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Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein: Frei und glücklich - ein Leben ohne Alkohol
Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein: Frei und glücklich - ein Leben ohne Alkohol
Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein: Frei und glücklich - ein Leben ohne Alkohol
eBook424 Seiten4 Stunden

Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein: Frei und glücklich - ein Leben ohne Alkohol

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Über dieses E-Book

Deutschland ist ein Hochkonsumland: Laut BZgA trinken rund 9,5 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren so viel Alkohol, dass sie ihre Gesundheit damit gefährden. Catherine Gray trinkt zunächst hin und wieder, dann immer mehr, bis der Alkohol fester Bestandteil ihres Lebens ist. Doch sie schafft die Kehrtwende und war völlig überwältigt von den Möglichkeiten, die sich ihr dadurch eröffneten. Ihr Buch geht weit über lustige Suffgeschichten hinaus: Sie spricht mit Wissenschaftlern und Psychologen darüber, warum wir trinken, was wir uns damit antun, und wie der Ausstieg gelingen kann. Herzzerreißend und geistreich erzählt sie, wie sich der erste Tag »danach« anfühlt und warum ein nüchternes Leben viel berauschender sein kann, als Sie es sich jemals vorgestellt haben.

»Tapfer, witzig und brillant geschrieben« - Marie Claire
SpracheDeutsch
Herausgebermvg Verlag
Erscheinungsdatum5. Nov. 2018
ISBN9783961212651
Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein: Frei und glücklich - ein Leben ohne Alkohol

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    Buchvorschau

    Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein - Catherine Gray

    I

    DAS ALLNÄCHTLICHE ABSTEIGEN IN DIE UNTERWELT

    AUFWACHEN HINTER GITTERN

    Sommer 2007

    Beim Aufwachen friere ich. Die Matratze ist gerade mal einen Zentimeter dick. Mein Kopf liegt an einer kahlen Betonwand. Über mir eine nackte Glühbirne. Ich blinzle in das unbarmherzige Licht wie ein Vampir, der vor der Sonne zurückschreckt. Wo zum Teufel bin ich? Mühsam setze ich mich auf, stütze meinen Kopf in die Hände. Uff, das tut weh. Wenn ich jetzt eine Comicfigur wäre, würden Sterne um meinen Kopf tanzen.

    Ich sehe Gitter vor den Fenstern. Und davor eine Ziegelwand. Sieht aus, als befände ich mich in einer Gefängniszelle. Das kann doch nicht wahr sein.

    »Entschuldigung«, rufe ich durch eine sicher meterdicke Tür.

    Keine Reaktion.

    »ENTSCHULDIGUNG!«, rufe ich in gebieterischem Ton, als wäre ich im Restaurant und wartete aufs Essen.

    Ein Polizeibeamter öffnet die Luke mit einem Klacken und späht zu mir herein.

    »Wo bin ich?«, frage ich.

    »Polizeistation Brixton«, antwortet er geduldig.

    »Wieso das denn?«

    »Sie wurden letzte Nacht wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet. Eine Polizeibeamtin versuchte, sie nach Hause zu bringen. Sie sagten ihr, sie solle sich verp...«

    Ich atme kurz durch, die ganze Misere meiner augenblicklichen Lage kriecht mir ins Gebein. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft. An einen netten, aber müden Arzt, der mich fragte, wie viel ich denn getrunken hätte, und der mich bat, die gerade Linie auf dem Boden entlangzugehen. An eine Polizeibeamtin kann ich mich überhaupt nicht erinnern.

    »Na ja. Kann ich jetzt gehen?«

    »Nein. Der Arzt meinte, Sie wären erst um neun Uhr nüchtern genug, um nach Hause zu gehen.«

    »Aber ich muss um 9:30 Uhr im Büro sein! Ich muss den Zug um 8:30 Uhr erwischen.«

    »Tut mir leid, aber so sind die Bestimmungen ... Sie sind doch eigentlich ein ganz nettes Mädchen. Warum haben Sie denn so viel getrunken?«

    Darauf habe ich keine Antwort. Tatsache ist, dass ich nicht wüsste, was ich auf sein »Warum« antworten sollte. Ich habe einfach nie das Gefühl, die Wahl zu haben. Sobald ich was trinke, mache ich das richtig. Und in 99,9 Prozent der Fälle bin ich danach komplett abgefüllt. Voll wie eine Strandhaubitze. Blau. Wenn ich das Weinglas einmal hebe, so scheint es, mache ich das so lange, bis ich es eben nicht mehr heben kann – weil ich kein Geld mehr habe, eine Freundin mich nach Hause bringt oder alle Bars geschlossen haben. Oder weil ich bewusstlos in einer Zelle liege.

    Überhaupt bin ich empört. Wieso werde ich eingesperrt, nur weil ich ein paar Schimpfwörter gebraucht habe? Wird nicht immer behauptet, wir hätten Meinungsfreiheit? Oder haben das nur die Amerikaner? Ich muss dringend mal pinkeln, aber die einzige Gelegenheit in der Ecke bietet nun wirklich keinerlei Privatsphäre. Der Typ könnte schließlich die Luke wieder öffnen. Ich fühle mich wie ein Tier im Käfig.

    Heute ist ein ganz normaler Werktag! Ich müsste also bei der Arbeit sein. Ich müsste mich duschen. Versuchen, mein Haar wieder halbwegs in Form zu bringen nach den Schäden von letzter Nacht. Um neun Uhr vormittags lassen sie mich dann endlich gehen. Ich muss 90 Pfund (damals ungefähr 135 Euro) Strafe zahlen, aber ich werde keine Anzeige bekommen und muss auch nicht vor dem Kadi erscheinen. Ich bin also noch mal glimpflich davongekommen. Ich sollte dankbar sein. Stattdessen koche ich vor Wut.

    »Ich hole nur Ihre Sachen«, sagt einer der Polizisten zu mir.

    Irgendwas scheint ihn zu amüsieren. Er sieht jedenfalls so aus, als bemühe er sich krampfhaft, sich das Lachen zu verbeißen.

    Während ich warte, bis er zurückkommt, knurre ich vernehmlich, um mein Missfallen zu bekunden. Nun, immerhin scheine ich meine Handtasche noch zu haben. Wenigstens etwas.

    Er überreicht mir einen Plastiksack, wie man ihn für das Sammeln von Beweismitteln verwendet. Drinnen ist eine winzige, wassermelonenrosa glitzernde Kinderhaarbürste. EINE WINZIGE ROSAROTE HAARBÜRSTE. Das ist alles. Ich habe das Ding noch nie gesehen. Keine Handtasche, keine Schlüssel, kein Telefon, kein Geld, keine Kreditkarten, kein Garnix. Ich laufe vor Scham und Zorn rot an und stampfe aus dem Büro, laut schimpfend, dass ich Anzeige erstatten würde.

    Ich komme trotzdem in meine Wohnung, denn mein Freiberufler-Mitbewohner ist noch nicht zu seinem Meeting unterwegs. »Meine Güte, was ist denn mit dir los?«, sagt er und tritt bei meinem Anblick vorsichtshalber einen Schritt zurück.

    Ich krieche ins Bett und rufe vom Festnetzanschluss aus meinen Freund an, um ihm alles zu erzählen. (Er ist der Einzige, dem ich solche Geschichten je erzählt habe, bis ich dann trocken wurde.) Er meldet sich im Büro unter dem Vorwand ab, einen Notfall in der Familie zu haben, und fährt zu mir, um mich zu trösten. Ich weine mich an seiner Schulter aus. Darüber, wie unfair das alles ist. Natürlich habe ich mich betrunken auf dieser Betriebsfeier, auf der sämtliche Drinks gratis waren. Wer täte das nicht?! Hätte diese dumme Gutmenschen-Polizistin nicht versucht, mir zu helfen, dann hätte ich sicher nach Hause gefunden.

    Vier Stunden später erscheine ich im Büro. Meine nette Chefin rief mich um 10:30 Uhr auf meinem Festnetzanschluss an und meinte, sie hätte gehört, es hätte mich gestern ein wenig erwischt. Ich solle mich ruhig ausschlafen, mir einen Tee machen und mich erholen, bevor ich ins Büro käme. Offensichtlich sehr tolerant. Die Leidensmiene aber, die sie aufsetzte, als ich durch die Bürotür trat, sagte deutlich, sie habe damit nicht einen halben Tag gemeint. (Bei einem späteren Mitarbeitergespräch sagte sie mir auf ihre freundliche, sanfte Art, sie wäre an jenem Tag von mir »sehr enttäuscht« gewesen. Die Untertreibung des Jahrhunderts.)

    Gestern Abend hatten wir unser Sommerfest, somit ist es ein offenes Geheimnis, warum ich zu spät bin und warum ich so einen Kater habe, aber auf Verständnis stoße ich bei niemandem. »Wir sind ja schließlich auch alle pünktlich zur Arbeit gekommen, obwohl uns der Schädel brummt. Warum geht das dann bei dir nicht?«, fragte ein Arbeitskollege. Ich ziehe den Kopf ein und sehne den Feierabend herbei.

    Ich versuche zu rekonstruieren, ab wann die Bilder meiner Erinnerung unscharf werden wie eine schwarzgebrannte DVD. Etwa gegen 21 Uhr muss das gewesen, als es noch hell war. Offensichtlich sind wir vom Pub weitergezogen ins Beach Blanket Babylon, eine toll ausgestattete Bar, die aussieht wie der Palast eines griechischen Gottes und den Jetset von Chelsea anzieht. Ich kann mich nicht erinnern, den Laden betreten zu haben. Offensichtlich hat man mich vor die Tür gesetzt, weil ich schon hackedicht war.

    Dann nahm ich mir, wie ich erfuhr, mit ein paar Kollegen ein Taxi zurück nach Brixton, wo meine neue Wohnung liegt, die ich mir mit einem Mitbewohner teile. Aber ich konnte mich einfach nicht an meine Adresse erinnern. Keine Ahnung, wo ich wohnte. Also ließ man mich am Brixton Hill raus, ungefähr fünf Minuten von der Wohnung entfernt, weil ich mich erinnerte, dass es hier irgendwo sein musste. Und bei meinem Versuch, nach Hause zu krabbeln, hat sich wohl mein Weg mit dem der Polizistin gekreuzt. Die mich zu Recht wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftete.

    In Brixton, immerhin. Für all jene, die diesen Teil Südlondons nicht kennen: Es ist wirklich kein Leichtes, in Brixton wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet zu werden. 2007 war das ein Ort, an dem einen Dealer mit einem »Pssst« am Ausgang der U-Bahn-Station ansprachen – um 18 Uhr. So was um 21 Uhr zu bringen, das grenzte ja an Landfriedensbruch.

    Das war jedoch lange bevor Brixton zur Heimstatt der Hipster-Gentrifizierer wurde, die sich von Chiasamen ernähren. Bevor die ganzen Vintage-Läden eröffneten und die Hochglanz-Nudelbars. Bevor man Cocktails in Marmeladengläsern servierte und die Plattenläden nur noch Vinyl verkauften, gleich neben den Pilatesstudios mit ihren schicken Reformer-Geräten zum Trainieren. Lichtjahre bevor die bärtige Elite Londons in ihren Hummern anrollte und die Preise nach oben trieb.

    Damals war Brixton noch rußgeschwärzt. Seine Einwohner arm wie die Kirchenmäuse. Nach Brixton zog man, wenn man nirgendwo sonst etwas fand. Am Ende einer Nacht, am Ende der Straße, am Ende der Welt. In meine Lieblingspubs dort – das Dogstar, das Mango Landing und das Hootananny – kam man auch noch hinein, wenn man schon sternhagelvoll war. Aus diesem Grund waren es vielleicht meine Lieblingspubs.

    Ich sah mal eine Frau, die um zwei Uhr morgens in Brixton aus dem Bus stieg, sich niederhockte, mal kurz kackte und dann wieder in den Bus stieg, als wäre das die normalste Sache der Welt. Als wäre sie nur mal schnell ausgestiegen, weil sie ihre Einkaufstasche vergessen hatte. Exzessiv zu saufen war in Brixton kinderleicht. Ich habe Leute im Park gesehen, die sich volllaufen ließen. Brixton war das Babel Londons, wo man selbst als total Irrer nicht auffiel, weil alle anderen rundum auch völlig durchgeknallt waren. Es gab immer einen, der noch besoffener und aggressiver oder verrückter war als du.

    Man kann daher schon von einer ordentlichen Leistung sprechen, da es mir in jener Nacht gelang, das übliche bunte Häuflein von Zechern zu überbieten und mir einen Platz in einer der wenigen Ausnüchterungszellen zu sichern. Dazu bedurfte es schon eines gewissen auffälligen Verhaltens meinerseits.

    Am Abend des Freitags, nachdem ich in der Zelle aufgewacht bin, trinke ich nichts. Am Samstag aber halte ich mich schon wieder gut ran. Natürlich. Ich finde, das habe ich mir verdient. Ich finde, es macht immer noch Spaß, selbst nach dieser schrecklichen Erfahrung, die noch keine 32 Stunden zurückliegt.

    Mein Leben ist ein Zootrop geworden, Sie wissen schon, diese rotierenden Zylinder, bei denen man durch Schlitze schaut und der Illusion erliegt, dass sich da drin etwas bewegt. Dabei ist es immer dieselbe starre Abfolge von Bildern. Und gleich dieser starren Abfolge von Bildern fühlte ich mich festgefahren in immer derselben Sequenz von Ereignissen. Kismet eben, Schicksal. Trinken, Kater, sich winden angesichts der Folgen, Erholung, Trinken, Kater, sich winden ...

    Es scheint, als gäbe es keine Befreiung aus diesem Hamsterrad. Wo gibt es hier einen Ausstieg? Wie schaffe ich es, mich aus dieser Sequenz zu lösen? Eine neue zu beginnen? Das ist so unvorstellbar, dass allein die Vorstellung im Gehirn schmerzt. Ich weiß einfach nicht wie. Also trinke ich weiter und mehr.

    VERLOREN IM UNTERGRUND VON SOHO

    Trinken raubt dem Morgen sein Glück.

    Unbekannt

    Als ich zum ersten Mal betrunken war, hatte ich das Gefühl, ich hätte endlich mein »falsches« Ich abgelegt und sei in ein nagelneues geschlüpft. Eines, das sich unglaublich richtig anfühlte. Eines ohne all die stachligen Behinderungen. Es war, als hätte ich ein Kettenhemd abgelegt und sei in ein himmlisches Seidenkleid geschlüpft.

    Mehr als 40 Prozent der Menschen, die vor dem 15. Geburtstag mit dem Trinken beginnen, werden am Ende abhängig von Alkohol. Ich war zwölf, als ich damit anfing. Als unglaublich ängstliches Kind glaubte ich mehr und mehr, dass Gelassenheit nur aus der Flasche zu bekommen sei. Dass die besten Geschichten auf dem Boden von Gläsern ruhten. Dass der Alkohol das richtige Anästhetikum für meine Ängste war.

    Bevor ich angefangen hatte zu trinken, hatte sich mein Leben trist angefühlt. Mein Einstieg war der klassische White Lightning Cider, den ich auf dem Parkplatz von McDonald’s konsumierte. Mit 13 ging ich bis zu dreimal die Woche in Klubs. Meine beste Freundin und ich schlossen uns einer Gruppe 17-Jähriger an, die uns ihre Klamotten liehen, uns mit dem Make-up halfen und uns in Wolverhampton ins The Venue und ins The Dorchester einschleusten.

    Ich war ein Indie-Kid, ein Grebo-Fan mit Lederjacke, der sein Zimmer mit Sandelholz ausräucherte. In der Nase trug ich einen kleinen silbernen Hengst, die Haare leuchteten hennarot, und dazu gingen natürlich nur Doc Martens und zarte Blümchenkleider. Ich brütete stundenlang über der Melody Maker und NME, den coolsten Musikzeitschriften überhaupt, und stellte mich vor His Master’s Voice an, einem Plattenlabel, als sie das neue Album von Weezer herausbrachten. Im Grunde wollte ich sein wie Angela Chase in der Fernsehserie Willkommen im Leben.

    Zeitschriften waren meine ganze Leidenschaft. Sie halfen mir, meiner tristen Existenz zu entkommen. Jeden Mittwoch eilte ich schnurstracks zum Zeitschriftenladen mit genau 70 Pence in der Hand und holte mir Just Seventeen. Und stolperte zur Bushaltestelle, weil ich sofort zu lesen anfing. Später entwickelte ich ein Suchtverhältnis zu Minx, 19, Glamour und Cosmopolitan. Ich las alles über Justine, die Frontfrau von Elastica, und über Sonya von Echobelly, über Marijne von Salad und Louise von Sleeper, während ich durch Soho und Camden spazierte. Ich wäre so gerne mit ihnen losgezogen, aber ich lebte nun mal in Dudley, einem verschlafenen Nest im Black Country. Es gab Leute, die mir geradeheraus ins Gesicht lachten, wenn ich sagte, dass ich aus Dudley käme.

    Das Leben war zu scharfkantig, zu schmerzhaft, zu real und zu laut, wenn ich nüchtern war. Das Trinken brach die harten Ecken und Kanten und ließ alle Konturen verschwimmen. Aus einer grauenerregenden Andy-Warhol-Pop-Art-Welt wurde so ein verschwommenes Monet-Aquarell. Im nüchternen Zustand war die Tanzfläche eines Klubs ungefähr so anziehend wie Mad Max’ Donnerkuppel. Betrunken war das genau meine Arena. Der Alkohol machte mich zum Partygirl, wenn ich mich am liebsten verkrochen hätte. Aber das alles war nun mal nicht real. Dieses Ich war nicht ich.

    Filmrisse hatte ich von Anfang an. Ich glaubte damals, jeder würde diese verlorenen Nachtstunden kennen – nun, das ist wohl nicht so. Ich dachte, jeder Mensch würde sich angespannt und unwohl fühlen, bis er seinen ersten Drink hatte – das ist wohl nicht so. Ich fühlte mich immer irgendwie als Außenstehende, wenn ich mit Menschen zusammen war, und war nie in der Lage, meine Hemmungen abzulegen und mich auf andere einzulassen. Der Alk öffnete mir die Tür, holte mich aus der Kälte und platzierte mich im Mittelpunkt jeder Party.

    An der Uni besuchte ich höchstens ein Viertel meiner Vorlesungen, und doch schaffte ich irgendwie einen Schnitt von 2,1. Wie ein Zauberer, der Münzen aus seinem Ärmel holt. Ursprünglich dachte ich, ich sei einfach süchtig danach, mit meinen Freunden auszugehen, aber die Wahrheit ist: Wenn meine Kommilitonen im Sommer die Stadt verließen und ich als Einzige blieb, um an der Bar zu arbeiten, trank ich genauso viel wie zuvor. Mit jedem, den ich aufgabelte, auch mit den mitunter zwielichtigen Stammkunden im Pub. Sie vertragen auch einen ordentlichen Stiefel? Super! Füllen wir uns doch gemeinsam ab.

    Ich schrieb Dutzende von Bewerbungen für ein Praktikum bei einer Zeitschrift. Ein Jahr lang machte ich irgendeinen dämlichen Marketingjob, um ein wenig Geld auf die Seite legen zu können. Schließlich aber bekam ich den Fuß in die Tür. Nachdem ich ein Jahr lang als Praktikantin bei Glamour und Cosmopolitan geschuftet hatte, bot man mir bei Letzterer eine Stelle als Junior Editor an.

    Ich lande in Soho

    Ich liebte meinen Job und arbeitete wie besessen. Aber mein Job hatte einen Haken – den ich damals als todschickes Extra betrachtete. Ich hatte nämlich Zugang zu allen möglichen Partys. Und ich konnte tatsächlich gratis trinken, wenn ich wollte. Und ich wollte.

    Der halbseidene Abgrund von Soho wurde meine Heimat. Ich jagte durch die Nacht bis an ihr Ende. Ich brachte in Erfahrung, wo die heimliche Bar im Keller lag, das Trisha’s, das sich hinter der leuchtend kornblumenblauen Tür zu einem Wohnhaus verbarg. Und ich besaß das Codewort. Das Trisha’s war vollgestellt mit Plunder. Es stank dort nach Kippen, die Tapete schälte sich von den Wänden, und der Wein war immer warm. Aber es war nie geschlossen, daher war es mein Paradies.

    Ich war dabei, als Amy Winehouse einen spontanen Gig in einem schäbigen Loch an der Greek Street hinlegte. Sie sang: »They tried to make me go to rehab, I said no, no, no«, und ich sang mit. (Sie haben versucht, mich auf Entzug zu schicken, ich sagte nein, nein, nein.) »Die kann ja kaum noch stehen«, flüsterte einer meiner Kumpels. Ich zuckte bloß mit den Schultern. Ich fand sie cool.

    Ich schwindelte mich in den VIP-Raum eines glitzernden Casino-Hotels, indem ich behauptete, ich sei Delta Goodrem. (Wenn man ein Auge zukniff und es sehr, sehr dunkel war, hätte man mir das damals sogar abnehmen können. So ein bisschen wenigstens.) Mein Kumpel und ich (er gab sich als Brian McFadden aus, mit dem sie damals ging) teilten uns den wohnzimmergroßen Raum mit den echten VIPs Victoria Beckham und Gordon Ramsay. Wir tanzten mit ihnen zu Britneys Musik. Bis der Barmann uns höflich, aber bestimmt hinauseskortierte. VB schickte uns zum Trost eine Flasche Champagner.

    Ich hing in einer schicken, mahagonigetäfelten Bar – nur für Mitglieder – herum, die nach Zigarren und nach Mafia roch, neben mir Männer mit beeindruckenden Schnurrbärten, die Brandy tranken und Geschäfte machten. Eines Tages, ich wollte gerade gehen, da sah ich Christian Slater hereinkommen. Ich stürzte auf ihn zu und sagte ihm, ich hätte ihn in Hart auf Sendung so toll gefunden. Und er antwortete: »Bleiben Sie doch noch. Gehen Sie nicht.« Dann lud er mich auf einen Drink ein. Er meinte, er fände meinen Namen schön, und ließ ihn über die Zunge rollen: Catherine Graaaay.

    Einmal blieb ich bis um sechs Uhr morgens auf und sang Karaoke mit Johnny Vegas. In dieser Nacht ging ich nicht mehr nach Hause. Das hätte nichts mehr gebracht. Stattdessen nächtigte ich in der Damentoilette der Cosmopolitan-Redaktion, wo ich arbeitete, und versuchte, mich morgens dort zu waschen.

    Ich besorgte mir Backstage-Tickets für das Live-8-Konzert und lernte Madonna, Sting, Snoop Dogg, Paris Hilton, die Bandmitglieder von Kaiser Chiefs, Richard Ashcroft und die Leute von Stereophonics kennen. Ich sammelte Händedrücke von Berühmtheiten wie Bildkarten beim Poker. Nach dem Konzert ging ich mit Jo Whiley und Fearne Cotton einen heben und plauderte mit ihnen darüber, wer den besten Auftritt hingelegt hatte. Der Sonnenschein Fearne – ich war hin und weg. Sie lud mich zu einer After-Show-Party mit Razorlight ein: »Bitte komm doch. Ich brauche eine Begleiterin.«

    Ich rauchte Gras mit Finley Quaye. Stephen Dorff lud mich zu einem Auftritt von Girls Aloud ein. Marco Pierre White sagte mir, er liebe mich, und lud mich am Ende des Interviews ein, in seinem Restaurant gratis zu speisen, wann immer ich wolle. Ich habe es leider nie geschafft, denn, nun ja, das Trinken kam dazwischen. Essen war einfach Schwindel. Ich sagte nur dann Ja, wenn jemand mich zum Trinken einlud, nicht zum Essen, nicht einmal, wenn das Abendessen drei Michelin-Sterne hatte. Wer seinen Wein nicht austrank, stand für mich auf einer Stufe mit Leuten, die an einem heißen Tag ihren Hund im Auto ließen.

    Als ich für Glamour arbeitete, flog ich in der Businessclass nach Washington und logierte dort in einem Fünf-Sterne-Hotel, um ein Interview mit Reese Witherspoon zu machen. Kaum war das Interview im Kasten, marschierte ich ins nächste Straßencafé, kippte einen Wein nach dem anderen und redete mir ein, so »erlebe« ich Washington live. (Ich könnte heute noch heulen, dass ich diese großartige Stadt nicht erkundet habe, als ich die Gelegenheit dazu hatte.) Am nächsten Tag hatte ich einen Termin im Weißen Haus mit Michelle Obama (zusammen mit ungefähr hundert anderen Leuten). Obwohl ich fürs Weiße Haus frisch geputzt und gestriegelt war, saß mir der Hangover tief in den Knochen. Als Michelle mich ansah, mir die Hand schüttelte und »Hello« zu mir sagte, runzelte sie kurz die Stirn. (Die Frau ist wirklich blitzgescheit!)

    Das war doch mein Traum, oder? Das war das Leben, das jeder sich gewünscht hätte. Meine Freunde erzählten mir ständig, wie sie mich um diesen Job beneideten. Ich arbeitete mir tagsüber die Finger wund, um sie abends am Weinglas zu kühlen. Gelegentlich nahm ich mir einen Abend frei und prügelte meine Lust auf etwas Alkoholisches im Fitnessstudio nieder.

    Innerlich aber gab es die ersten Risse. Ich lebte in ständiger Angst, dass man mich vor die Tür setzen könnte, wenn herauskam, dass meine angebliche Lebensmittelvergiftung keine war. Oder dass mein Filmriss beim Stelldichein mit einem meiner Kollegen ans Licht käme. Die Angst fraß mich innerlich auf wie Termiten, die lange Zeit unsichtbar an einem Haus nagen. Mein Seelengerüst, mein Fundament begann zu bröckeln.

    Der Preis für die Party

    Das Partymachen forderte seinen Tribut. Ich rief immer öfter in der Redaktion an und meldete mich krank. Ich sagte mir, dass ich mich dafür ja nie krankmeldete, wenn mir wirklich was fehlte. (Stattdessen steckte ich meine Kollegen an, was ja echt nett war.) Da fielen doch die paar Fehltage wegen Brummschädel gar nicht ins Gewicht. Ich registrierte sie auch peinlich genau in meinem Kalender, damit ich immer wusste, wie viele es pro Jahr bereits gewesen waren. Warum aber sollten mir freie Tage zustehen und meinen hart arbeitenden Kollegen nicht? Keine Ahnung. Irgendwie hatte ich wohl das Gefühl, die Welt schulde mir einen Gefallen.

    Die Kater, für die meine Krankheitstage draufgingen, waren jene, an denen ich wie gelähmt war. An denen ich buchstäblich den ganzen Tag nicht aus dem Bett kam. Oder jene, an denen ich um zehn Uhr vormittags in den Klamotten vom Vortag irgendwo am anderen Ende Londons, weit weg von meiner Wohnung, aufwachte (was recht häufig vorkam).

    Meine Vorgesetzten rügten mich beim Mitarbeitergespräch immer wieder, weil ich so oft krank war. Sie machten peinliche Scherze darüber, dass ich vielleicht mehr Vitamine zu mir nehmen sollte, oder sie verpassten mir die bittere Pille mit einem Zuckerl in Gestalt von Lob für meinen Arbeitseifer in der übrigen Zeit. So alles in allem kam ich immer wieder durch. Ich wurde wieder und wieder befördert. Ich gewann einen Preis als beste Newcomer-Redakteurin und schaffte es noch auf die Liste der Nominierten für einen zweiten Preis.

    Doch Sätze wie »Kann ich mal mit Ihnen sprechen?« oder ein scherzhaftes »Mit Ihnen habe ich ein Hühnchen zu rupfen« jagten mir jedes Mal eine Heidenangst ein. Mein Gegenmittel? Ich machte mein Katergesicht zurecht und segelte in voller Montur hinaus ins Londoner Nachtleben, um wieder das zu tun, was ich getan hatte.

    Ich litt unter Wunschtrinken. Heute Abend würde ich es schaffen. Heute Abend würde ich im Pub zwei Drinks nehmen, mit meinen Freunden lachen und dann nach Hause gehen, beschwingt und mit leuchtenden Augen, um das Abendessen zuzubereiten und früh zu Bett zu gehen. Morgen würde ich dann aufstehen und um sieben Uhr früh laufen gehen, statt stöhnend auf den Wecker einzuhauen. Wie dem Verdurstenden, der die Wasserstelle in der Wüste vor Augen sieht, ohne dass er sie je erreicht, entschwand mir diese Oase stets.

    Mein ideales »Heute« und »Morgen« glänzten immer strahlend in weiter Ferne. Das Gemüse für das Abendessen verlor in meinem Kühlschrank den Lebenswillen. Beim Aufruf zur letzten Runde wiederholte sich immer dieselbe Szene. Wie beim letzten Nachtbus, beim morgendlichen Gestolper oder unter der Dusche, wo ich mir stets wünschte, das Wasser würde meine Schamgefühle mit sich in den Abfluss nehmen. Zu essen gab es dann ein Bacon-Sandwich und eine große Coke.

    Ich hatte Angst davor, still zu sitzen. Zu Hause zu bleiben. Diesen langen, ununterbrochenen Blick auf mich selbst zu richten. Wenn ich weiterhin ausging, weitertrank, weiterhin dahin und dorthin vor mir davonlief, würde ich mich nicht damit auseinandersetzen müssen, was aus mir geworden war. Eine Betrügerin unter Make-up und paillettenbesetztem Kleidchen. Eine Lügnerin, die eigentlich nicht lügen wollte, sich aber immer wieder in Situation brachte, in denen es folgende Optionen gab: a) vom Partner verlassen werden oder b) lügen; a) den Job verlieren oder b) lügen; a) vom Mitbewohner rausgeworfen werden oder b) lügen.

    Lügen musste ich einfach schon deswegen, um mein Überleben zu sichern.

    Manchmal musste ich mir meine Lügen aufschreiben, damit ich sie nicht durcheinanderbrachte. Ich übte sie mit leiser Stimme in meinem Zimmer, bevor ich mich mit der bedauernswerten Person traf, der ich sie gleich vortragen würde. Wie eine Schauspielerin. Das Problem daran, wenn man in der einen oder anderen Form buchstäblich jeden anlügt? Es ist ein recht einsames Geschäft.

    Aber ich war auch empört. Warum warf mir das Universum immer wieder diese unmöglichen Bälle zu und brachte mich in solche Zwickmühlen? Es war einfach nicht fair. Ich konnte nicht sehen, dass der Alkohol in dieser Story der Schurke war, nicht der Held. Ich hielt ihn für das Schmerzmittel, nicht für den Schmerz. Vor allem sah ich nicht, dass ich seine Komplizin geworden war. Ich packte das Leben so an, nicht das Leben mich. Ich war die Arme, die sich nicht zu helfen wusste. Ich war die Architektin meiner eigenen Zerstörung, ich und mein zuverlässiger Handlanger, der Wein.

    Eine namenlose Furcht breitete sich in mir aus wie ein Tintenfleck. Meine Angst, dass bald etwas Schreckliches geschehen würde, wurde immer mächtiger. Das Gefühl, »beobachtet« zu werden, verstärkte sich. Ich war überzeugt, dass meine Mitmenschen es allmählich merkten. Ich fühlte mich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Das Einzige, was diese Angst übertünchte, was die Paranoia pulverisierte, war mehr Wein.

    Falsche Freunde

    Auf jeder Party gingen meine wahren Freunde zu einer halbwegs vernünftigen Zeit nach Hause. Sie konnten trinken (sonst wären sie, ehrlich gesagt, nicht meine Freunde geworden), aber nicht so, wie ich das machte. Keine Chance. So gegen ein Uhr morgens hatte ich dann plötzlich niemanden mehr an meiner Seite.

    Aber egal. Ich hatte ja längst angefangen, nach der ABF (der alkoholisierten besten Freundin) für die Nacht zu suchen. Oder wie Sacha Z. Scoblic in ihrem wunderbaren Buch Unwasted: My Lush Sobriety schreibt: »Da ich ja mein Leben schon unter Wasser verbrachte, grapschte ich nach den Beinen anderer Schwimmer, um sie zu mir nach unten zu ziehen.«

    Ich kuschelte mich förmlich an sie. Mit einigen Gläsern Nähe-Verstärker intus wurden wir schnell dicke Freunde. Falsche Freunde allerdings. Wir stolperten zusammen über die Tanzfläche, fanden irgendwo ein Plätzchen und reden mit lauter Stimme bis in den Morgen. Offenbarten einander unsere Beziehungsprobleme, lästerten über gemeinsame Freunde oder Kollegen, erzählten uns die finsteren Momente unserer Kindheit. All das Zeug eben, das man eigentlich nur Leuten erzählt, die man mindestens drei Jahre kennt. All das brach ungehemmt aus uns heraus und sauste die Rutschbahn aus Wein hinunter.

    Wenn ich dann meine ABF wiedersah, war das alles natürlich ungeheuer peinlich. Ein Meteor, der mich vom Antlitz der Erde tilgte, wäre mir lieber gewesen. Oder wenigstens ein Taxi, irgendwo auf der Straße, auf das man eiligst zurennen konnte. Natürlich kamen wir beide zu spät zur Arbeit. Oder trafen uns im Supermarkt. Und dann fing das Drama an: »Ganz schön verrückt, letzte Nacht, oder? Ähm ...« Bis sich auch die letzte Spur unserer dicken Freundschaft verloren hatte.

    Mir war schnell klar, woran das lag: der fehlende Alkohol. Diese Begegnungen waren deshalb so peinlich, weil wir beide jetzt nüchtern waren. Meine Suchtstimme säuselte mir zu, dass Wein nun mal der Feenstaub sei, den jede neue Freundschaft brauche. Dass ohne Wein nichts wirklich zauberhaft sei, gleich einer Schneekugel vor dem Schütteln. Wir müssten uns nur wieder gemeinsam betrinken, dann würden die glänzenden Flocken über uns herniedergehen.

    Wahr war exakt das Gegenteil. Wir hatten uns im Schnelldurchgang auf ein Intimitätslevel katapultiert, das man sonst erst nach Jahren erreicht. Und im nüchternen Licht des Tages wurde unsere beste Freundschaft wieder zu dem, was sie war: ein Fake.

    Ich fange an, mehr zu verlieren als nur meine Handtasche

    Ich glaubte, der Alkohol brächte mein wahres Selbst zum Vorschein. Und ich war bereit, für diesen Luxus zu bezahlen. Das Nüchternsein fühlte sich einfach falsch an.

    Damals wusste ich nicht, dass der Preis unendlich hoch sein würde. Der Alkohol sollte mich meine Freunde kosten, die Liebe meiner Familie, viele Partner, den Respekt meiner Kollegen und meine ganze Selbstachtung. Und er würde mich in unzählige gefährliche Situationen bringen – Szenarien, in denen ich erstaunlicherweise nicht ums Leben kam.

    Das Tempo war exponentiell. Es dauerte 21 Jahre. Anfangs machten die schlimmen Zeiten vielleicht ein Hundertstel aus. Dann ein Zehntel. Dann kamen sie jeden zweiten Tag. Und schließlich jeden einzelnen Tag. Aber da hatte ich längst vergessen, dass es eine Alternative gab.

    Die Sucht packt einen anfangs nahezu unmerklich. Dann zieht sie langsam die Schlinge zu. Niemand wacht eines schönen Tages auf und kann nicht mehr aufhören zu trinken. Das Fortschreiten der Sucht ist für andere Menschen vielleicht deutlich erkennbar, aber außer fragenden Blicken tut sich da nichts. Der Betroffene

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