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Das Sonntagsjahr
Das Sonntagsjahr
Das Sonntagsjahr
eBook494 Seiten6 Stunden

Das Sonntagsjahr

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Über dieses E-Book

Für Sari Alba hat sich ein Traum erfüllt. Ein Jahr ist sie zusammen mit ihrem Freund und auch alleine in die Länder gereist, in denen sie die Seele baumeln lassen konnte. Aller Zwänge enthoben beschreibt sie sehr persönlich ein genussreiches Leben jenseits von Verpflichtungen, Dos and Don'ts.

Die Reise führt nach innen in die abenteuerlichen Räume des eigenen Selbst und nach außen in die Schönheit der Natur von Orten wie Nordwest-Amerika, Sizilien, Indien und Mittelitalien. Mit dem kleinen Hippie-Bus, dem Flugzeug, Überlandbussen oder auch mal trampend folgt sie dem inneren Ruf nach maximaler Freiheit.
Dabei bleibt sie in ihren sehr authentischen und anschaulichen Erzählungen nicht an der Oberfläche hängen, vielmehr erlaubt sie tiefe Einblicke in ihr ureigenes Erleben auf der Reise.

Die Erzählungen sind von einem leichten, fein-ironischen Humor durchzogen, sodass die Leser sich einerseits gut unterhalten fühlen, sich aber auch in den Beschreibungen mühelos wiederfinden können.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Juli 2016
ISBN9783734541308
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    Buchvorschau

    Das Sonntagsjahr - Sari Alba

    USA – Der Nordwesten

    Der Stadtbus vor der Tür, den wir mit fliegenden Taschen und wehenden Haaren (das letztere zumindest bei mir) im Schweinsgalopp erreichen, bringt uns zum Kölner Hauptbahnhof. Biber rinnt der Schweiß schon jetzt vom Nacken runter in die Hose, dabei haben wir ja noch ein ganzes Jahr vor uns. Recht entspannt sitzen wir bei gemütlichen 250 Stundenkilometern im ICE, um in Frankfurt die Geschwindigkeit des Fortkommens auf 1000 km erhöhen zu lassen. Aber keinen Preis ohne Fleiß.

    Bevor wir im wilden Westen landen durften, gab es ungezählte Gespräche, die wir immer wieder über Länder, Regionen, Klimazonen und Reisezeiten geführt haben. Über Wunschorte, die in der Seele reflektieren, noch weit entfernt von der Situation, dass wir eines Tages an irgendeinem Flughafen stehen oder den Schnüffel, unser ultimatives Reisegefährt, warm laufen lassen.

    Wenn ich es recht überlege, hat bei mir alles schon in der Kindheit begonnen, als ich mir als Lebensziel das Reisen gesetzt habe. Andere ergreifen Berufe, ich wollte eigentlich immer nur reisen.

    Je näher der Abreisetermin rückte, desto mehr schrumpelte die Zeit zusammen, in der die Millionen kleinen Dinge geklärt, besprochen, erledigt und abgehakt werden mussten. Es schien, als hätte es im Laufe von Bibers Karriere keine anstrengenderen Monate gegeben als diese letzten.

    Als Außenstehende vernahm ich endlose Pflichten, unvermeidliche Kollegenaktivitäten (treffen, essen, saufen), Anleiern von Kontakten, die nach dem Sonntagsjahr helfen sollen, in ruhigere Arbeitsgewässer zu führen. Ich dagegen frage mich, ob es überhaupt ein Leben nach dem Sonntagsjahr geben könnte – wie absurd. Mir schien es, als müsse er – und ich leidend mit ihm – erst einen unkalkulierbaren Preis zahlen, um Eintritt in das Land der Freiheit und Hedonie zu bekommen.

    Oft saßen wir am Tisch zusammen, jeder mit ernster Miene, eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen vor unseren Zeitplanern, und klaubten die uns verbleibenden Minuten zusammen, die nicht gefärbt waren von endlosen Internetrecherchen, Equipmentzusammenstellungen (für jedes zu bereisende Land ein anderes), Gesundheitsprophylaxe, Flug- und Schiffsbuchungen und Visabeantragungen.

    Wir lebten nachher nur mehr in virtuellen Kopfwelten, ohne Bezug zu allem, was sich unterhalb des Halses befindet. Der Preis für Ruhe und Freiheit erhöhte sich immer mehr und Stress und Wahnsinn kulminierten in der Woche vor Bibers Wohnungsaufgabe und dem Auszug aus seinem Ort der Ordnung und Sicherheit (des kleinen Schuhkartons auf dem Dach eines Kölner Mietshauses) in roboterartiges Funktionieren und Tun. Ein Sonntagsjahr ist kein Spaß. Da musst du hart für arbeiten und es dir bitter verdienen.

    Unsere vormalige Beziehungsroutine, die uns wunderbare Freiräume und ein harmonisches Miteinander gesichert hatte, geriet schon bei der Vorstellung ins Wanken, dass wir bald in meinem kleinen Schuhkarton kurzzeitig zusammenleben würden. Oh Schreck, wo bleibt dann mein Rückzugsort? Ich werde nie mehr ungestörten Nachtschlaf haben, weil Biber so frech schnarcht. Und wenn ich meine nächtlichen Hitzewellen habe und ich meine 1,74 m Spannbreite nicht mehr in alle Richtungen in meinem Bett ausfahren kann, weil er die Hälfte dessen mindestens einnimmt? Und womöglich will er eine neue Ordnung der Dinge einführen oder schlimmer, räumt mir ordnend hinterher. Keiner wird seine Neurosen mehr frei und ungehindert und vor allem unbeobachtet ausleben können.

    Außerstande mich selbst ausreichend zu strukturieren, bin ich eine Meisterin im „andere strukturieren". Biber drängt sich als Objekt förmlich auf. Teilweise lässt er sich ohne Widerworte von mir organisieren, nimmt Planungshilfen und Zeitmanagementpläne an. Manchmal schaue ich ihn dann verstohlen von der Seite an, jederzeit eine körperliche oder verbale Gegenwehr erwartend, die meinen therapeutisch anmutenden Versuchen begegnet, Bibers Anforderungen in eine halbwegs menschliche Ordnung herunterzustrukturieren. Ein Verhalten, was mich unzufrieden und manchmal auch wütend werden lässt, bis ich merke, dass ich ja von niemandem einen Auftrag dazu bekommen habe. Ich gebe es nur widerwillig zu: ein typisches Frauenverhalten, passend zu seinem typischen Männerverhalten (um weiterhin so pauschal zu bleiben), sich und andere über dem Job zu vergessen.

    Das Berufliche ist schnell erzählt: Ich gebe meinen vertraglosen Massagejob im Hotel auf, der behinderte Mann, den ich in einigen Dingen unterstütze, kommt auch ohne mich klar, signalisiert aber, dass ich in einem Jahr wiederkommen kann. Der Rest ist offen.

    Letztlich ist dann auch jedes Ding eingetütet und gelabelt, einschließlich der 80 Umzugskisten, die mitsamt den Möbeln auf verschiedene Exfreundinnen von Biber verteilt werden.

    Ich hatte mich nach dem anstrengenden Auszug wieder erholt, gab noch die ein oder andere Massage und fühlte mich halbwegs wieder zu Hause in meinen Körperzellen, als mein alzheimerkranker Vater nicht mehr essen konnte und abgemagert ins Krankenhaus überwiesen wurde. Vier Tage heißer Diskussion mit meiner Mutter, Bruder und Schwägerin über „kann man einen Menschen verhungern lassen, der noch kerzengrade auf dem Stuhl sitzt, den Löffel selbstständig zum Mund führt, mich ab und zu erkennt, und wenn man ihn lässt, auf zwei Beinen laufen kann?"

    Ich informierte mich im Eiltempo über Vor- und Nachteile von Magensonden, die Frage nach Leidenszuständen im Endstadium von Alzheimererkrankungen, in dem mein Vater sich seit geraumer Zeit befand, und kam letztlich zu dem Schluss, dass eine künstliche Ernährung abzulehnen sei. Doch die Situation im Krankenzimmer, als mein Vater versuchte Rührei zu essen und jeder Bissen halb in der Luftröhre landete und nur mit Mühe und Husten irgendwann den Weg in seine Speiseröhre fand, unterbrochen von einem klar und deutlich gesagten „Scheiße" seinerseits, und ich meinen Tränen freien Lauf ließ, werde ich erst einmal nicht vergessen.

    Trotzdem wollen wir eine kleine Abschiedsparty am Rhein machen. Es findet sich eine freundliche Gruppe an Vater Rheins Gestaden ein, um bei hochsommerlichen 38 Grad und leckeren Salaten mit Bier und Wein anzustoßen. Bis halb drei in der Nacht liegen wir nur mit T-Shirts bekleidet auf Decken, nicht ahnend, dass dies erst einmal das letzte Sommergefühl sein sollte.

    Biber war mittlerweile mit Taschen und Kisten zu mir in mein kleines Apartment gezogen, die ersten Abgrenzungsunternehmungen waren letztlich friedlich verlaufen.

    Der Tag des Abflugs rückte näher und noch immer hatte dieser Umstand etwas Unwirkliches an sich. Träumen und Planen – gut und schön – aber sollte es jetzt wirklich, wirklich losgehen?

    Vashon Island

    Wie miles-and-more Profiflieger lungern wir in Liegesesseln herum, bis die kurvenreiche Schlange an den Check-in Schaltern so klein ist, dass wir nicht mehr lange warten müssen. Unser Gepäck wird vom Laufband weggebracht und wir, die boarding-card in der einen Hand, entleeren mit der anderen unsere Wasserflaschen in unsere Bäuche.

    Das letzte kostenlose Wasser vor dem Pazifik.

    Seitdem die Zwillingstürme in New York von Flugzeugen zerstört worden sind, dehydrieren die Flugpassagiere regelmäßig auf den Transatlantikflügen, weil die Mitnahme jeglicher Flüssigkeit über 100ml an Bord verboten ist. Man muss schnell sein, das Flugpersonal um die ein oder andere Wassergabe zu bitten. Hat man Glück, entsprechen sie diesem Wunsch.

    Wir landen in Island zwischen – einem wilden Land mit anheimelndem Flughafen und gutem Kaffee. Einige Wochen vorher hatten wir noch gebangt, ob wir überhaupt fliegen können, da Island von einer Vulkanaschenwolke eingenebelt war, aber heute ist die Luft klar und frisch.

    Beim An- und Ausziehen meiner Überkleidung während der plötzlichen Hitzewallungen einer geplagten Frau im Klimakterium vergesse ich irgendwo in Island meinen geliebten Kuschelschal. Glücklicherweise habe ich noch einen zweiten Lieblingsschal dabei, den ich bei einer anderen Gelegenheit verlieren oder vergessen kann.

    Bei der Wandlung von einer fruchtbaren in eine unfruchtbare Frau verliert man nicht nur einiges vom Östrogen, sondern auch Teile der Funktionstüchtigkeit des Großhirns. Man bekommt dafür aber nichts zurück, was in etwa so gemein ist wie ... ich weiß nicht, was so gemein sein kann. Die eine große Gehirnzelle funkt aber immer im Hintergrund, dass ein Biber in der Nähe ist, der sich schon ordnend und Dinge einsammelnd kümmert. Dieser Gehirnzelle ist nicht bekannt, dass sie sich nicht darauf verlassen kann.

    Der Flug nach Amerika vergeht mit Filme gucken, schlafen und die Stewardessen abpassen, wenn sie was Flüssiges vorbeifahren. Gerädert entsteigen wir dem Eisenvogel, durchlaufen die Immigration und die Gepäckausgabe und sofort danach die Gepäckabnahme, um dann hoffentlich unseren mageren Besitz für unseren fünfwöchigen Aufenthalt im Land der Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten behalten zu dürfen. Dass unsere Taschen und Rucksäcke nun mit kleinen Mikrophonen und unsichtbaren Ortungsgeräten versehen wurden, würden nur böse Menschen behaupten, die kein, aber so was von kein Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Amerikaner haben.

    Die haben viel mitgemacht, die Amerikaner. Erst wollten die unzivilisierten Indianer ihnen kein Land abgeben, obwohl dieses doch von den Amerikanern selbst entdeckt worden war, dann starb ihnen später auf den Sklavenschiffen ein Großteil des herbei geschafften Personals weg. Damit nicht genug, mussten sie die schlitzäugigen Japaner mit eindrucksvollen neumodischen Bomben auf ihren Platz verweisen, die Bäume der Vietnamesen entblättern, damit sie diese besser sehen können, und jetzt gibt es auch noch die Achse des Bösen, der natürlich nur mit einem Krieg gegen den Terror begegnet werden kann. Biber und ich fühlen mit der waidwunden amerikanischen Seele tief mit.

    Wie glückliche Urlauber gehen wir beide zum Schalter des Immigration-Officers, der finster schaut. Verständlich, wie kann er wissen, was wir im Schilde führen. Biber zeigt seinen Pass, ich zeige meinen Pass. „Are you family?. „Ja, möchte ich ausrufen, „für ein ganzes Jahr ist Biber nun meine Familie. Aber ich antworte nur: „No, but we feel like. Böse bellt der Officer zurück: „That means nothing." Wie kann er so hart sein?

    Jetzt aber endlich mal raus aus dem absurden Theater und die Rolltreppe rauf direkt in Bills Arme – welche Freude. Als wir endlich sein Auto im Parkhaus gefunden haben, zückt er in hundertprozentiger Kenntnis der Reisebestimmungen zwei Becher und eine Gallone voller Wasser. (Es heißt natürlich eine Gallone Wasser, Gallone ist kein Behältnis. Wir sagen ja auch nicht ein Liter voller Wasser, aber wenn es sich schön anhört ...).

    Bill bringt uns zur Fähre nach Vashon Island, nicht ohne vorher Nina, seine Ehefrau und meine Freundin, am Wegesrand einzusammeln, die einen unerfreulichen Tag im deutschsprechenden Kindergarten zugebracht hat. Ihr Chef scheint auf dem gleichen Niveau wie seine 2-4-jährige Klientel zu spielen.

    Die Sonne und der frische Wind heißen uns auf Deck schon willkommen, als der Fährmann nach einigen Metern die Maschinen abstellt, der Motor verstummt und durch den Lautsprecher so etwas ertönt wie „Wal voraus". Es herrscht eine ehrfürchtige Stimmung an Bord und jeder will eine Schwanzflosse oder zumindest die wasserglänzende Oberfläche des Riesen erhaschen. Wir galoppieren durch den Deckaufbau, weil der Wal mittlerweile Kurs auf Seattle downtown genommen hat und auf der anderen Seite der Fähre gesichtet wurde. Ich stecke mitten in diesem Aufbau, als Nina und die anderen ein großes Stück Wal entdecken. Mir bleibt, als ich wieder an Deck rauskomme, noch das glänzende Rückenteil zu sehen. Ein gutes Zeichen für eine schöne Zeit auf Vashon.

    Vashon Island liegt schräg vor Seattle und ist ein hübsches Fleckchen Erde mit einigen Farmen, bunten Holzhäusern an exponierten Stellen über dem Meer, einem kleinen Ort mit Farmers-Market und Konzerten im Café, einer tibetisch spirituellen Szene und mindestens zwei Massageanbietern. Bei einem von ihnen hat Nina einen Raum für zwei Tage in der Woche untergemietet und hofft auf Kundschaft.

    An unserem ersten Abend spreche ich wie immer beim ersten Mal, wenn ich auf englischsprachige Menschen treffe, ein vortreffliches Englisch. Alles fließt, der Jetlag lauert noch unbemerkt irgendwo in einer Ecke im System und wir sitzen gemütlich am Feuer, das Bill uns gezündet hat. Es herrscht eine herbstliche Feuchtigkeit auf dem Platz, einer Wiese, die sich von der Straße lang in ungemähtes, hüfthohes Gras zieht, an deren Ende unser Zelt steht. Bill hat ein Holzpodest gebaut und sein eigenes Zelt dort für uns aufgespannt. Für unsere Bequemlichkeit hat Nina uns zwei Plümmos bezogen und eine Schaumstoffmatte ins Zelt gelegt. Darauf thronen nachts dann unsere Rolls-Royce-Isomatten, damit die zusammen 90jährigen Knochen angenehm ruhen können.

    Ich habe so viele Fragen an Nina, die nicht mehr abreißen. Wie lebt es sich im Bus? (ein Schmuckstück von einem alten gelben Schulbus.) Frierst du nicht? (Ich friere ständig bis auf drei Stunden am Tag, so die Sonne sich herausbequemt – es ist schließlich August – wenn nicht der kalte Nordwind das Erlebnis trübt.) Wo kaufst du ein? Ist Bio nicht zu teuer? Und, ach so, du kaufst gar nicht mehr immer nur Bio? (Meine Vorstellung ist, dass, wenn wir hier nicht exakt kontrolliertes Essen, also Organic Food zu uns nehmen, wir uns mit den genmanipulierten Lebensmitteln schreckliche degenerierende, noch unerforschte Krankheiten einfangen werden). Deshalb verbringen wir nach eingehendem Briefing durch Nina auch zwei bis drei Stunden im ortsansässigen Supermarkt, der hier und da kontrolliertes Essen und Trinken im Sortiment führt. Das allerschlimmste wäre es, Produkte mit Soja-, Mais- oder Weizenspuren zu uns zu nehmen, da diese flächendeckend mit genetisch verändertem Saatgut gezogen werden. Pest und Cholera!

    Wir erschweren uns die Aufgabe des Einkaufens, indem wir mit hungrigen Mägen nach einer ausgedehnten Radtour im „Thriftway einkaufen gehen. Die Strategie ist, erstmal nur irgendwas jetzt und sofort Essbares zu kaufen, bevor wir später mit beruhigtem Bauch die Ware näher studieren. Eine edle Theke mit offenem Küchenbereich dahinter signalisiert uns, dass wir dort fündig werden. Nachdem wir bei „pay here einen preiswerten Snack bestellt haben, den wir bei „order here bezahlen, warten wir eine Viertelstunde völlig unterzuckert darauf, dass drei Leute vom Personal Plastikkäse zwischen zwei Toastscheiben stecken, diese in ein heißes Eisen legen, schwarz wieder rausholen und mir dann mit der Frage „is this o.k.? im Abstand von zwei Metern vorzeigen.

    Als wir auf dem Gelände des Farmers Market in der Sonne sitzend das Festmahl auspacken, merke ich: es ist nicht o.k.

    Ich weiß nicht mehr, was Biber hatte, aber das ein und andere Mal sah ich ihn mit einer Art Riesenlolli, einer Siedewurst am Stiel, ummantelt von fettiger Panade, glücklich wie ein Kind auf dem Jahrmarkt. Doch ich beruhige mich, Biber hat einen Pferdemagen, er wird nicht aus kulinarischen Gründen erkranken.

    Nachdem wir satt sind – ich habe noch einen Apfel, den ich als ökotrophologisch korrekt einstufe, verspeist – kehren wir in den Einkaufsladen zurück. Allein eine halbe Stunde widme ich dem Studium der Brotregale und versuche mich daran zu erinnern, was Nina sagte, was auf der Verpackung stehen solle. Zur Not wären wir aber in der Bäckerei „Monkey Tree" auf der sicheren Seite.

    Das freundliche Personal an der Kasse kennt uns schon langsam; Englisch stotternd und desorientiert nach Orientierung suchend, sind wir schon aufgefallen. Hier muss man sich blitzschnell gegen das automatische Einpacken der Einkäufe in unübersehbar viele Plastiktüten wehren. So wedle ich immer schon mit meiner signalroten Fahrradtasche und räume dann selbst ein.

    Der Jetlack hat sich mittlerweile bei mir gemeldet. Am ersten Tag fühlte ich mich aber noch großartig: Wir frühstücken mit Bill und Nina, die anschließend zur Arbeit mit ihrem antipädagogischen Chef fährt, leihen uns die Fahrräder der beiden aus und stecken uns auf der Inselkarte das Ziel „Leuchtturm" ab.

    Die Insel ist sehr hügelig und so überfordern wir uns mit einer mehrstündigen Tour auf und ab mit einigen waghalsigen Schussfahrten, an kleinen Buchten vorbei bis zur wunderschönen, lang gezogenen Bucht am Leuchtturm. Die Wolken geben eine grelle Sonne frei und ich schlafe ein wenig auf den silberfarbenen, ausgewaschenen Holzstämmen, die hier überall am Strand rumliegen. Manche sehen aus wie Wesen aus einer anderen Dimension, aus anderen haben Leute Kunstwerke geformt. Der Dunst hat sich ein bisschen vom Mount Ranier verzogen, dem 3000er in der Ferne auf dem Festland weiter südlich. Er ähnelt der Form des Fujiyama. Einige seltsam gekleidete Frauen kommen zum Strand, lange karierte Röcke und Häubchen für ihren Dutt tragend – offenbar christliche Anachronismen, die sich über zwei Jahrhunderte ihren Stil bewahrt haben. Eine Nische, in der die Evolution vergisst vorbeizuschauen.

    Dem auf Vashon bisher immer feucht-kühlen Abend begegnen wir mit Daunenweste und kleinem Lagerfeuer. Ganz in der Nähe von unserem „Camp befindet sich eine „Rostery. Sie rösten auf unterschiedliche Art unterschiedliche Kaffeesorten. Als Biber und ich dort am nächsten Tag einkehren wollen, hat sie schon geschlossen, aber Eva, die Besitzerin, stürmt aus der Tür und bittet uns herein. Wir bekommen eine Kurzeinführung in die Geschichte dieses Ladens (alles, was in Amerika als alt gilt, besitzt einen hohen Wert. Überall gibt es Antiquitätenläden, die zwar keinen Biedermeier oder etwa Barockes führen, aber durchaus z. B. einen Frisörstuhl aus den 50ern, was hier schon als historisch einzustufen ist.) Eva braut uns einen starken, sehr aromatischen Kaffee, den sie uns mit zwei kleinen zylindrischen Porzellanblumenvasen serviert. Aus einer bauchigen, stabilen Metallkanne füllen wir uns nun selber den Kaffee ein, strecken ihn mit der Milchsahne etwa wie in Frankreich den Pernot. Ein schokoladenschwarzer Brownie rundet unser sinnliches Erlebnis ab. Bill ist hinterher verwundert, da er sich den Kaffee dort immer selber aus einer unromantischen großen Kaffeekanne in einen Pappbecher drückt. Haben Biber und ich eine touristische Ausnahmebehandlung erfahren?

    Überall wo wir in der ersten Sekunde mit unserem starken Akzent auffallen, kommt sofort ein freundlicher Kontakt zu Stande, der mindestens ein „where do you come from?" beinhaltet, meist aber auch noch eine kleine Geschichte nach sich zieht. Eine zum Beispiel, in der der Amerikaner etwa als Kind auf einer amerikanischen Militärbasis in Süd- oder Mitteldeutschland ein paar Jahre zugebracht hat. Andere haben Freunde dort und haben Süddeutschland für zwei Wochen bereist (wo ich schon eine brauche, um den Jetlag zu verarbeiten).

    Die Deutschen scheinen bei den Amerikanern eine Verbindung mit etwas sehr Positivem auszulösen – trotz der Kriege. Aber man will sich nicht weiter auf uns einlassen. Es bleibt bei den Kurzberichten über eine Verbindung zu Deutschland und den allgemeinen Tipps für Touristen, die wir schon aus dem Reiseführer kennen. Zuhören oder weiteres Nachfragen ist bislang im Kontakt eine Rarität. Haben sie Angst vor uns? Oder ist ihnen unser andersartiges Englisch peinlich oder wissen sie selber schon alles? Egal wie die Antwort lautet: die Freundlichkeit und Offenheit vereinfacht unser Reisen sehr. Man muss nur irgendwo suchend rumstehen, schon läuft ein Amerikaner auf einen zu, um seine Hilfe anzubieten.

    In Deutschland hat der Respekt gegenüber der Privatheit der Menschen Züge angenommen, wo so ein ungefragtes Hilfsangebot womöglich als übergriffig empfunden würde. Hier in Amerika erlebe ich eher ein Miteinander, das der Ausdruck hi and bye deutlich macht. Ich sehe dich, hab dich aber direkt wieder vergessen. Ist alles nicht so wichtig, nicht verbindlich. So ein sensibler Charakter, wie ich ihn habe, denkt zunächst erst mal, dass er Freunde für’s Leben gefunden hat und bleibt dann ernüchtert zurück, wenn er merkt, dass alles nicht persönlich zu nehmen ist. Da ziehe ich mich gekränkt zurück und sage laut zu Biber: „Ja typisch, genau wie man’s sich erzählt – die Amerikaner: völlig oberflächlich, kein Tiefgang – hätte ich ja wissen können".

    Am Samstag ist Farmer’s Market und meine sehr überlebensgewandte Freundin Nina hat ein Marktsegment gemietet, wo sie ihren kleinen Kunststoffpavillon aufbauen und „Massage am Stuhl anbieten wird. Früh morgens, als wir noch schlafen, hat sie sich aufgemacht, um im Ort ihre Künste gegen „Donations anzubieten. Bill hat ihr beim Aufbau geholfen und sagt, als er zurückkehrt, wir sollten ihr warme Kleidung mitbringen, wenn wir zum Markt fahren. Er legt auch gleich ihren feinsten Zwirn raus: eine alte, formlose, verblichene Jeans und ein weites kariertes Holzfällerhemd, als Nina zitternd anruft, sie fröre so sehr. Wir radeln zum Markt und finden sie am letzten Rand des Platzes vor, wo der schneidende Nordwind eisig durch ihren Pavillon zieht. Werbewirksam in Rock und T-Shirt gekleidet sieht sie schon blau gefroren aus, als sie sich mit den mitgebrachten Klamotten im Restroom (das ist kein Ort zum Ausruhen, sondern ein Klo) in eine kanadische Holzfällerin verwandelt. Mit diesem Outfit kommt dann auch endlich ihr erster Kunde: Biber. Es gelingt ihm, sich trotz der Temperaturen auf dem seltsamen Schemel zu entspannen. Ich schlendere derweil über den Markt und sehe mir die oft selbstgemachten Produkte an. Von Honig für 10 Dollar das Glas über wild zusammengenagelte Fantasiemöbel aus Holz bis zu Wein aus Vashon für nur 20 Dollar die Flasche gibt es alles, was die Feilbietenden ernähren soll, aber eigentlich nicht zu bezahlen ist.

    Wir überlassen Nina ihrem Schicksal und kehren wieder in die heimelige Rostery zu Kaffee und Brownies ein. Hier fühle ich mich pudelwohl, hier ist es endlich einmal länger warm. Der Ort hat den Charme eines schottischen Pubs mit integrierter Bioecke. Eva und Ken, ihr Mann, sind leider nicht da. Den anderen Tag hatten sie uns noch Tipps für unseren Roadtrip die wilde Oregonküste hinunter gegeben.

    Mittlerweile fühle ich mich als ein kleiner Teil der Vashon-Community, nicht mehr als Touristin: Wie selbstverständlich öffne ich die Tür zum Health-Center, wo Nina arbeitet, um sie von ihrem Massageraum abzuholen. Zwei Tage zuvor hatte ich sie dort massiert. Wir haben ein Zuhause; unsere Zeltecke draußen auf dem Grundstück und den Yellow Bus, das wunderschöne Vehikel, in dem Bill und Nina leben.

    Am Sonntag, dem heiligen Tag, als Gott geruhte zu ruhen, ruht in Gottes eigenem Land „Amerika niemand. Deshalb fahren Nina, Biber und ich in die gelobte Shoppingstadt Seattle, um mal so richtig Dinge zu kaufen, die es in Deutschland nicht gibt oder die hier viel billiger zu erwerben sind, wie z.B. die amerikanischen Arbeiterhosen: „Jeans. Mein Vorhaben ist es, mir so viele Jeans zu kaufen, dass ich mindestens fünf Jahre nicht mehr über Hosenkauf nachdenken brauche. Ich hasse Shoppen. Biber wähnt sich im Lande der Erfinder der Cargohose, einer gemütlichen Stoffhose mit vielen Taschen und Nähten. Sein Vorhaben ist es, beim Kauf auch so richtig zuzulangen. Bill ist zunächst nicht begeistert auf Vashon bleiben zu sollen und er wird nie erfahren, welch furchterregender Tag ihm erspart geblieben ist. Er hasst Shoppen (was ihn im Bushjuniorischen Sinne als unamerikanischen Amerikaner ausweist, da er nach 9/11 doch zum Heil aller shoppen gehen sollte).

    So sind wir also mit Nina unterwegs mit der Fähre auf’s Festland. Beim ersten Stopp, führt sie uns in die Geheimnisse des Tankens ein, ein Wissen, was wir nie anwenden können, da es in Oregon, wo wir mit dem Auto unterwegs sein werden, verboten ist selber zu tanken.

    Meine Freundin will uns unbedingt mit dem touristischen Herzstück Seattles bekanntmachen, dem „Pike’s Market". Sonntags wollen aber alle Residents ihre Freunde und Bekannten, die Seattle besuchen, damit bekannt machen, und so kurven wir ein wenig up- und wieder downtown, um einen erschwinglichen Parkplatz zu finden. Als wir schon aufgegeben wollen, finden wir direkt unter dem Markt einen Platz, der zwar Geld kostet, aber kein Ticket auswirft.

    Der Markt ist ein eben- und unterirdisches Gewusel von Läden, Ständen und Geschiebe und Gedränge von Menschenmassen. Der berühmte Pike’s-Market – ehemals eine Art Farmers Market, wo Leute mit Pferdefuhrwerken ihre Ware auf eine Fläche mit Holzbrettern führten, um einen reellen Preis dafür zu bekommen und so die Zwischenhändler auszuschalten. Nachdem man den Markt schon niederreißen wollte, ist er heute ein Touristenmagnet und eine interessante Antiquität.

    Wir schauen noch ein wenig der Hauptattraktion zu, einem Fischstand, wo die Verkäufer mindestens noch eine Ballsportart beherrschen müssen, denn sie werfen sich riesige Fische über einige Meter hinweg zu und scherzen und unterhalten die gaffende Menge, die allerdings kein Kaufinteresse signalisiert. In der Menge lernen wir einen aufrechten Deutschen kennen, der uns erzählt, dass er jetzt für immer in Amerika bleiben wird. Die Immigration sei ihm leicht gemacht worden seit dem letzten Krieg. Bei Nina und mir fliegen die Gehirnzellen hin und her: Er ist noch keine neunzig, falls er den Zweiten Weltkrieg meint, und unsere „friedliche Unterstützung in Afghanistan bezeichnet bei uns in Deutschland außer den Pazifisten keiner als Krieg. Ein Schweigen entsteht, aber der Fastamerikaner klärt uns auf, indem er sich als Fremdenlegionär vorstellt. Jetzt wird das Schweigen noch größer und wir verabschieden uns bald. „Angenehmes Töten möchte man ihm noch mit auf den Weg geben. Aber immerhin: es gibt noch Jobs ...

    Gegenüber dem alten Pike’s Market spielt eine geniale Band auf. Mit Waschbrett, Gitarre und Bass spielen drei ältere Jungs fesselnden Cajun, Louisianamusik. Noch Monate später ärgern wir uns, dass wir ihnen nicht eine ihrer CDs abgekauft oder einfach den ganzen Nachmittag als Zuhörer verbracht haben, dieses leichte, prickelnde Lebensgefühl genießend, was die Musik in unsere Fühlwelten transportiert. Aber wir sind irgendwie auf Shopping programmiert.

    Die Straße herunter zieht uns der Hunger in Passagen hinein, in denen sich ein exotischer Imbiss an den nächsten reiht. Meine Nase hat gerade noch frischen Ingwer gerochen, als sie plötzlich mit Süßen und dann Fischigem konfrontiert wird und nun nur noch lange ausatmen möchte. Wir entscheiden uns für Bodenständiges: Käse und Brot, die wir auf einem kleinen Wiesenhügel mit Blick auf den Puget Sound verspeisen.

    In dem ganzen Trubel stehen zwei chinesische Frauen am Rand des Hügels in einer Chi Gong Position – so was wie „Stehen wie eine Kiefer". Alles vibriert in dieser Stadt um sie herum. Erlebnishungrige Menschen auf der Jagd nach mehr, Junkies mit leerem Blick, viele Nationalitäten tummeln sich auf der Wiese, auf der Mauer, am Wasser und auf den Gehwegen, und da stehen diese Frauen in absoluter, unbewegter Stille, wie das Zentrum in einem Orkan. Ein wenig neidisch und bewundernd blicke ich auf sie; da möchte ich eines Tages auch angekommen sein. Aber im Moment bin ich eine Jagende. Auf der Jagd nach schönen Aussichten, wunderbaren Fotomotiven, netten Begegnungen und der allgemeinen Entdeckung Nordwestamerikas habe ich noch einen längeren Weg vor mir bis zu dem totalen Sein, welches die beiden Frauen für mich verkörpern.

    Nina will uns nun den Strand zeigen. Dafür rennen wir aber erst mal an unzähligen Docks vorbei, die langweilig und gleichförmig an der grauen Straße liegen, bis wir müde am kleinen Sandstrand ankommen. Drei Minuten gönnen wir uns – ich sitze auf einem großen Stein und blicke auf die Olympische Halbinsel, möchte hier sitzen bleiben, aber wir wollten ja shoppen, Nina drängt zum Aufbruch. Also eilen wir durch den Skulpturenpark zurück zum Auto und über weitläufige Autobahntrassen zu einer sehr ambitionierten und wärmstens empfohlenen Shopping Mall. In so einer Mall befinden sich viele Boutiquen mit bekannten Namen Shop an Shop und werden durch einen breiten Weg in der Mitte verbunden – eigentlich wie bei uns die Passagen, nur eben – wie alles in Amerika – größer.

    Biber und ich stehen fassungslos vor der geballten Hässlichkeit der feilgebotenen Klamotten. Es gibt nur Omaklamotten und für die Männer breite, weite, aber dafür zu kurze Hosen. Weit und breit kein Chic, Neonlicht aus Deckenlampen verschärft das sinnliche Trauerspiel. Biber steht mit seinen Traummaßen hier völlig auf verlorenem Posten, er muss sich was maßschneidern lassen. Nina fühlt sich verantwortlich, sie möchte, dass zumindest ich eine Jeans finde, weil ich nur eine für diese Frühjahrstemperaturen viel zu dünne Hose dabei habe; ist ja immer noch August.

    Erschöpft erstehen wir einen Cappucchino ‚to go’. Doch plötzlich entdeckt mein Späherblick einen angesagten Laden. Den Kaffee herumtragend – so wie es alle Amerikaner machen, weil keine Zeit zum Verweilen da ist – suche ich noch einmal fieberhaft in der abgedunkelten Boutique nach der ultimativen Jeans. Den Verkäufer muss ich dabei fast anschreien, weil die Musiklautstärke für eine Disco geeigneter wäre. Doch leider kein Glück. Ein wenig frustriert hängen wir mit unseren Pappbechern vor der Mall, als plötzlich in Ninas Gesicht die Sonne aufgeht. Es kommt nur ein Wort über ihre Lippen: „Ross. Ross? Sie hat ihn gefunden ihren Lieblingsladen. Und damit ist das Glück noch nicht vollständig: „Target ist direkt um’s Eck, ihr Zweitlieblingsladen. Alle Energien werden nun mobilisiert, um doch noch ein Erfolgserlebnis mit nach Vashon Island nehmen zu können. Werden sich meine Konsumträume erfüllen?

    Ross ist eine riesige quadratische Halle, ausgeleuchtet mit hellem Neonlicht. Wir gehen von oben hinunter in diesen Alptraum von rollenden Kleiderstangen, die unübersichtlich mit Fetzen wie aus der Altkleidersammlung bestückt sind. Wie meine Mutter, nur in dick, bin ich noch nicht bereit mich zu kleiden. Schnell sind wir durch und ich schaue Nina skeptisch von der Seite an. Habe ich in der Zeit, die sie in Amerika ist, eine bestimmte Entwicklung nicht mitbekommen? Sie war in Deutschland eine der bestangezogensten Freundinnen, die ich hatte, wovon ich manchmal profitierte, wenn sie ein hübsches Teil ausrangierte, was mir zufällig passte.

    Unsere letzte Hoffnung hängt nun an Target. Im Eingang schlägt uns schon der Formaldehydgeruch entgegen, der ganze Laden ist elektrostatisch aufgeladen. Biber verschwindet in der Cargohosenecke, fischt aber nur Größen heraus, für die er seine Ausdehnung in die Vertikale zugunsten der Ausdehnung in die Horizontale verschieben müsste. In dieser Riesenboutique für Arme ist alles rot. Die Regale, die Kleidung der Verkäufer, die Kassen und Theken und selbst ich sehe bald rot, denn die „rags", die ich in der Damenmodeabteilung entdecke, scheinen aus einer vergessenen Sammlung aus den Achtzigern zu stammen. Mit offenem Mund laufe ich fast wie ein Geist durch die Ständer und an den Regalen vorbei, als mir von hinten Nina eine Jeans in die Hand drückt. Wow! Wo hat sie die her? Fieberhaft suche ich nach der passenden Größe, obwohl ich auch fast schon bereit bin für diese Hose fünf Kilo abzunehmen. Hauptsache ich kann was kaufen. Dann in der Umkleidekabine stehen die Sterne für einen Moment günstig und die Hose sitzt wie angegossen. Trunken vor Seligkeit, die Erleichterung von Nina und den kleinen versteckten Neid von Biber spürend, gehe ich so entspannt Richtung Kasse, dass sogar noch für einen kleinen Spaß Zeit bleibt. Wir Frauen finden den Dallas-Traum eines Kleides – Tigerlook in 100% Synthetik – und halten ihn uns kokett vor den Körper, fotografiert von Biber, der uns viel sexier findet als Sue Ellen. Auch Nina fährt nicht mit leeren Händen nach Hause. Sie hat vier Rollen feinstes Toilettenpapier mit unglaublichen 1000 Blatt erstanden. Jetzt wird gefeiert. Wir fahren in ein nettes Thairestaurant kurz vor dem Fährhafen, essen Gemüse, trinken Bier und Eiswasser, was es überall gratis dazu gibt, und plaudern angeregt. Thanks God it’s Sunday.

    Bill bricht am anderen Tag zu einem Arbeitsauftrag nach Norden auf. Dafür muss er eine Fähre für 23 Dollar nehmen, sechs Stunden Auto fahren und hoffentlich genug arbeiten, damit sich der Trip lohnt. Biber fährt zur öffentlichen Bücherei, um unseren Internetvertrag für unseren kleinen Chevrolet, den meine Freundin am Vortag am Computer für uns abgeschlossen hat, auszudrucken. Zehn Tage werden wir den südlicheren Westen erkunden. Ich denke, wir vier sind ein wenig erschöpft von dem ständigen Mit- und Umeinandersein, vor allem, weil wir beiden Touristen den Gastgebern Löcher in die Bäuche fragen, um uns in der Fremde zurechtzufinden und keinesfalls irgendwo anzuecken. Zudem musste das ganze Alltagsprozedere geklärt werden: wo werden die Zähne geputzt? (im Trailer der Grundstücksbesitzerin), wo ist der restroom? (entweder auf dem Eimer im provisorischen Badezimmer oder ebenfalls im Trailer), gibt es genügend Wasser für alle zum Duschen und wer duscht wann? (Wasser gibt es, wenn man den Gasofen neben der mit blauen Planen abgedeckten Außendusche anstellt, was ein wenig technische Einführung braucht. Dieses teure gaserwärmte Wasser wird aber nur benutzt, wenn das Wasser, welches sich in schwarzen, sich windenden Schläuchen in einem Paneel befindet, aufgebraucht ist. Dieses Wasser wird von der Sonne erwärmt und da selten genug Sonne scheint, stellen wir häufig mit schlechtem Gewissen ob des Energieverbrauchs den Gasofen an). Und frühstücken wir zusammen? Oder, wenn nicht, was und wo frühstücken wir dann, vor allem, wenn es draußen regnet?

    Vielleicht muss ich an dieser Stelle genauer erklären, wie die beiden leben. Sie wohnen also in diesem gelben Schulbus, der mitten auf einer gemieteten Wiese steht. Die Besitzerin lebt selten auf dem Grundstück und wenn, dann in einem Trailer, einer Art Riesenwohnwagen, der klamm und schimmelig ist. Bill und Nina teilen sich gefühlte fünf Quadratmeter, eingeteilt in einen Küchen-/Wohnbereich, eine winzige Schreibecke, in der sie online gehen, und ein abgetrenntes Schlafräumchen, indem auch all ihre Klamotten untergebracht sind. Ziemlich eng, sodass Bill zwecks Ordnungsmanagement die Parole ausgab: Everything has its home.

    Hinter dem Bus liegt der angelegte Garten und ein Gewächshäuschen, von dem ein schmaler Pfad auf eine Wiese führt, auf der wir zelten. Hier haben wir ein kleines Tischlein und zwei Stühle. Doch verweichlicht wie wir sind, fühlen wir uns hier nur im Trockenen und bei mindestens 20 Grad ausreichend wohl. So hocken wir also immer wieder im Bus und fühlen, dass es vor allem Nina, die ja ihren Arbeitsalltag hat, zu eng wird.

    So entscheiden wir uns mal Urlaub vom Urlaub zu machen. Ausreichend gebrieft für alle Eventualitäten wird uns meine Freundin am anderen Morgen zum Flughafen bringen, wo unser schneeweißer, flotter Chevy auf uns wartet.

    Mit dem Chevy auf der Route 101

    Den letzten Abend verbringen wir im Sonnenschein in einer kleinen schönen, einsamen Bucht, wo jeder seinen Gedanken nachhängt und ich einen wunderbaren Spaziergang über alte Holzstämme unternehme, die überall am Strand liegen.

    Jetzt geht es los. Ninas alter Toyota wird vollgeladen mit dem gesamten Equipment, um an der wilden Oregonküste überleben zu können. Wir haben am Sonntag „Trader Joe" einen Besuch abgestattet und Unmengen an Dosengerichten, Wasser, Chips und Cookies, Brot und Wein für mindestens eine Woche eingekauft. Joe hat eine Ladenkette, die viele Bioprodukte anbietet, die wir bedenkenlos konsumieren können. Er hat sich, wie wir später sehen werden, auf den Nordwesten beschränkt, wobei sein Freund Fred Meyer eher in Oregon seine Ware verkauft. Aber das ist eine andere Geschichte.

    Nina liefert uns pünktlich am Flughafen ab. Die Papiere für den Wagen fertig zu machen, nimmt aber soviel Zeit in Anspruch, dass es für sie, die zu ihrem Kindergarten muss, zeitlich eng wird. „Habt ihr alles? fragt sie mütterlich, als wir Tasche um Tasche und Rucksack um Rucksack vom Toyota in den strahlend blinkenden Chevy umladen. Ein kurzer Blick in den Kofferraum genügt, um, wie sich später zeigt, die leckersten und besten kulinarischen Sattmacher von Händler Johannes, wie er auf Deutsch heißt, vergessen zu haben. „Ja – wir haben alles. Fatal.

    Jetzt sind wir alleine im großen wilden Westen, die Kükenmama verschwindet und mit ihr sechs wundervolle rubinrote Weinflaschen. Der Chevrolet fährt sich fast wie von selbst, da er ein automatisches Getriebe hat und sich so leise und sanft fortbewegt wie ein Autoscooter. Wie von Geisterhand werden wir noch im Großraum Seattle in den nächsten Supermarkt geführt. Es fehlt immer was, obwohl wir doch beinahe täglich einkaufen. Mal ist es ein Brot oder eine Zahnbürste, da ich meine auf Vashon vergessen habe, oder Wasser. So ein Eindingeinkauf weitet sich natürlich meist aus, da wir beim einen ein anderes sehen, was wir auch dringend brauchen, und so zeigt die Kasse am Ausgang nie weniger als 20 Dollar an und Biber grinst mich halbschief mit einem schrecklichen Imbiss im Mund an – er braucht ständig Fettgebackenes, um sein inneres Kind zu besänftigen.

    Dieses unerklärliche Einkaufen bleibt bis zum Schluss unseres Trips ein Rätsel. Ich könnte hier die Theorie bemühen, dass wir Sorge haben zu verhungern, eine alte existentielle Angst, die tief im kollektiven System verborgen ist. Für diese Theorie spricht, dass die Lebensbedingungen der ersten Siedler erbarmungslos hart waren und sie stets um ihr Überleben fürchten mussten. Haben wir

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