsteiger-Assi.

    „Was haben dir denn die Bergsteiger getan?", frage ich ihn.

    „Ach nada eigentlich, aber die drehen doch alle am Rad. Sich da die krassen Berge hochschleppen, einfach so. Ist doch arschlos, oder?"

    Eine Weile geht das so weiter, ich versuche erst einmal locker mit ihm ins Gespräch zu kommen, bevor wir uns den eigentlichen Themen nähern. Während wir Belanglosigkeiten austauschen, schaue ich mir Pascal nochmal genauer an. Knöchelhohe Doc Martens, Tarnhose, Nietengürtel, Lederjacke, gefärbte Haare, acht Ohrringe in dem einen Ohr, drei im anderen. An sich sieht er auch nicht anders aus als wir provinziellen Ostpunks damals vor über 20 Jahren, von dem teuren Fleecepullover einer renommierten Outdoormarke einmal abgesehen. Doch trotzdem sich Outfit, Werte und Musik, oberflächlich und verkürzt betrachtet, zu ähneln scheinen, liegen zwischen Pascal und Trap doch Welten. Alles, was er zunächst so von sich gibt, zeugt von einer inneren Anbindung an Projektionen, Klischees und materielle Güter. Selbst Kiddies wie er, die sich als alternativ und anarchisch verstehen und noch relativ frei sind von Pflichten und Verbindlichkeiten, scheinen sich diesem verselbständigten Strudel, der alles schluckt, nicht entziehen zu können. Diesem Strudel, der uns das Gefühl vermittelt, jede unserer Handlungen, ja selbst das Aussteigen oder Sich-in-Luft-auflösen, sei bereits einkalkuliert und versorge den Sog mit neuer Energie. Nicht einmal die „Macher", oder welchen Leuten auch immer wir gern die Schuld dafür zuschreiben würden, haben auch nur den Hauch von Kontrolle.

    Der Strudel entsteht durch den Sog, dieser wiederum wird von uns allen genährt und zwar solange, bis die ganze Kiste kollabiert. Woher ich das weiß? Pascal hat es mir erzählt. Genauso wie es mir jede Schlagzeile jedes einzelnen Mediums täglich erzählt.

    Aber letztlich hatte ich mich doch in Pascal getäuscht, denn nachdem er die anfänglichen coolen Floskeln abgespult hat und sich augenscheinlich beruhigt, erzählt er von seinen Betrachtungen der Welt, von seinen Plänen für die Zukunft, an die er eigentlich nicht glaubt, und davon, dass er von der Schule geflogen ist. Er spricht vom Silvesterabend, von einer Straßenschlacht mit der Polizei am Connewitzer Kreuz und seiner Freundin Lisa. Mit ihr hat er ein paar Scheiben der Glasfassade der Sparkasse eingeworfen und danach sind sie gerannt, bis sich ihre Beine wie radioaktive Brennstäbe anfühlten.

    Detailliert schildert er die begangenen Straftaten, ohne an etwaige Konsequenzen zu denken. Wahrscheinlich weiß er, dass diese Dinge der Schweigepflicht unterliegen und ich so etwas nicht anzeigen muss. Oder aber er kann spüren, dass ich das ohnehin nicht machen würde, selbst wenn ich es müsste.

    Nach zehnminütiger Flucht in Richtung der Südvorstadt sind sie dann am Fockeberg angekommen und haben sich voller Adrenalin in den frisch gefallenen unberührten Schnee gelegt. Um Mitternacht haben Lisa und er sich dann lange geküsst, während die gesamte Stadt unter ihnen in einem Meer von Feuerwerk versank. Dies sei einer der glücklichsten Momente seines bisherigen Lebens gewesen. Selten habe er sich so lebendig gefühlt. Erst die Wut auf alles und jeden, dann das Adrenalin und anschließend dieses unglaublich schöne Gefühl mit Lisa im Schnee zu liegen. Er glaube, auch dadurch, dass er Steine werfe und seine Haltung radikal nach außen vertrete, werde sich nichts, aber auch gar nichts ändern. Lieber will er sich auf seinen Kram konzentrieren und versuchen, im kleinen Rahmen, vielleicht nur Lisa und er, etwas anderes zu leben. Deshalb will er jetzt nicht mehr mitmachen. Wenn er endlich volljährig ist, möchte er mit Lisa in die Pyrenäen ziehen und Schafe züchten, eigenen Käse herstellen oder irgend so einen Kram machen. Hauptsache weit weg sein, von all den Arschgesichtern, die ihm hier so auf die Eier gehen.

    Ich kann richtig spüren, wie die Kluft zwischen Pascal und Trap immer kleiner wird. Der vor einer Stunde noch so deutlich wahrnehmbare Unterschied beginnt spröde zu werden und auseinander zu bröckeln. Mir wird wieder einmal klar, im Grunde wollen wir alle dasselbe. Und dieses Selbe hat wenig mit den makellosen mittelmäßigen Menschen aus den Werbeclips zu tun.

    Dann macht Pascal sich auf den Weg. Er muss im Schulschwänzerprojekt halbwegs pünktlich erscheinen, um nicht auch dort rauszufliegen und am Ende Bußgeld wegen der Schulpflichtverletzung abzulöhnen. Sein großes Ziel sei es momentan, nur noch durchzuhalten, bis zur Volljährigkeit. Und dann nichts wie weg. So ähnlich hatte sich Trap das damals auch ausgemalt.

    Ich sitze in meinem grauen, nichtssagenden Büro und starre an die Wand. Dort hängt ein langweiliger Kalender mit dem Abbild vom Neuen Rathaus. Aus Furcht vor meiner eigenen Angst und Inkonsequenz hasse ich diese Momente. Schön wäre es, jetzt jemanden zu haben, den ich dafür verantwortlich machen könnte. Aber in meinem Büro hängt kein Spiegel. Es gelingt mir den Rest des Tages nicht, meinen eigentlichen Aufgaben nachzugehen. Ich surfe auf Kosten der Allgemeinheit durchs Internet und schaue mir Bilder vom Mount Everest und vom Donaudelta an. Meine Sehnsüchte sind noch immer dieselben wie

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