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Nur noch eine letzte Geschichte
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eBook400 Seiten5 Stunden

Nur noch eine letzte Geschichte

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Über dieses E-Book

Im Jahr 2040 ist der Dritte Weltkrieg bereits seit sieben Jahren vorbei, doch die Tyrannei geht weiter.

Eine packende Geschichte über die Wut, Liebe und Freundschaft junger Menschen, die bereit sind, für ihre Freiheit zu kämpfen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Okt. 2019
ISBN9783750443068
Nur noch eine letzte Geschichte
Autor

Raphael Mateju

Raphael Mateju (born 1994) is an Austrian self-publishing author with a focus on crime, horror and thriller stories.

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    Buchvorschau

    Nur noch eine letzte Geschichte - Raphael Mateju

    19

    Kapitel 1

    1

    Ich musste während meines Lebens dutzende Menschen sterben sehen, und leider auch zu viele davon selber töten. Ob ich mich schuldig fühle? Nun, am Ende tat ich das, was der Krieg von einem verlangte. Überleben.

    Wo sind bloß die Jahre hin? Verblasst in der Zeit. Geblieben ist nur das Bild einer Erinnerung, das sich wie ein Gemälde vor mein geistiges Auge pinselt, bis ich es in voller Farbpracht vor mir sehe, als wäre es echt. Ich atme ein und aus, spüre die frische Luft von damals an meiner alten Haut vorbeiwehen, ich spüre, wie die Härchen darauf aufstehen und mich kurz zittern lassen, als würde mich tatsächliche Kälte umgeben. Ich spüre den Boden unter mir, die Risse darin, den Staub dazwischen, den Schmutz rundherum. Ich höre das Geflüster der Bäume, die noch kahl vom letzten Winter sind. Seit Monaten frieren sie, freuen sich auf ihr neues Kleid, da ihnen die Kälte das letzte stahl.

    Ich sehe es. Alles. Jeden. Mich, aber nicht mich selbst. Nur das, was mir meine Augen offenbaren. Ich sehe die Welt aus der Sicht meines jungen Ich, wie ich stehe, meine Füße stramm am Boden verwurzelt, wie die der kahlen Bäume. Damals hatte ich noch die sportlichen Beine eines jungen Mannes.

    Ich erinnere mich an alles. Wie es begann. Wie er kam, sah und siegte. Wie er zerstörte und gierig fraß. Wie eine Seuche breitete er sich aus. Er holte sich fast jeden, verschonte keinen, weder Kind noch Greis. Er jagte dich überall, solange bis er auch dein Hirn verseucht hatte und dich ebenfalls auf die Jagd schickte. Purer Hass. So fing es an.

    Wenn er dich hatte, ließ er dich nicht mehr los. Er grub sich in dein Herz, zerfetzte deine Menschlichkeit, fraß deine Seele, während du ihm gedankenlos folgtest. Du wurdest zu ihm. Hass. Einige waren immun. Dazu gehörte ich. Zumindest dachte ich das. Ich war immun gegen diesen Hass, aber nicht gegen jeden Hass. Ich hasste trotzdem, nur anders und anderes.

    Ich sehe mich immer noch, und je länger ich dieses Bild in meinem Kopf behalte, desto tiefer stecke ich in meiner Vergangenheit. Nachdenklich blicke ich auf das Papier vor mir, greife dann wie hypnotisiert nach einem Stift.

    Ich sehe mich in der Zeit danach, erinnere mich und beginne zu schreiben.

    2

    Der Tag fing bereits finster an, das weiß ich noch genau. Am Himmel streckten sich kilometerweit graue Wolken, passend zu den Straßen der Großen Stadt, in der neben den traurigen Farben ebenso armselige und verbitterte Gesichter Tag für Tag dahinschlenderten. Man sah den meisten an, dass die Vergangenheit aus ihnen Menschen gemacht hatte, die nicht mehr oder weniger waren, als eine leere fleischliche Hülle, deren Aufgabe nur darin bestand, den Fortbestand der Menschheit zu sichern und das Vereinte Reich aufrechtzuerhalten. Ihre Seelen waren gespalten, eine Hälfte gezeichnet vom Krieg und den Taten, die sie vollbracht hatten, besonders jener, für die kein Befehl nötig war. Die andere Hälfte ihres inneren Selbst stand stramm vor Stolz und machte sich gut darin, den Frust und die Schuld auf andere zu schieben.

    Der Krieg forderte etliche Tote, trotzdem taten diejenigen, die ihn überlebten, nur das, was man ihnen befahl. Ihre eigenen Gedanken reduzierten sich hauptsächlich auf aufstehen, arbeiten, scheißen, pissen, fressen, trinken, schlafen. So ging das im Kreis, wie der Zeiger einer Uhr. Tag ein Tag aus, ohne Ausnahme.

    Es war Sonntag, der 18.März 2040, als ich am Hauptplatz der Großen Stadt stand, es über mir zu regnen begann und ich still auf die offene, durchnässte Zeitung am Boden blickte, auf deren Titelblatt in fetten Buchstaben gedruckt »LAGER IN VORBEREITUNG! FÜR EIN REINES REICH!« stand.

    Nachdem ich mich nach möglichen Beobachtern umsah, hob ich sie auf und warf sie unauffällig in den Müll. Es wurde zwar nicht mit dem Tod bestraft, wenn man Propagandamaterial der Vereinten Partei wegwarf, aber man konnte auf jeden Fall damit rechnen, dass sich diese Schweine die ein oder andere Strafe einfallen ließen, und man beim nächsten Mal genauer nachdachte. Meistens waren es hundert Peitschenhiebe, oft sogar noch an Ort und Stelle. Normalerweise hätte ich so etwas nicht getan - hundert Peitschenhiebe waren nicht wenig - aber ab und an drang etwas in mir durch, und ich konnte nicht anders. In diesem Moment war mir das Risiko egal.

    Ich zog eine Zigarette aus meiner Tasche, steckte sie in den Mund und brachte die Spitze mit einem Streichholz zum Glühen. Ich weiß noch, dass ich dazu drei Streichhölzer benötigte, weil mir der Wind jedes Mal in die Quere kam. Es zischte kurz, Funken flogen und eine Flamme brannte auf.

    Ich stand also da, mehrere Minuten lang, zog genussvoll an meiner Zigarette und ließ den Rauch sanft meinen Hals hinabgleiten, bis ich ihn schließlich wieder in diese elende Welt hinaus blies. Ich dachte über die Zeit nach, als ich noch ein Kind war, einige Erinnerungen hatte ich noch, jedoch hingen sie nur sehr verschwommen in meinem Gedächtnis herum und das tun sie auch heute noch. Aber ich wusste, warum es so weit kommen konnte, ich dachte beinahe täglich darüber nach.

    Es war ganz einfach. Die Menschen ließen sich manipulieren, für dumm verkaufen und fühlten sich dabei auch noch überaus revolutionär. Man könnte schon fast sagen, sie fraßen alles, was man ihnen vor die Nase warf, um sich anschließend als Feinschmecker zu bezeichnen.

    Viele wussten das auch, doch im Gegensatz zu früher, konnten sie zu diesem Zeitpunkt nichts mehr ändern. Jeglicher Widerstand wurde an seiner Wurzel gepackt und wie Unkraut entfernt. Um es klar auszudrücken: Die Vereinte Partei richtete sie in aller Öffentlichkeit hin.

    Oh ja, ich kannte viele, denen man vor einem Publikum tausender hungriger Biester entweder den Kopf abschnitt, oder erhängte. Viel zu oft musste ich auch dabei zusehen. Es war tragisch, und noch tragischer war, dass es mir irgendwann nichts mehr ausmachte. Ein abgeschlagener Kopf war beinahe so harmlos wie ein Fußball auf dem das Blut der Nase des Torwarts klebte.

    Ich warf meine fertig gerauchte Zigarette weg. Der Rauch erlosch in der Pfütze vor mir. Wieder ertönte ein kurzes Zischen, dann schwamm der von Wasser durchtränkte Filter an der Oberfläche.

    Müll, überall nur Müll. Und von dem Gestank ganz zu schweigen. Egal wo man hinging, es war fast immer dieser abartige Geruch von verdorbenem Schweinefleisch in der Luft.

    Mittlerweile regnete es noch stärker als vorher. Bunt leuchtende Werbedisplays hingen nass glänzend an den Häuserfassaden und wechselten alle paar Minuten die Anzeige. Sie zeigten abwechselnd Bilder des Ewigen Führers, Bibler, Brandy und Klein (die letzten drei alle auf einem Bild zu sehen), und Bilder der gewonnen Schlachten des Krieges. Zwischendurch tauchte immer wieder Werbung auf, in der die neuste Technik präsentiert wurde.

    Schrott den keiner brauchte, wie zum Beispiel die modernsten Flugtaxis (obwohl etliche dieser scheiß Drohnen die letzten Jahre nach und nach abstürzten und Milliarden an Steuergeldern im Boden versenkt hatten) und faltbare Laserscreen-Handys, die mit Hilfe von Algorithmen anhand minimaler Regungen deiner Mimik und Zucken deiner Pupillen erkannten woran du dachtest und den Befehl bereits ausführten, bevor dein Gedanke überhaupt am Ende angelangt war. Intelligente Technik, ja, aber der erste Schritt zur ultimativen Gedankenkontrolle und genau deswegen besaß ich keines dieser Dinger.

    Meine verdreckten blonden Haare waren komplett durchnässt, die Regentropfen rannen an meinen blauen Augen vorbei, über mein ganzes Gesicht, und schlichen schließlich samt dem Schmutz über meinen Hals hinweg auf den stinkenden, staubigen Pullover, den ich seit einer gefühlten Ewigkeit anhatte. Naja, wenigstens war es eine gute Möglichkeit nach drei elenden Tagen den Dreck, zumindest ein wenig, abzuwaschen und den Gestank etwas zu mildern.

    Ich roch nach Schweiß, Alkohol und Zigaretten. Wenn ich mich recht erinnere sogar nach Scheiße und Pisse. Ja verdammt, Scheiße und Pisse. Allerdings nicht meine eigene. Der Geruch der Plumpsklos blieb irgendwann an einem hängen, wie eine Klette. Man gewöhnt sich daran, glaubt mir. Geld für neue Kleidung hatte ich nicht, denn so wie die meisten Bewohner der Stadt, gehörte auch ich zur Unterschicht. So etwas wie eine Mittelschicht gab es schon lange nicht mehr. Ich Glückspilz gehörte zu denen, die sich zumindest die wichtigsten Dinge wie Lebensmittel, eine eigene Wohnung und ab und zu auch ein kaltes Bier in einer Bar leisten konnten. Natürlich könnte man sagen, ich hätte auf den Alkohol und die Zigaretten verzichten, und mir stattdessen neue Kleidung kaufen sollen, aber in dieser Welt brauchte jeder sein Mittel, um klarzukommen. Und so brauchte ich auch meines. Bier und Nikotin, zwei der wenigen Dinge, die ich in dieser Welt noch genoss. Abgesehen von den paar Stunden Schlaf in der Nacht.

    Viele andere in der Großen Stadt hatten weniger Entscheidungsmöglichkeiten. Ich kannte Leute, die wussten morgens nicht, ob sie abends etwas zu Fressen ergattern würden, jeden erdenklichen Mülleimer der Stadt durchforsteten, ohne auch nur ansatzweise etwas Brauchbares zu finden. Leute, die vor Hunger ihre Haustiere aßen. Leute, die sich ihren eigenen Fuß abschnitten, um ihren Kindern etwas zu Essen zu geben. Betteln durften sie nicht, da in der ganzen Stadt ein striktes Bettelverbot herrschte. Wo sie schliefen wusste ich nicht. Ich hatte auch ehrlich gesagt keine Lust nachzufragen, und ja, tatsächlich war es mir an manchen Tagen sogar scheißegal, da ich selber genug Probleme am Hals hatte. Wenn es mein Geldbeutel gerade zuließ, ließ ich dem einen oder anderen Mal einen Dollar da und verzichtete dafür auf ein Bier.

    So etwas wie die Erste Welt gab es nicht mehr. Es gab nur mehr ein paar Reiche irgendwo weit weg von allem Elend, während der Rest der Welt verrottete. Sie lebten auf jenen Inseln, die man während dem Krieg leer gebombt hatte, oder danach einfach räumte. Das Räumen ging in der Regel recht schnell. Sofern es sich nicht gerade um eine arbeitsfähige Person handelte, pferchte man sie auf ein Boot und versenkte es nur ein paar Kilometer abseits der Küste im Meer. Wer glaubt, das tiefe Blau des Ozeans wäre in den Zweitausendzehner Jahren zu einem Massengrab geworden, der hat in den Dreißigern noch nicht auf den Grund geblickt.

    Wenn die Reichen mal in der Großen Stadt waren, dann nur um mit der Vereinten Partei Geschäfte auszuhandeln, die sie noch reicher machen sollten. Dafür wurden ganze Stadtviertel abgesperrt, durch die man sie schließlich mit Panzerschutz eskortierte. Wer das Gebiet nicht von selbst räumen wollte, wurde kurzerhand erschossen. Aufstände gab es kaum, und wenn, dann waren sie meistens schon wieder vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hatten und ein Stapel Leichen schmückte die Straße, auf der sie protestierten.

    Für uns unten blieb nichts außer Staub und Asche. Wer mehr Geld verdienen wollte, musste sich der Vereinten Partei anschließen, aber wenn ich in meinem Leben eines nicht vorhatte, dann Mitglied dieser dreckigen Partei zu werden.

    Ich blickte auf die Uhr. Es war Punkt zwölf. Langsam wurde mir so kalt, dass ich meine Finger kaum noch bewegen konnte, meine Hand begann leicht zu zittern.

    3

    »Alex!«, schrie plötzlich jemand von der Seite.

    Ich drehte mich um und bemerkte einen braunhaarigen, schmalen Mann mit ungepflegtem Drei-Tage-Bart und dreckigen Lumpen als Kleidung winkend auf mich zulaufen. Seine Eile war ihm ins Gesicht geschrieben.

    Es war Lukas. Wir kannten uns schon seit wir Kinder waren. Als wir älter wurden, verband uns besonders eine Sache am besten, und das war unser nie endender Hass gegen die Regierung und der Glaube daran, dass es eines Tages vorbei sein würde. Seit langem versuchten wir im Stillen herauszufinden, wo sich der Widerstand aufhielt, um ihm beizutreten. Aber wäre es so leicht gewesen, hätte ihn die Vereinte Partei schon längst gehabt.

    Sofort ging ich ihm entgegen. Wir begrüßten uns mit einem Handschlag, so wie man das damals mit achtundzwanzig eben machte, und gingen gleich weiter ins nächste Pub am Hauptplatz.

    Es war ein gewöhnlicher Laden, die Tische und Stühle waren aus Holz, die Wände grau-gelb vom Schmutz und Rauch in der Luft. Alles was man hier finden konnte, waren Alkohol, frustrierte Säufer, einen Kellner, der mit der Hand die Gläser putzte, und dichter Qualm, an dem man sich schon beinahe vorbeigraben musste. Wenn man aus dem Fenster blickte, sah man direkt auf eine riesige Statue, die einen Mann mit breiten Schultern in strenger Uniform, kurz geschorenen Haaren und glattrasierten Wangen zeigte, dessen immens langer Schnurrbart sich an den Enden so perfekt zusammenrollte, dass man denken konnte, man hätte diese Kreisform mit einem Zirkel skizziert, ehe man die langen Barthaare anpasste.

    Es war die Statue des Ewigen Führers. Der Anblick nervte zwar, aber da man mittlerweile an jeder Ecke Propagandamaterial der Vereinten Partei fand, machte es schlussendlich keinen Unterschied in welchem Pub man seine letzten Dollar versoff. Die Statue war einem immer noch lieber als diese Spinner, die fast täglich freiwillig auf die Straße gingen, um uns lautstark durch ihr Megafon mit ihrer Liebe zur Partei zu beglücken. Ja, man mag es kaum glauben, aber auch diese Idioten gab es und keiner davon bekam auch nur einen Cent von der Regierung. Sie taten es schlicht aus Treue.

    Lukas und ich saßen uns gegenüber, unser Tisch war rund, alt und aus morschem, dunklem Holz, vor uns jeweils ein Bier. Auf den Wänden ringsherum hingen Bilder von Oldtimern aus den Neunzehndreißigern und -vierzigern. Elegante Gentlemen, umgeben von schönen Frauen in Kleidern, machten sich auf den meisten breit. Ein Bild, das man so heute nie wieder finden würde. Die meisten Autos waren Schrott. Jahrelang bläuten sie uns ein, wir sollten Elektrowägen kaufen, doch nach Kriegsende verkauften sie uns im wahrsten Sinne des Wortes nur noch übergroße Spielzeugautos, deren Akkus in einem Vibrator nicht einmal bis zum Höhepunkt gereicht hätten. Billig waren sie, ja, aber auch schnell kaputt und Reparaturen immens teuer. Am Ende gingen die meisten einfach zu Fuß.

    Lukas hatte seine Hände auf dem Tisch, sie zitterten ein wenig, während er mich nervös anblickte. Mit seinem Ärmel wischte er sich seine feuchte Stirn ab.

    »Hast du etwas gehört?«, fragte ich ihn leise.

    Er sah kurz nach rechts. Es war niemand in Hörweite, trotzdem zögerte er einen Augenblick.

    »Ja«, antwortete er flüsternd. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose und schob es vorsichtig über den Holztisch auf meine Seite. Ich blickte kurz hinab, öffnete es. In handgeschriebenen Stichworten stand darauf: »PLAN FÜR NEUE KONZENTRATIONSLAGER AUFGETAUCHT. WIDERSTAND TRIFFT VORBEREITUNG FÜR BEFREIUNG.«

    Ich las es einmal kurz aber genau durch, schnäuzte mich damit, und schob das Taschentuch anschließend wieder unauffällig auf Lukas’ Seite des Tisches, während ich meinen Kopf still dem Fenster zuneigte. Ich atmete tief ein und wieder aus und griff nach einer Zigarette. Da ich keine Streichhölzer mehr hatte, holte ich mir neue von der Bar und setzte mich anschließend wieder an den Tisch. Die Spitze des Holzes zischte kurz, als ich es über die Reibfläche der Packung zog, dann flammte es auf. Ich hielt das Feuer an den Tabak, der an der Spitze der Zigarette etwas nach außen ragte. Es knisterte kurz.

    Den ersten Zug ließ ich so tief es ging in meine Lunge sinken. Dort harrte er kurz aus, bis ich ihn schließlich mit geschlossenem Mund aus der Nase gleiten ließ. Der Rauch verteile sich über der halben Tischfläche, wie gleitender Nebel.

    »Wissen wir, wann der Widerstand wieder zu finden sein wird?«, flüsterte ich fragend auf die andere Seite des Tisches, stets darauf achtend, keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.

    Ich äscherte kurz in den Aschenbecher, während Lukas sich eine Zigarette anzündete.

    »Nein, noch nicht«, antwortete er, sofort nachdem er seinen ersten Zug hastig in den Raum blies und sich kurz über seine schmalen Lippen leckte. »Wenn man allerdings die Zeitabstände der letzten Treffen beachtet, wäre es aber gut möglich, dass man schon in naher Zukunft wieder von ihm hören wird. Wir müssen jederzeit bereit sein.«

    Ich nickte zustimmend, ohne etwas zu sagen, meine Augen leicht zugekniffen.

    Der Grund, weshalb man den Widerstand nicht einfach willkürlich irgendwo suchen konnte, war ganz einfach. Hätte man sie erwischt, wären sie noch vor Ort erschossen worden. Suchen war eigentlich ohnehin das falsche Wort hierfür. Es war mehr ein Warten. Ein Warten darauf, dass er zu uns kommen würde. Anders ging es kaum. Man wusste nie, wann und wo der Widerstand als nächstes auftauchen würde, um neue Aktionen zu planen und Leute zu rekrutieren. Im Prinzip war er wie ein Phantom. Ein immer wiederkehrendes Nichts. So schnell er da war, so schnell war er auch schon wieder in den modrigen Ecken des Vereinten Reiches verschwunden und hinterließ keine Spuren. Ihn zu jagen, war so, als würde man versuchen mit bloßen Händen Rauch zu fangen.

    Lukas und ich erfuhren den aktuellen Stand der Dinge immer erst über drei Ecken, falls wir überhaupt etwas erfuhren und so gut wie immer waren die Informationen falsch oder unbrauchbar. Genaugenommen wussten wir nicht einmal, ob es tatsächlich einen echten Widerstand gab, oder ob es sich dabei nur um Geschichten handelte, aber was es auch war, es faszinierte uns und trieb uns an.

    »Weiß man, wo?«, fragte ich ernst in Lukas Augen blickend, meine Stirn runzelnd. Er schüttelte den Kopf. Seine Augenringe hingen ihm das halbe Gesicht hinab. Man konnte meinen, er hätte eine ganze Woche nicht geschlafen. Als gebrochener Mann lebte es sich nicht leicht in dieser Welt, aber heute sah er besonders alt aus. Lukas war ein Stück Elend, das am Ende des Tages hoffte, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen, aber um sich selbst das Leben zu nehmen, dafür war er zu feige. Oder zu vernünftig? Ich weiß es nicht.

    Ich zog nochmal an meiner Zigarette. Der Rauch glitt mir zuerst wie dünner Nebel aus dem Mund, dann zog ich ihn schnell nach hinten. Es kratzte, mein Herz nahm den tiefen Zug mit einem starken Pochen entgegen.

    »Wie geht’s deiner Mutter?« Diese Frage stellte ich eigentlich nur, um kurz ein anderes Thema anzuschlagen.

    »Das fragst du noch? Die Atombombe ging fünf Kilometer von ihrem Haus entfernt hoch«, entgegnete er wimmernd. Seine Lippen bebten kurz, dann schluckte er und atmete tief durch.

    Es war mir klar, dass diese Antwort kommen würde, doch ehe sie mich ins Herz stach, goss ich mir das ganze Bier in den Hals, hoffend, dass es diesen Schmerz ertränken und ich ihn anschließend wieder auspissen könnte.

    »Diese Schweine...«, fuhr Lukas fort, seine Stimme hob sich kurz. »Ganz West Morden ist zerstört!«

    »Nicht so laut!«, murmelte ich durch die Rauchwolke hindurch, während ich ihm mit meiner rechten Hand bedeutete leiser zu sprechen. Niemand bemerkte es, auch nicht der Kellner, der nur ein paar Meter neben uns immer noch damit beschäftigt war, Gläser abzutrocknen.

    »Sie haben doch bereits während des Krieges alles ruiniert... warum tun sie es immer noch?«, schluchzte Lukas. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, seine Augen funkelten hinter den Tränen.

    Ich wusste nicht was ich sagen sollte, schließlich hatte er recht. Die Vereinte Partei zerschlug alle alten Regierungen. Es gab nichts mehr, außer das Vereinte Reich. Sie waren bereits die Herrscher der Welt, ihnen gehörte alles und trotzdem fielen weiterhin Bomben.

    »Gab es Überlebende?«

    »Nein...«, antwortete er rasch, seinen Blick starr auf den Tisch gerichtet. »Hunderttausend Menschen... einfach tot.«

    Für einen Moment hielt er inne, dann richteten sich seine Augen ernst auf mich.

    »Morgen findet eine Hinrichtung hier am Hauptplatz statt. Hast du schon davon gehört?« Mit einem Schlag schluckte er die ganze Trauer hinunter und tat so, als hätten wir gar nicht davon gesprochen.

    Mein Blick fiel für einen Moment auf mein Bier, meine Hand langte danach, ich nahm einen Schluck und nickte dabei. Die kalte Flüssigkeit prickelte in meinem Hals. Als ich es wieder absetzte fügte ich mit einem schmerzhaften Unterton hinzu: »Ja, habe ich. Und ich weiß auch, wer.«

    4

    Ich setze den Stift kurz ab und hole tief Luft. Ich sehe ihn als Geist vor mir. Ihn, der getötet werden sollte. Sein geschorener Kopf nickt mir zu, lächelt leise - auf seiner Hand sein altes Schwalben-Tattoo. Er klopft sich auf die Brust und zeigt dann auf mich, lässt mich wissen, dass er niemals meine Erinnerung verlassen wird.

    Ich beobachte ihn, im Klaren darüber, dass er nur in meinem Gedächtnis existiert. Ein Freund, dessen Seele sich spaltete und in die Köpfe jener überging, die ihn vermissten. Während ich ihn ansehe, wirkt es beinahe so, als würde er tatsächlich vor mir stehen, als wäre er immer noch real. Ein Bild, das zwar so echt wirkt wie Nebel, aber nur so greifbar ist wie der Dunst, aus dem er besteht.

    Ich hebe den Stift erneut an und schreibe die schweren Buchstaben auf das Blatt.

    5

    »Joe«, fügte ich hinzu, ehe Lukas etwas sagen konnte.

    Für einen Moment zuckte er zusammen.

    »Was ist mit den anderen?«, fragte er, ohne weiter auf Joe einzugehen. Kannte man diesen Mann, wusste man sofort, weshalb ihm der Schädel abgeschnitten wurde. Die Frage warum es genau ihn traf, hatte sich somit erübrigt.

    Joe war Teil der im Norden liegenden Guerillagruppen. Normale Bomben halfen bei denen nichts. Manchmal nannte man sie auch Maulwurfterroristen. Ihre Verstecke waren so tief in den Boden gegraben, dass sie nicht einmal von den besten Aufspürgeräten seiner Zeit gefunden werden konnten. Bodentruppen wurden ebenfalls selten entsandt, stattdessen entschied man sich dort seine Atomtests durchzuführen. Die Strahlung würde den Rest erledigen, dachte man zumindest. Nullzonen nannten man diese Gebiete, und die Guerillas beherrschten sie.

    Lukas Mutter lebte in einer Stadt, die direkt an die Nullzonen angrenzte, und unter Umständen würde das auch erklären, weshalb sie West Morden bombardierten.

    »Nichts... Aber Joe bat uns darum, hinzugehen. Er meinte, es würde ihn freuen, vor seinem Tod unter den Leuten noch ein paar freundliche Gesichter zu sehen«, antwortete ich.

    Lukas schluckte und nickte. »Ist ja nicht das erste Mal, dass wir einen Freund gehen sehen...«

    Ich bedeutete den Kellner nach zwei weiteren Halben und nahm mir noch eine Zigarette aus der Schachtel, während Lukas mit einem Schluck den Rest seines Bieres leerte.

    Es war gerade erst vierzehn Uhr, als der Regen wieder aufhörte und wir die Bar verließen. Das nasse Wetter vertrieb fast jeden von den Straßen, der Hauptplatz war leer, starker Wind blies mir ins Gesicht und meine Bierfahne wehte wie die Flagge eines Staates.

    »Pass auf dich auf und denk’ nicht zu viel darüber nach«, sagte ich zu Lukas, ehe ich mich auf den Nachhauseweg machte.

    Obwohl es erst früher Nachmittag war, wirkten die Straßen der Großen Stadt jetzt schon, als würde gleich elende Dunkelheit eintreten. Die Gassen waren eng und düster, die Gebäude grau, geschmückt mit trauriger und halbzerfallener Fassade, es roch nach fauligem Fleisch und den Fäkalien streunender Hunde. Ratten verschwanden an allen Ecken und Kanten zwischen den Spalten der bröckelnden Ziegelwände.

    Unter den blattlosen Bäumen, die sich in diesem Betondschungel nur selten blicken ließen, kreuzten sich meine Blicke mit fast ausschließlich finsteren Gesichtern in ebenso finsteren Klamotten, während sie langsam durch die Straßen schlichen. Das Leben hinter den Augen dieser Kreaturen schien bereits vor langer Zeit erloschen zu sein. Die Blässe in ihren Visagen hätte gereicht, um sie in einem weißen Raum unsichtbar zu machen, ihre Ausstrahlung war leer und kalt, manchmal hatte es etwas Bedrohliches, wenn sie mir für längere Zeit tief in die Augen starrten.

    Als würde ihre bloße Anwesenheit sämtliches Glück rauben und in Eiseskälte verwandeln. Es war ein tristes und elendes Leben in der Gosse. Ein Schauer lief mir kalt über den Rücken.

    Von anderen Seiten hallten Marschgeräusche der Soldaten der Vereinten Partei. Ihre Stiefel donnerten wie Gewitterwolken, der Boden unter mir vibrierte wie ein leichtes Erdbeben.

    Ich ging weiter und versuchte mich dabei so gut es ging nur auf meine Wenigkeit zu konzentrieren und diese düstere Materie nicht zu tief in meine Gedanken sickern zu lassen.

    6

    Endlich. Die letzten paar Meter bis zur Haustür. Der Wind blies mir mit aller Kraft direkt ins Gesicht, sodass ich meine Augen weiter zukneifen musste, meine Hände waren fest in meinen Taschen versteckt, meine Arme dicht an meinen Körper gedrückt. Ich konnte den ganzen Weg über nicht einmal eine Zigarette rauchen, da mir das Streichholz jedes Mal ausgeblasen wurde.

    Auf das alte, morsche Holz der Tür waren bereits in mehreren Farben rassistische Texte mit billigem Lack gesprüht worden, die Türklinke war nicht nur dreckig, sondern von rot-orange-braunem Rost übersät. Eine neue Tür schien meinem Vermieter wohl einfach zu teuer.

    Den anderen Häusern wurde das genauso wenig erspart. Sprüche wie »ICH TÖTE SYRER FÜR DEN FÜHRER!« oder »WHITE POWER« verzierten fast jede Wand, aber je länger ich hier wohnte, desto weniger fielen sie mir auf. Irgendwann fängt man an, sich nicht mehr um solche Dinge zu scheren. Am Ende war der Mensch auch nur ein Tier... ein Tier mit der überheblichen Idee keines zu sein, da er seine Triebe und Instinkte durch Vernunft kontrollieren könnte.

    War das denn tatsächlich so? Theoretisch ja, aber ich denke die Große Stadt war Beweis genug für das Gegenteil.

    Manchmal, kurz bevor ich den Torbogen nach innen drückte, verfiel ich meiner Erinnerung und sah in den abgefallenen Ziegelwänden das, was sie einmal waren. Wie schön diese Gegend damals war! Früher traf sich hier jeder, Menschen aus der ganzen Welt. Die Wände waren mit bunten Farben und wahren Kunstwerken verziert. Zwischen den Motorgeräuschen der Autos klang die Mischung aus Vogelgezwitscher und Gelächter wie ein Engelschor. Heute herrscht hier kalte Stille zwischen grauem Beton und schwarzen Wolken.

    Ich drückte meinen Schlüssel in das rostige Loch, drehte kräftig um, und öffnete anschließend die knarrende Tür. Ein Windstoß knallte sie wieder fest hinter mir zu. Das Echo durchquerte das ganze Haus. Völlig erfroren stieg ich die heruntergekommenen Treppen hoch bis in den zweiten Stock und betrat endlich meine kleine Wohnung. Hier ließ die Temperatur zwar auch zu wünschen übrig, es war vielleicht zwei bis drei Grad wärmer als draußen, aber zumindest nervte mich dieser verdammte Wind nicht mehr und ich konnte mich unter meiner Decke wärmen.

    Als ich die Tür hinter mir schloss, sah ich mich für einen Moment um, um dann wieder einmal festzustellen, dass diese fünfundzwanzig Quadratmeter für eine stinkende Ratte besser geeignet gewesen wären, als für einen Menschen. Wenn dieser Gestank erst anfing, sich seinen Weg durch die Nasenlöcher zu bahnen, dann hätte man glauben können, dass auch genau solch eine hier leben würde.

    Ich legte den Schlüssel auf den alten Holztisch rechts von mir, dabei wirbelte ich aus dem Aschenbecher unabsichtlich etwas Staub auf, der dann langsam auf die Tischfläche glitt. Müde ließ ich mich auf mein Bett fallen, starrte zuerst durch das Zimmer.

    Gegenüber von meinem Bett stand auf einem alten Regal ein zu diesem Zeitpunkt beinahe antiker Flachbildfernseher, den ich noch aus Vorkriegszeiten hatte (keines dieser neuen Laserscreen-Geräte, die genauso funktionierten, wie Laserscreen-Handys, mit dem Unterschied, dass sie den gesamten Raum überwachten und mir ein Gefühl von George Orwell‘s 1984 gaben).

    Ich glaube, dass ich ihn um 2020 herum bekommen hatte. Meine Mutter schenkte ihn mir damals und das Gerät funktionierte immer noch. Lag wahrscheinlich daran, dass ich ihn kaum benutzte. Wofür auch? Im Fernsehen lief von früh bis spät Propaganda der Vereinten Partei. Bis vor ein paar Jahren hackten Aktivisten manchmal die Kanäle, um sich für den Widerstand stark zu machen, aber das endete meistens darin, dass man sie noch während ihrer ersten Sendung aufspürte und vor laufender Kamera hinrichtete.

    »Damit es auch wirklich jeder verstanden hat!«, brüllten die Soldaten dann meistens noch, während sie die Köpfe der Enthaupteten klar und deutlich ins Bild hielten.

    Neben meinem Fernseher stand ein Herd mit einem Ofen. Er war nicht sehr groß und ebenfalls schon älter, wahrscheinlich noch aus einer Zeit vor meiner Geburt, aber er reichte für mich. Ein Spiegel hing in der Ecke über dem Waschbecken, darunter stand dreckiges Geschirr und meine Zahnbürste. Das Badezimmer war auf der anderen Seite des Zimmers. Als Sichtschutz hatte ich nur einen Vorhang, der allerdings löchrig war und jedes Geräusch durchsickern ließ. Scheißegal, dachte ich. Besuch hatte ich ohnehin kaum, und meistens benutzte ich das Plumpsklo im Treppenhaus, um meine Wasserrationen zu sparen.

    Das größere Problem war der Schimmel, der die Badezimmerwand hochkroch, als würde er irgendwie den Himmel erreichen wollen, um endlich aus dieser Welt zu fliehen. Das Einzige, was ein bisschen dagegen half, war ihn ab und zu wegzukratzen, aber er kam immer wieder. Es war zum Kotzen. Trotzdem versuchte ich, mein kleines Loch so gut es ging sauber zu halten. Das Leben da draußen war schon dreckig genug.

    Meine Augen wanderten an die Decke. Sie war leicht gelb vom Qualm der Zigaretten, außerdem klebten rote Flecken darauf. Vermutlich vom Vormieter. Ich fragte mich schon immer, wie die da hinaufkamen, und ob es Farbe oder tatsächlich Blut war.

    Ich könnte es gut verstehen, wenn jemand seinen Verstand zwischen diesen Wänden verlieren und sich schließlich die Birne vom Hals schießen würde. Ich selbst hätte tausend Gründe dazu.

    Ich dachte nicht weiter darüber nach.

    Ich griff in meine Hosentasche, wo ich die erstbeste Zigarette hevorzog. Bevor ich sie anzündete, ließ ich sie noch

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