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Kehrtwende
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eBook370 Seiten4 Stunden

Kehrtwende

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Über dieses E-Book

Wenn Macht zerbröckelt,
bleibt Panik zurück.

Winter 1989. Es sind außergewöhnliche Zeiten, die Hauptkommissar Benedikt Mulder vom MUK Ost-Berlin zu durchleben hat. Die Welt ist im Wandel und er wird seines geliebten Dienstes enthoben. Zwei Tage nach dem Mauerfall war ein junger Mann in Köpenick erstochen worden, und Mulder hatte es verweigert den Fall zu übernehmen. Er kannte das Opfer und sah sich unmöglich in der Lage objektiv zu handeln. Jetzt treibt er durch das von Wetterkapriolen und Umschwung gezeichnete Berlin und verliert sich in Alkohol und Tabletten, bis ihn eine Frau anspricht, es ist die Mutter des Messeropfers…

Aus einer Mordserie aus Rache, wird ein Katz- und Mausspiel nach Vermissten. Alte und neue Freunde sind nicht mehr die, die sie zu sein scheinen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Dez. 2020
ISBN9783752925067
Kehrtwende

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    Buchvorschau

    Kehrtwende - Dirk Bierekoven

    Danksagung

    Für:

    Jimi, Charlie und Nic

    „Your world is nothing more, than all the tiny things you`ve left behind."

    Jamie Cullum

    Prolog

    Re I vo I lu I ti I on: französisch révolution

    Ist ein grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt. Er kann friedlich oder gewaltsam vor sich gehen.

    Friedlich, das war sie.

    Die wenigsten verliefen friedlich. Die meisten waren gewaltsam und brutal, und die Fundamente, auf denen sie erbaut wurden, waren Gruben voll von Leichen.

    Unsere aber war friedlich.

    Sie war laut.

    Sie war ausdauernd.

    Sie war klug und überwältigend.

    Und hat nicht ein einziges Menschenleben gekostet.

    Ich stand auf einem Auto, das jemand inmitten der Massen auf der Bornholmer Straße hatte stehen lassen, und sah die Menschenmengen auf das Nadelöhr Bornholmer Brücke zufließen wie Reisig in einem langsam fließenden Fluss auf einen quer gelegten Ast. Nach Schabowski war ich mit ein paar weiteren aus Metzer`s Eck hierhergekommen, um mich selbst zu überzeugen. Ich war knapp haltlos vom Alkohol und knapp klar von den Amfis, die ich intus hatte, um eine weitere Nacht durchzustehen. Es brachte mich in einen Zustand, in welchem mir die Realität schubweise entglitt und es mir unmöglich wurde, die Emotionalität des Moments aufzunehmen und zu speichern. Was ich fürchterlich bereute und mir wünschte, ich hätte zwei Tage früher noch einmal neu beginnen können. Dann wäre ich nüchtern und ausgeschlafen gekommen, um diesem einzigartigen geschichtlichen Ereignis die angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. So aber fühlte ich mich äußerst mies und hatte das Gefühl, den Kampf meiner Brüder und Schwestern mit Füßen zu treten. Doch jetzt mal ernsthaft, wer hätte das vor zwei Tagen denn ahnen sollen?

    So schwebte ich in einer Metaebene über dem Geschehen, beobachtete und registrierte.

    Ich sah zu, wie die Masse sich langsam vor dem Schlagbaum nach hinten hin aufstaute. Wie sich aus anfänglichem Zögern Mut erhob. Wie aus diesem Mut, Frust und Wut über altgewohnte Starrköpfigkeit wuchs. Und doch blieb es weiter friedlich. Ein Wunder und Sieg der Menschlichkeit. Hunderte standen vor einer Handvoll. Nichts wäre leichter gewesen, als sich seiner Wut hinzugeben und sie zu überrennen. Was Leben gekostet hätte, hüben wie drüben, egal. Stattdessen wurde gesungen, skandiert und diskutiert, bis der Staudruck übermächtig wurde und der Durchbruch gelang. Die Massen kamen wieder in Bewegung. Zuerst nur langsam, einzeln flutschten sie durch die erste Spalte, die sich ergab. Und dann immer mehr und immer schneller, bis sich der Pfropfen schließlich ganz löste und die Bornholmer Straße sich mit einem langen, riesigen Schwall entleerte. Von drüben waren Gesang, Jubel und Böller zu hören, und ich stand mit offenem Mund auf dem Trabant und suchte die Szene zu fassen. Es gab nicht mehr viel, was mich sprachlos machen konnte, dieser Moment aber überwältigte mich sogar in meinem desolaten Zustand so sehr, dass sich ein riesiges Vakuum in mir ausbreitete. Bis jemand an meinem Hosenbein zupfte und zu mir sprach:

    „Ist das Ihr Auto?"

    Ich schaute runter und sah einen Mann in grauer Hose mit leichtem Schlag. Grünem Rollkragenpulli und braunem Mantel darüber. Er trug eine dicke Hornbrille, hatte lange Koteletten, einen Schnäuzer, schütteres Haar, welches er sich von links nach rechts über die Platte gekämmt hatte und sah mich herausfordernd von unten an.

    „Wer will das wissen?", fragte ich ihn.

    „Kommen Sie sofort da runter."

    Ich tat wie mir geheißen. Rutschte dabei von einem Kotflügel ab und klatschte vor ihm auf die Straße. Rappelte mich wieder auf, spürte aber keinen Schmerz.

    „Fahren Sie bitte weiter, Sie können hier nicht stehen bleiben."

    Ich sah mich um. Autos fuhren an mir vorbei und hupten, was mir bis dahin gar nicht aufgefallen war.

    „Nun ja, würde ich ja gerne, ist aber nicht mein Auto und außerdem bin ich viel zu betrunken zum Fahren."

    „Nicht Ihr Auto, wie?"

    „Nein, mein Herr."

    Er schaute an mir vorbei und betrachtete den Wagen.

    „Sie haben das Dach verbeult und, wie mir scheint, auch die Motorhaube."

    Ich drehte mich um und sah prüfend auf das Dach.

    „Glauben Sie? Sieht doch halb so wild aus."

    „Folgen Sie mir bitte!"

    „Ach hören Sie schon auf, erwiderte ich, „offensichtlich ist dem Besitzer der Wagen nicht so wichtig, sonst hätte er ihn ja nicht einfach so hier stehen lassen, und an solch einem Tag …, ich zeigte in Richtung Brücke, „… wen interessieren da ein paar Beulen? Hier wird gerade Geschichte geschrieben und wir sind mittendrin. Davon können Sie Ihren Enkeln einmal erzählen. Genießen Sie das Spektakel."

    „Folgen Sie mir!", wiederholte er.

    Stattdessen zog ich meinen Ausweis und schwankte nach Hause.

    10. November 1989

    Heute wird es enden, dachte er. Nach so vielen Jahren wird es tatsächlich heute Nacht enden, so oder so.

    Seine Hand entspannte sich für einen kurzen Moment und der Griff ums Messer löste sich leicht, doch nur um gleich danach umso fester wieder zuzupacken.

    Er hielt sich das Messer eng an seine Brust gepresst.

    Er musste seine Nähe spüren.

    Er brauchte gerade ein wenig Halt.

    Viel zu früh war er da gewesen und bereute dies nun.

    Zweifel krochen in ihm hoch wie eine verdammte Schmarotzerranke an einem alten Baum.

    So viel Zeit war vergangen, seit alles begonnen hatte. So viel Zeit, dass er schon fast gelernt hatte, damit zu leben. Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Gestern war er noch einsam und unsichtbar eine Million Lichtjahre von seiner Vergangenheit entfernt, um sich nun, einen Tag und einen Anruf später, mitten in ihr wiederzufinden.

    Und er war so aufgeregt gewesen, dass er es nicht abwarten konnte und zu früh gekommen war, was er jetzt bereute. Zu viel Zeit zum Nachdenken.

    Alles hatte er damals aufgegeben und war weggerannt. Es gab nichts mehr, was er hätte tun können. In diesem Land war er nicht nur von dicken Mauern aus Beton und hohen Zäunen aus Stahl umgeben gewesen, sondern auch in einem undurchdringlichen Geflecht von Korruption und Vertuschung gefangen.

    Deshalb war er fortgelaufen, sonst hätte es ihn seinen Verstand gekostet. Hatte alles, was er noch liebte, aufgegeben und war an einem neuen Ort in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Und er hatte überlebt. Getragen von der Hoffnung auf Vergeltung überlebte er die Jahre. Doch die Zeit heilt nun einmal die Wunden, und der Wunsch nach Rache verblasste allmählich unter einer stetig wachsenden Kruste aus Normalität.

    Dann kam der Anruf und die Kruste juckte wie ein Sack voll Krätze. Und er kratzte sie auf und all der Hass und die Verzweiflung quoll wieder hervor, wie stinkender Eiter. Blanke Wut packte ihn und trieb ihn zur Eile an.

    So kam er unverzüglich hierher.

    Ohne richtigen Plan. Ohne einen Moment innezuhalten, um einen klaren Gedanken daran zu fassen, was er tat und was dies für den Rest seines Lebens bedeuten würde. Keinen Gedanken daran, ob er das, was er vorhatte, tatsächlich wird ausführen können, denn Vergleichbares hatte er nie zuvor getan. Keinen Gedanken, bis eben.

    Und ihm war kalt.

    Seine Knie zitterten und seine Füße waren fast taub. Er presste die Nachtluft bibbernd in seine Lungen und wieder hinaus.

    Er trat auf der Stelle leise von einem Fuß auf den anderen, bewegte seine Zehen in den Schuhen, um sie ein wenig warm zu halten, und er fürchtete, sich kaum mehr bewegen zu können, wenn es losging. Seine kalte Hand umschloss zwar noch die lange Klinge. Doch seine Kraft ließ langsam nach. Vielleicht hätte er doch eine Schusswaffe nehmen sollen, dachte er. Es wäre einfacher gewesen und schneller. Doch einfach wollte er es ja nicht, er wollte es von Angesicht zu Angesicht und er wollte es fühlen. Fühlen wie der Stahl in ihn dringen und der Hauch des Lebens aus ihm schwinden würde.

    Er schüttelte sich. Schüttelte die zweifelnden Gedanken aus seinem Kopf und seine Gliedmaßen ein wenig warm.

    Nein, es gab kein Zurück mehr. Kein Leben für ihn morgen, wenn er dies heute nicht zu Ende bringen würde.

    Ja, es war ein Fehler gewesen, so früh zu kommen, aber er hatte unter keinen Umständen den Moment verpassen wollen. Er wollte ihn auskosten, solange es ging. Er wollte den Augenblick tief in sich spüren, endlich einmal wieder etwas spüren, und wenn es nur die Vorfreude auf den Tod war.

    Wo blieb der verdammte Mistkerl nur, dachte er und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. Kurz nach 22 Uhr. Jetzt musste er gleich kommen, wer weiß, ob ihn seinerseits nicht schon ein Anwohner entdeckt hatte und beobachtete.

    Und dann sah er, wie im Hausflur gegenüber das Licht anging.

    Er hielt den Atem an und Adrenalin schoss ihm ins Herz, dass es ihn fast von den Füßen riss. War ihm tatsächlich eben kalt gewesen?

    Er sah, wie die Haustür aufging und ein Mann auf die Straße trat. Er sah, wie der Mann kurz stehen blieb, sich umsah, den Kragen seines Mantels hochschlug und die Straße hinunterging, fort von ihm.

    Er wartete, bis Max Schulte sich ein paar Meter vom Haus entfernt hatte, und trat dann aus seinem Versteck heraus.

    Nicht zu früh, warnte er sich. Schulte musste weit genug weg sein von diesem Haus, jemand könnte aus dem Fenster schauen und ihn beobachten.

    Als er sich in Bewegung setzte, merkte er erst, wie steif er tatsächlich vom unbewegten Warten in der Kälte geworden war. Er bekam seine Beine kaum vernünftig voreinander, und der Bürgersteig war nass und rutschig.

    Er war zu langsam, verlor den Abstand zu seinem Opfer und hatte auch noch die Straße zu überqueren, die zwischen ihnen lag.

    Vor Panik wurde er unvorsichtig, beschleunigte seinen Schritt und es hallte von den Wänden wider.

    Warum war es nur so verdammt ruhig hier.

    Langsam kam er ihm wieder näher. Er trat auf die Straße, doch das Kopfsteinpflaster war zum Teil schon überzogen mit gefrierender Nässe, sodass er ausrutschte und sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte.

    Hatte er dabei gestöhnt?

    Schulte beschleunigte seinen Schritt, er hatte ihn bemerkt, zweifellos. Er wurde zu schnell für ihn und in Panik rief er nach ihm. Es war eine völlig unsinnige Idee, doch er wusste sich nicht anders zu helfen. Zweimal, dreimal rief er seinen Namen und tatsächlich, überraschenderweise blieb Schulte stehen.

    Verdutzt stoppte er ebenfalls und haderte einen Moment. Mit dieser Reaktion Schultes hatte er nicht gerechnet, eher schon mit Flucht. Und für den Moment hielt die Welt den Atem an, gespannt auf die Explosion. Dann besann er sich, stürmte auf ihn zu und in dem Moment, als er bei ihm war, drehte sich Max Schulte zu ihm um.

    Sie standen Aug in Aug.

    Es war eine völlig skurrile Situation für ihn, unwirklich, wie ein nachwirkender Traum am frühen Morgen, gleich nach dem Erwachen.

    Sie starrten sich an und Schulte stand die Frage im Gesicht geschrieben: Wer zum Henker bist du denn?

    Wie hypnotisiert hob er das Messer, das er fest in seiner Hand hielt, bis in Bauchhöhe von Schulte – und stach zu.

    Langsam, eher zögerlich.

    Er spürte den Widerstand der Bauchdecke und nach ein wenig mehr Druck, wie er brach und seine Hand tief in den Leib seines Opfers fiel. Er sah ihm dabei fest in die Augen und suchte nach dem Moment, in dem Schulte klar wurde, wer sein Henker war und warum er jetzt zu sterben hatte. Er drehte das Messer um hundertachtzig Grad, drückte es nach unten, zog es langsam wieder heraus und durchschnitt ihm dabei abermals Magen und Gedärm. Warmes Blut lief über seine kalte Hand.

    Schultes Mund öffnete sich, doch sein Schrei blieb stumm. Seine weit aufgerissenen Augen, voller Angst und Schmerz, sahen hilfesuchend wild umher.

    Dann stach er kopflos auf sein Opfer ein. Wutentbrannt und mit blinder Raserei. Bauch, Hals, Nacken und Rücken. Fünfmal, zehnmal, er wusste es nicht mehr. Warme Tränen liefen ihm über sein Gesicht, und als er fertig war, stand er auf und sah auf sein Opfer hinab. Ein lebloser, verstümmelter Körper. Die Gliedmaßen weit von sich gestreckt. Der Kopf fast abgetrennt.

    Er erbrach sich gleich neben ihm.

    Er spürte keine Angst, setzte sich erschöpft auf die Bordsteinkante und wollte nur noch dort sitzen bleiben und sich erholen. Was würde jetzt kommen?

    Ben Mulder

    Wenn die Nacht schon so richtig übel war, kann der Morgen danach einfach nicht besser sein.

    Es gibt Nächte, die Heilung bringen, und, geknüpft an deren Morgen, der Abend zuvor wunderschön und keine Verschwendung war.

    Doch so ein Morgen war dieser Morgen nicht. Keine Heilung. Kein wunderschöner Abend. Nichts zum Schönreden. Nur Schmerzen, Übelkeit und Reue.

    Wenn ich trinke, schlafe ich mies. Das ist einfach so. Zuerst falle ich in eine Art Koma. Doch irgendwann in der Nacht wache ich auf, gequält von Müdigkeit und den Folgen des Alkoholkonsums. Kämpfe mit dem Kater, gegen das Kotzen und mein Herz legt Doppelschichten ein, um mich rein zu waschen. Ich spüre den Pulsschlag in jeder kleinsten Ecke meines Körpers.

    Es ist die Hölle.

    Jedes Mal.

    Wenn ich mit der Nacht durch bin und der Morgen sich gnädig zeigt, pelle ich mich aus dem Bett, dankbar, dass es vorüber ist, und zugleich fluchend, dass keine weitere Zeit für Erholung bleibt. Meine ersten Gedanken sind dann nicht „Nie wieder", diesen Selbstbetrug habe ich schon lange aufgegeben. Nein, die ersten Verknüpfungen kümmern sich darum, wie ich den Tag bis zum Abend ordentlich hinter mich bringen kann. Denn die Erfahrung sagt mir, ab Mittag wird es noch mal richtig schlimm. Dann kommt der Einbruch und die Übelkeit, Hand in Hand mit einer hinterhältigen Müdigkeit, wie dunkle Schatten in eine schmale Häusergasse, und mit ihnen die folgenschwere Entscheidung, die Qualen wie ein Mann auszutragen oder eben mit Alkohol und Tabletten zu überbrücken, um am nächsten Tag von vorne zu beginnen.

    Raten Sie mal, wie das ausgeht.

    Trotzdem stehe ich jeden Morgen auf und beginne den Tag pünktlich, und wissen Sie, warum? Weil ich meine Arbeit liebe und das bisschen Selbstachtung, welches ich noch besitze, mir klar vor Augen führt, dass dies der einzige Grund ist, um nicht komplett im Delirium zu verschwinden.

    Ich bin Polizist.

    Mit Leib und Seele.

    Morduntersuchungskommission Ostberlin. Oder kurz: MUK.

    Das war ich nicht immer. Ich stand auch schon mal ein paar Stufen höher auf der Leiter der Befehlskette, aber das ist eine andere Geschichte, vielleicht für später.

    Jedenfalls quälte ich mich auch an diesem Morgen mit krampfendem Magen und schmerzenden Beinen aus dem Bett.

    Im Nachhinein sei gesagt, dass ich mir das an diesem Tag ausnahmsweise einmal hätte sparen sollen. Es war eine folgenschwere Entscheidung, die ich traf, aber das konnte ich natürlich noch nicht wissen.

    Also stolperte ich quer durch meine Wohnung bis ins Badezimmer. Fluchend über mein verdammtes Pflichtbewusstsein fiel ich dort vor der Schüssel auf die Knie, um sie ordentlich anzubrüllen. Einer hatte es schließlich auszubaden.

    Meinen ganzen verdammten Frust der versoffenen letzten zwei Tage brüllte ich ihr entgegen und als ich fertig war mit Brüllen, setzte ich mich neben sie, erschöpft und leer, schaute durch das runde Dachfenster in den Himmel und sah die Sonne durch einen kleinen Riss im tiefen Grau kurz in mein Bad hineinkieken. Es war wunderschön. Ich mag Wolkenspiele und Weitblick. Deshalb lebe ich in einer Dachwohnung.

    Eine heiße Dusche ist so eine Art schwereloser Raum für Befindlichkeiten. Alles, was sich unter ihr abspielt – wie gut man sich auch immer fühlt – es zählt nicht für außerhalb. Sie täuscht über die Tatsachen hinweg wie eine magische Käseglocke und es ist wichtig, das zu wissen, dann ist die Enttäuschung später nicht so groß, wenn man merkt, dass man sich doch noch so richtig kacke fühlt und der Tag noch eine Ewigkeit dauern wird.

    Ich drehte die Dusche auf heiß, so richtig heiß, stieg hinein, stützte mich an der Wand ab und pinkelte. Hab mal gelesen, das würde Wasser sparen, und ja, warum eigentlich nicht.

    Ich blieb unter der Dusche, bis mein Kreislauf stotterte.

    Stieg aus der Dusche und stellte mich dampfend vor das Waschbecken. Die Zahnbürste in der rechten Hand haltend, schaute ich auf meine neblige Silhouette im beschlagenen Spiegel. Hob langsam die linke Hand, um die Feuchtigkeit vom Spiegel zu wischen, stockte kurz, denn ich wusste, dass mir nicht gefallen würde, was ich gleich sah. Presste dann meine platte Hand auf den Spiegel und zog sie quer hinüber.

    Und ja, Volltreffer.

    Diese Ränder ...

    Die Falten sind mir egal. Auch mit den feinen geplatzten Äderchen auf meiner Nase und den Wangen kann ich leben. Rote Augen, die werden bald wieder weiß sein. Aber die Ränder unter meinen Augen, die werden bleiben und jeder wird sie sehen. Und jeder wird denken, wie übel ich aussehe. Und ich hasse das. Ich will nicht, dass irgendjemand glaubt, mir ginge es nicht gut. Ich will nicht, dass sich irgendjemand überhaupt Gedanken darüber macht, wie es mir geht.

    Damit kann ich so gar nicht mit umgehen: eigene Schwächen!

    Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel, die Narbe über dem rechten Auge. Ich konnte mich schon lange nicht mehr daran erinnern, wie ich ohne ausgesehen hatte.

    Seit Tagen nicht rasiert und ich hätte fast alles an diesem Morgen lieber getan, als mich zu rasieren.

    Also ließ ich es sein.

    Freute mich stattdessen auf die Sprüche im Büro und beschloss einfach, dass ich heute Morgen nicht zum Chef gerufen werden würde.

    Ich ging näher an den Spiegel heran und suchte in meinem grauen Haar nach meiner eigentlichen Haarfarbe, schwarz. Hier und da noch zu entdecken, aber im Gesamtbild nicht mehr zu erkennen.

    Ich war alt. Aber das scherte mich nicht. Solche Eitelkeiten waren mir schon vor langer Zeit abhandengekommen. Ich hatte andere.

    Jeans, schwarzer Rollkragenpullover und ab in die Küche, die zwar sehr klein war, aber ich fand sie urgemütlich. Links Kühlschrank, Gasherd und Spüle, rechts ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und geradeaus eine Glastür mit schmaler Terrasse dahinter.

    Zwei Tassen ganz starker Kaffee mit reichlich Zucker, dazu zwei Titretta im Wasserglas und Bisoprolol in fast vorgeschriebener Menge. So langsam kam ich in Tritt.

    Schwarze Lederjacke, schwarze Lederstiefel, einen Toast mit Marmelade auf die Hand, so schlug ich die Eingangstür hinter mir zu und stieg die ausgetretenen und quietschenden Holztreppenstufen der Haustreppe von meiner Dachwohnung bis runter auf die Straße.

    Dietrich-Bonhoeffer-Straße 14

    Im Eingangsbereich blieb ich kurz stehen.

    Toast war weg, Zeit für eine Kippe.

    Ich kramte in meiner Jackentasche und fand ein zerknautschtes Päckchen mit zwei Zigaretten darin. Die erste hatte einen Riss. Heiland, bitte nicht. Die zweite war ebenso ramponiert wie die erste, ich strich sie vorsichtig glatt und, Themis sei Dank, sie war in Ordnung.

    Ist das normal, solch eine Erleichterung wegen einer Kippe?

    Ich zog mein silbernes Benzinfeuerzeug aus der rechten Hosentasche und zündete mir die Zigarette an. Dabei schaute ich auf die Klingeln neben der Haustür und auf die Namensschilder all der Personen, die im Haus lebten.

    Ich ging die Namen von oben an nach unten durch.

    - Mulder

    - Schneider

    - Garetzki

    - Schuhmann

    Schuhmann ... hhhmmm!!

    Hier blieb mein Blick hängen und ein kleines Kribbeln machte sich in meinen südlichen Gefilden breit.

    Nein, so weit südlich nicht, mehr in Höhe meines Magens. Ein warmes, schönes Kribbeln, ein echtes Gefühl.

    Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und trat auf die Straße.

    Es regnete.

    Bindfäden im Winkel von sechsunddreißig Grad.

    Ich sah die Straße hinunter.

    Am Horizont gossen sich die weichen Linien des wolkengrauen Himmels über die scharfkantigen Schattierungen der Stadt und verschluckten ihre Tiefe.

    Es sah aus wie ein Bild von Emil Nolde. Ein bisschen weniger bunt vielleicht.

    Der kalte Regen drang in alle ungeschützten Ritzen meiner Kleidung ein.

    Ich schritt zu meinem Wagen und seufzte laut.

    Jaaahh, mein Wagen, mein Baby!

    Ich stieg ein, drehte den Zündschlüssel, und es folgte ein motzendes rööhhr, rööhhr, rööhhr, was zu erwarten war.

    Ich liebe mein Auto, wirklich, ich liebe es sehr, aber es ist halt eine Französin und offensichtlich im Süden Frankreichs geboren und aufgewachsen. Es hasst Kälte und Feuchtigkeit.

    Aber es ist mein ganzer Stolz. Ein schwarzer Citroën CX. Und ist dies nicht schon außer- gewöhnlich genug, ist es ein Citroën CX Prestige, eine Luxuslimousine, ganz in Schwarz.

    Wie ich zu diesem Auto gekommen bin, hier in diesem Land? Wie die Jungfrau zum Kinde. Dieses Auto ist mein ganzer Stolz. Meine Insel der Freiheit inmitten versperrter Wege. Meine direkte Verknüpfung zum Außergewöhnlichen, zum Besonderen, zum heimlichen Protest. In ihm hebe ich mich vom Rest um mich herum ab.

    Scheiße, ich weiß, das klingt arrogant, aber es ist viel mehr als Arroganz. Für mich ist es ein Grund. Ein Grund, nicht zu viel über mein Leben außerhalb der Arbeit nachzudenken. Ein Grund, all die Einschränkungen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht zu analysieren, warum ich wieder allein bin. Ohne mein Auto wäre ich nichts anderes als ein weiteres dunkles Partikel in einer schwarzen Masse.

    Ich brauche keinen Urlaub am Meer in Bulgarien, mir reicht es, hin und wieder unbedacht mit meiner sanften Französin über die einsamen Feldwege im Norden zu schweben, die weichen Stoßdämpfer unter meinem Arsch und John Coltrane im Ohr.

    Und ja, mein Auto ist eine Sie.

    So glitt ich auch diesen Morgen über die nassen Straßen Ostberlins dahin.

    Dietrich-Bonhoeffer-Straße bis zum Arnswalder Platz, mit seinem monumental hässlichen Stierbrunnen oder auch Fruchtbarkeitsbrunnen. Furchteinflößend. Am Platz rechts, in die Bötzowstraße, beidseitig flankiert von Altbauten aus der Jahrhundertwende, wunderschön und großzügig angedacht, jedoch sah man ihnen ihr Alter exakt auf den Tag genau an. Abgeplatzter Putz, bröckelnder Stuck, leider keine Ausnahmeerscheinung. Hier kümmerte man sich einen Scheiß um seine Gebäude, oder Straßen, oder ..., ach hören wir auf damit. Bötzowstraße bis zum Ende, und dann rechts abbiegen in die Straße Am Friedrichshain. Vorbei am großen Bunkerberg im Volkspark, und von dort bis zur Ecke Greifswalder Straße, dann links abbiegen, und immer geradeaus bis zur Hans-Beimler-Straße. Hier wurde die Straße schon fast verschwenderisch breit.

    An Ampeln, an denen ich hielt, lugten die Menschen unter ihren Regenschirmen hervor und warfen Blicke auf meine Süße, aber das war ich gewohnt. Männlein wie Weiblein schauten immer, wenn wir vorfuhren, meistens allerdings mit Argwohn.

    Polizeipräsidium Keibelstraße

    Diese Stadt ist der Inbegriff der Farbe Grau. Ernsthaft schlagen Sie es nach: Grau = Ostberlin. Und an Tagen wie diesen, im November, müssen Sie Grau schon wirklich mögen, um nicht in unmittelbare oder posttraumatische Depressionen zu verfallen. Hab mich schon oft gefragt, ob das wohl so gewollt war, alles schön grau halten. Grau und funktionell, dann kommste auch nicht auf doofe Gedanken.

    Vielleicht steht´s ja aber auch in irgendeinem Nebensatz von Engels oder Marx: Lasst es grau sein!

    Oder so ähnlich.

    Während ich meinen Wagen quer durch Berlin steuerte und mich an den freien weiten Straßen erfreute, war die Stadt wie ausgestorben. Die meisten Einwohner lagen sicher noch mit einem angemessenen Kater im Bett. Schon seit ein paar Wochen war der übliche Alltag ins Wanken geraten, und mit jedem Montag wurde es chaotischer. Doch nun, seit zwei Tagen, nach dem großen Fall, war unsere Welt vollends aus den Angeln gehoben und es schienen keine Automatismen mehr zu greifen. Die einen feierten und die anderen diskutierten. Bei Weitem nicht alle freuten sich, einige hatten auch etwas zu verlieren. Und an diesem Morgen lag die Stadt lahm und ich war gespannt, wann wieder Normalität eintreten würde. Wobei, wahrscheinlicher war, dass es damit vorbei ist und unsere Normalität nie wieder sein würde.

    Ich parkte meinen schwarzen Schatz auf dem Parkplatz vor dem Revier. Stieg aus, verschloss sie und streichelte ihr beim Vorbeigehen sanft über den Kotflügel. Hätte ich gewusst, dass dies für lange Zeit unser letzter gemeinsamer Moment sein sollte, wäre ich auf die Knie gegangen, hätte sie umarmt und gebeten, sie solle gut auf sich achtgeben.

    Ich betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Grüßte kurz die Wachhabenden, stieg in den Aufzug ein und im vierten Stock wieder aus. Der Flur vor mir spaltete sich in zwei Richtungen, einmal links und einmal rechts. Beide beleuchtet von kaltem Licht aus standardisierten halbrunden, länglichen Neonlampen, kein Tageslicht. Die Flurwände waren mit Holzvertäfelungen beschlagen und auf dem Boden lag ein grüner, kurzer Teppich.

    Ich wählte den rechten.

    Zu beiden Seiten waren Büros angeordnet, rechts mit Blick auf die Keibelstraße und das ansässige Untersuchungsgefängnis, links mit Blick auf die zugehörigen Parkplätze auf der Hans-Beimler-Straße.

    Das Gebäude an sich war ein langer, sechsstöckiger, rechteckiger Kubus, schlicht und monumental. Sozialistischer Klassizismus. Oder, richtigerweise, Eisenbetonskelettbau. Muss ich mehr sagen?

    Es war kalt, hässlich und einfallslos funktionell.

    Ich lief den Gang entlang in Richtung meines Büros. Vorbei an endlosen Türen, manche geöffnet, die meisten jedoch geschlossen.

    Mehr noch geschlossen als die letzten Wochen. Die Revolution legte auch unseren Laden lahm. Und rückblickend auf die Ereignisse der letzten Wochen und der damit zusammenhängenden Untaten, die hier in diesem Gebäude Bruder und Schwester zuletzt angetan wurden, war es nur allzu verständlich, dass viele es nicht mehr mit sich einen konnten, im Moment hierherzukommen. Und ob es nun Angst vor den möglichen zukünftigen Konsequenzen war, die meine Kollegen fernhielt, oder Zweifel, konnte ich nicht sagen und es änderte auch nichts an der Tatsache, dass das Gebäude erschreckend leer war und mir das gar nicht gefiel.

    Oberst Karl Steinhoff

    Drei Abteilungen waren in dem Geschoss untergebracht, ein Teil der Verkehrspolizei, Kriminalpolizei und wir vom MUK.

    Insgesamt acht zuständige Mitarbeiter inklusive einer Stenosachbearbeiterin zählte unsere glorreiche Truppe.

    Unsere Büros lagen am Ende des Ganges

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