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Im Rauch der Revolte
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eBook455 Seiten6 Stunden

Im Rauch der Revolte

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Über dieses E-Book

Stellen Sie sich vor, die Baader-Meinhof-Gruppe sei eine Rockband und es hätte die Berliner Mauer nie gegeben. Stellen Sie sich weiter vor, in dieser Welt beschließen zwei weibliche Teenager ihre Familien zu tauschen. Das eine Mädchen sucht Wohlstand, das andere ein sinnvolles Leben. Stellen Sie sich schließlich vor, jede von ihnen begegnet im Laufe ihres Lebens einem agent provocateur auf der dunklen Seite der Macht.

Dann sind Sie bereits mitten in einer Geschichte in der Menschen um die Verwirklichung ihrer Träume ringen.
Sie erleben wie der Geschäftsführer eines Maschinenbau-Unternehmens seine Belegschaft zwingen will, die Welt zu retten. Doch die jagt ihn. In den Fäusten der Mitarbeiter blinken gefährliche Klingen. Zunächst kann sich der Gehetzte hinter die gepolsterte Führungskräftetür seines Büros retten. Wie sich herausstellt, eine Falle... Verzweifelt sucht seine Frau derweil nach Hilfe.

Es ist die Zeit zwischen der Nacht von Stammheim und dem Beginn der quietschbunten VIVA-Revolution. Und ein Parforceritt durch vierzig Jahre Pop-Musik bildet - versteckt in Links - den Soundtrack dazu.

Ein essayistischer Roman, der sich an Leser wendet, welche ihre Freude daran haben, Oberflächlichkeiten die kalte Schulter zu zeigen.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum25. Feb. 2012
ISBN9783000369773
Im Rauch der Revolte

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    Buchvorschau

    Im Rauch der Revolte - Iggy Potjomkin

    Beckett

    1. Schon gehört?

    Sie trägt ihren Körper wie ein Statussymbol.’, fällt dem Mann im Bett auf.

    ‚Wird sie verraten, was die vergangene Nacht zu bedeuten hat?’

    Margita bleibt in der Tür stehen und lächelt Betgenhaus an. Mit diesem strahlenden Auftritt möchte sie ihre Müdigkeit überdecken. Die Abgeschlagenheit auf Grund der langen Autofahrt zu ihm und der turbulenten Stunden davor soll Betgenhaus nicht zusätzlich beunruhigen. Margita weiß, er braucht Schonung. Nicht umsonst hat man ihn nach einem akustischen Anschlag, dessen Opfer er auf dem gestrigen Betriebsfest wurde, in diese Spezialklinik geflogen. Sein Pech waren die Hörgeräte. Seit Neuestem trägt er die regelmäßig. Deren Innereien hatten, bevor sie verglühten, ein ohnehin schon markerschütterndes Eingangssignal derart verstärkt, dass es in Betgenhaus’ Innenohren die Sinneshärchen knickte, wie seinerzeit von Kometenhand die Wälder an der steinigen Tunguska¹.

    Als wäre dies nicht genug, wird Betgenhaus die Aufklärung über das mit seinem Unfall zusammenhängende Geschehen zusätzliche Nerven kosten.

    Es gilt behutsam zu vorzugehen. Seinem Ziehvater erzählt man nicht zwischen Tür und Angel, dass in dessen Firma der Geschäftsführer mit Messern und Holzlatten gejagt wurde. Auch dann nicht, wenn man, wie Margita, Augenzeuge war und dazu die Ehefrau des Gehetzten und nun gefangen Gehaltenen ist.

    Margitas Erscheinen hat in Betgenhaus trotz seiner Beeinträchtigung ein Stimmungshoch erzeugt. Dies konnte sich nur ausbreiten, weil er von den ihm bevorstehenden Offenbarungen nichts weiß. Dennoch sind seiner emotionalen Wetterlage nur wenige Herzschläge vergönnt. Zügig kehrt es auf Normal Null zurück, als Betgenhaus sieht, wie nach seiner Besucherin eine weitere Gestalt in den Raum schlüpft. Nicht, dass etwas gegen den jungen Mann an ihrer Seite einzuwenden ist, aber wären sie allein, hätte es Betgenhaus besser gefallen. Unter den Umständen, wie sie nun sind, wird ihr Beisammensein weniger vertraulich werden.

    ‚Kaputte Ohren und Redeverbot, das wird eine tolle Verständigung. - Ich mag solche Situationen nicht!’ Der Hörsturz ist noch zu frisch, als dass Betgenhaus bereits geschmeidig mit ihm umgehen könnte.

    Also betrachtet er schweigend aus seinem Bett heraus die Frau mit einladendem Lächeln, während sie sich zu ihm setzt. Derart nah bleiben Margitas hinter den Fenstern einer strahlenden Fassade versteckten Sorgen nicht unentdeckt. Betgenhaus nimmt an, sie geltem seinem Gesundheitszustand.

    Er richtet sich in seinem Krankenbett auf, das er nur hütet, weil ihm Nachtschwester Grifania das Versprechen abgenommen hat, artig zu sein. Nach kurzem Zögern greift er auf das Nachttischschränkchen neben sich und legt den dort wartenden Notizblock auf seine unter der Bettdecke angewinkelten Knie. Dann schreibt er

    „Hallo, mein Schatz. Darf nicht sprechen, ihr auch nicht. Ärzteverbot. - Wer ist dein Begleiter? - Wie geht es dem Kleinen?"

    Betgenhaus reicht Margita den Block. Die zeigt mit einem Finger auf dessen erste Frage und nickt. Dann nimmt sie den Stift.

    „Das ist Paaling, der Assistent meines Mannes. Er hat dich gestern nach Hause gebracht. Erinnerst du dich nicht? - Der Lütte schläft heute bei der Kinderfrau", bekommt Betgenhaus zu lesen.

    Margita reißt ein paar Seiten aus dem Block, steht auf und geht mit eben diesem Paaling in die am weitesten vom Lager des Kranken entfernte Ecke. Dabei führt sie dessen Oberarm, als bräuchte Paaling Unterstützung. Am anderen Ende des Zimmers flüstern beide aufeinander ein. Anschließend macht es sich Paaling auf dem Fensterbrett bequem und nestelt einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Sakkos. Dann blickt er mehrmals abwechselnd, um Konzentration bemüht, erst zu Betgenhaus und anschließend auf die Blätter in seiner Hand. Nach kurzer Irritation erkennt der alte Mann in seinem Bett, er wird nicht portraitiert, sondern Paaling keilt Schriftzeichen in die Karos auf dem Papier. Betgenhaus wendet sich wieder Margita zu, während Paaling zusammenfasst, wie es dazu kam, dass diejenigen, mit denen der Kranke gestern noch feierte, heute seinen Geschäftsführer dazu brachten, sich hinter einer dicken Tür zu verstecken, durch die man ihn nun nicht mehr hinaus lässt.

    Zunächst zaghaft, dann immer klarer schliddert die sich entspinnende Konversation zwischen Betgenhaus und Margita von einem ‚Wie geht es dir und ihm und ihr und mir?’ der Frage entgegen

    „Was ist gestern passiert? Was war das für eine Aktion, deren Phantomgeräusche mir jetzt noch in den Ohren hängen?"

    Margita denkt ‚Gestern war nur das Vorspiel zu heute’ und notiert

    „Wir müssen über Müller ‚reden’."

    Dann streicht sie „Müller aus und ersetzt es durch „die Firma.

    Sie gibt Betgenhaus den Block.

    „Was ist mit deinem Mann, mit der Firma?"

    Margita winkt Paaling vom Fensterbrett. Der übereicht Betgenhaus eine Anzahl zwischenzeitlich beschrifteter Zettel, als wären sie Gift. Margita hätte besser daran getan, den Zensor zu geben und zunächst selbst einen Blick auf Paalings Bericht zu werfen. Zu spät.

    Betgenhaus hält die Papiere mit spitzen Fingern weit von sich und kneift die Augen zusammen. Offenbar ist Paalings Handschrift nicht seniorengerecht. Auf dem Nachttischschränkchen entdeckt Margita eine Lesebrille die ihrem Ziehvater wahrscheinlich vom Krankenhaus gestellt wurde. Der Rahmen sieht ihr zu sehr nach Kasse aus. Dankbar nimmt Betgenhaus das Utensil. Beim gierigen Studium der Notizen verfinstert sich sein Gesichtsausdruck von Seite zu Seite. Die Besucher haben keine Chance, das zu ignorieren. Immer, wenn er ein überflogenes Blatt ablegt, hebt Betgenhaus seine Leihgabe über die Augenbrauen und mustert Ziehtochter nebst Begleiter durchdringend. Mit dem, was ihm vorgesetzt wird, hat er so nicht gerechnet, auch wenn seit heute Nacht die Ahnung in ihm schwelt, dass sich derzeit gravierende Dinge in seinem Betrieb ereignen. Schließlich hatte sein Geschäftsführer Müller selbst in undurchsichtiger Weise zum erlittenen Hörsturz beigetragen.

    Beim Durchsehen des vierten Blattes schaltet ein Lämpchen über dem Krankenbett von grün auf rot und die Stationsschwester stürzt ins Zimmer. Der Monitor, welcher den Kranken überwacht, ist auf dessen Seelenzustand aufmerksam geworden. Beherzt scheucht die Schwester Margita und Paaling vor sich her und zur Tür des Stationsbereiches hinaus.

    „Hören Sie!", sagt Paaling dort und schaut auf das Namensschild seiner Treiberin.

    „Schwester Migrania, es geht um schwerwiegende Familien- und Vermögensangelegenheiten."

    „Solche Sachen sagt man mir hier alle Tage. Wir sind nicht irgend eine Klinik."

    „Und was machen Sie dann?"

    Betgenhaus’ Besuch wird prüfenden Blicken unterzogen. An Margitas Ausdruck, der draußen vor der Tür die eben noch aufgebrachte Kontrolle verloren hat, erkennt sie, es ist mehr im Spiel, als die übliche Schaumschlägerei selbstherrlicher Angehöriger.

    „Warten Sie hier!"

    Einen hellgrünen Vordruck in der Hand, kommt die Schwester zurück. Mit einem Gesicht, welches verrät, es ist risikobehaftet, was sie jetzt veranlasst, gibt sie Margita das Papier.

    „Für Fälle wie Ihren hat die Leitung unseres Hauses sich das Formular hier ausgedacht. Füllen Sie es aus und lassen Sie es von dem Patienten unterschreiben."

    Es ist eine Erklärung, mit welcher Behandelte pauschal die Verantwortung übernehmen, wenn durch Eigenmächtigkeiten ihrerseits medizinische Komplikationen entstehen. Nach einigen Minuten gibt Paaling das abgezeichnete Papier zurück.

    Als beim Lesen der nächsten Hiobsbotschaften die Kurven auf dem Überwachungsgerät erneut aufgeregt hin und her zappeln, bleiben Betgenhaus und sein Besuch von der Aufmerksamkeit des Pflegepersonals verschont. Der Alarm wird vom Stationszimmer ein ums andere Mal deaktiviert. Wohl ist Margita nicht, als sie sieht, wie das offenbar mit dem Monitor gekoppelte Lämpchen seine Zeit mit Lichtorgeln verbringt. Doch sie kann ihrem Ziehvater die Aufregung, welche dessen Herz rasend macht, nicht ersparen. Sie muss ihn Zettel für Zettel Paalings Bericht lesen lassen.

    Was seine Augen durch die Kassenbrille geschärft ertragen müssen, übersetzen Betgenhaus’ halluzinierende Ohren in das Geläut von Totenglocken. Es bereitet ihm Beklemmungen, gerade einen Ablass für die Klinik unterschrieben zu haben. Doch so mir nichts, dir nichts chartert Charon keine Passagiere für die Fahrt über den Styx. Schließlich hat Margita der Zunge ihres Ziehvaters den Obolus vorenthalten. Aus gutem Grund. Sie braucht ihn lebend. Margita ist hier, damit Betgenhaus rettet, was sie eines Tages von ihm erben will. Dazu ist er ausreichend mit neuesten Informationen zu befüttern. Wie er nun lesen kann, war sein gestriger Hörsturz nur die Folge des Startschusses zu einer Abfahrt in eine graue Wand aus Nebel. Auf einem Parcours zwischen angekündigten Entlassungen, drohender Betriebsbesetzung und einem seiner Freiheit beraubten Schwiegersohn soll Betgenhaus die Ski wieder auf die Spur bringen. Das ist, worum Margita ihn bittet.

    Bei aller Aufregung stellt sich in Betgenhaus so etwas wie Zufriedenheit ein. Man braucht ihn noch. Und so beschließt er, heute sei doch kein guter Tag zum Sterben. Seine durch den erzwungenen und in einiger Vergangenheit liegenden Rückzug vom Tagesgeschäft der Firma verschütteten Lebensgeister wittern Morgenluft. Nur zu gern wird er wieder mitmischen. ‚Ist mein Adrenalinpegel erst wieder so hoch wie in meiner aktiven Phase, wird mir ein solcher Lapsus, wie eben diesen Paaling zu verkennen, nicht mehr passieren.’ Mit diesen Gedanken beginnt Betgenhaus, sich ein Movitationsgefüge zusammen zu schieben. Er will nicht zu einem Verlierer werden, der ohnmächtig zusehen muss wie seine Fabrik vor ihm über den Jordan geht. Sein Selbstbild lässt das nicht zu. ‚Die vielen Jahre, welche die Firma mich umgetrieben hat, haben Spuren hinterlassen, welche am Ende aller Tage ihren Sinn behalten sollen.’ Und so will Betgenhaus keiner von denen sein, die lange Zeit ertragreich mit den Hebeln der Macht im Leben der anderen herumgerührt haben, nur um dann zu erkennen, wie sich bei den unfähigen Nachkommen das Gestänge verhakt. Denn wofür wäre er dann da gewesen? Doch nur, um dem Schicksal die Langeweile zu vertreiben. ‚Das kann nicht sein! So bedeutungslos werde ich nicht abtreten.’ Also, rafft er sich auf ‚Verdammt, was ist jetzt das Richtige? Denke! Denke! Du hast es immer geschafft, aus Scheiße das zu destillieren, was dich weiterbringt. - Ich müsste mehr über die Gründe wissen, welche zu diesem Schlamassel in der Firma geführt haben. Dann wäre es einfacher.’ Gleich darauf schilt er sich ‚Zu entscheiden, wenn man alles weiß, ist etwas für Weicheier. Das Richtige bei mangelnden Informationen zu veranlassen, hebt Macher wie mich aus der Masse. Du hast doch die Erfahrungen, die du dazu brauchst. Also los, streng dich an. Gib deiner Ziehtochter, was sie jetzt braucht. Deine Unterstützung. Sie will es für dich und für sich, für die Familie.’

    Betgenhaus sieht noch einmal Zettel für Zettel durch und kritzelt Fragen an deren Ränder. Die beantwortet meist Paaling, den Margita unter anderem aus diesem Grund mit zu ihrem Ziehvater genommen hat. Er ist als Mitarbeiter über die betrieblichen Belange viel genauer im Bilde als sie, die Geschäftsführergattin. So fördert Betgenhaus weitere Details zu Tage, aus denen er einen Wegweiser zimmert.

    Die entsprechenden Einlassungen übergibt er Paaling, der diese, als Assistent des nicht erreichbaren Müller, zum Entwurf einer beruhigenden Ansprache an die Belegschaft drechseln soll. Dazu schickt Betgenhaus ihn mit dem Stapel Zettel vor die Tür. Wenn Paaling damit fertig ist, soll er ihm die Rohfassung vorlegen.

    Nachdem Margitas Begleiter im Besucherbereich der Krankenstation auf dem Korbsessel hinter einem viel zu flachen, gläsernen Clubtisch Platz genommen und begonnen hat, mit krummem Rücken den Entwurf einer Rede zu formulieren, entweichen Betgenhaus’ Mund doch ein paar Silben.

    „Margita, halte dich aus dem betrieblichen Trubel heraus und bleibe im Hintergrund. Du hast zwar ein sicheres Gespür für derlei Dinge, aber kaum praktische Erfahrung auf den Brettern, die die Wirtschaftswelt bedeuten."

    Margita nickt und der Kranke fährt fort:

    „Finde heraus, was dein Mann mit den Entlassungen bezweckt. Solange das nicht klar ist, müssen wir hinter ihm stehen. Wankelmütigkeit wäre im Moment Wasser auf die Mühlen derer, die den Betrieb in ihre Hände bekommen wollen."

    Um zu demonstrieren, was er meint, wird er nicht Margita sondern Paaling, sobald der zurück ist, die Order geben, sich morgen vor die Meute zu werfen und die Rede zu halten. Vorausgesetzt, Müller bleibt unerreichbar.

    „Wenn alles schief geht, wird so der Paaling das Bauernopfer" signalisiert Betgenhaus seiner Ziehtochter im Vertrauen.

    Nach einigen Minuten innerer Einkehr bekommt sein Gesicht den Ausdruck andersgearteter Nachdenklichkeit und er setzt erneut an. Jetzt, wo sie allein sind, möchte er wissen, was Margita in Anbetracht des aktuellen Verhaltens ihres Mannes wirklich über den denkt. Die schaut Betgenhaus mit einer ‚Ich weiß nicht, was du meinst’-Miene an. Unwirsch zitiert der eine Passage aus Paalings Rapport. Eine, die Margita besser hätte zensieren sollen. Diese legt etwas über die heutigen Verlautbarungen Müllers offen, von denen Margita nicht gewollt hat, dass sie hier zur Sprache kommen. ‚Man kann diesen Kerl nicht genug kontrollieren. Ich hätte es wissen müssen’, denkt Margita über Paaling und will den nächsten Block aus dem Schubfach des Nachttischschränkchens nehmen um zu antworten.

    Jedoch war offenbar die Grenze des vorgesehenen Schriftverkehrs erreicht. Statt des Gesuchten findet Margita, nachdem sie zwischenzeitlich fast im Schränkchen verschwunden war, während der Alte sich dem dargebotenen Anblick hingab, eine Schiefertafel mit Kreide und Schwämmchen, die anscheinend einem kleinen Patienten zum Zeitvertreib gedient hatte. Es ist noch ein Mama-Papa-Sonne-Bild zu sehen. Margita überlegt, ob sie bei Schwester Graminia² - oder wie immer sie heißt - neues Papier holen soll. Doch der Alte im Bett legt bestimmt seine Hand auf Margitas Unterarm. Er hat ihr Vorhaben erkannt. Die von seiner Ziehtochter gefundene Antiquität weckt Kindheitserinnerungen in ihm, welche er, den zu transportierenden Inhalten zum Trotz, auskosten möchte. Also presst Margita eine Antwort zwischen Strichmännchen und Gestirn.

    „Paaling übertreibt. Das hat Müller so nicht gesagt", bekommt Betgenhaus zu lesen. Margita weiß, dass er ihr nicht glaubt. Aber sie will ihren Mann nicht denunzieren. Deshalb fahndet sie nach Ablenkung. Mit dem Gedanken ‚Der Kreideabrieb wird eine schöne Schweinerei auf meinem Kostüm hinterlassen’ scheint ihr eine solche möglich. Indem sie ihren Blouson ablegt, um diesen vor Kontaminierung zu bewahren, versucht Margita Betgenhaus’ Aufmerksamkeit umzuleiten. ‚Möge er doch, nachdem er bereits meinen Hintern bewundert hat, auch die Bluse betrachten.’ Anschließend schützt sie ihren Rock mit einem Zipfel der Krankenhauszudecke, lächelt und wartet. Umsonst, Betgenhaus hat Prioritäten.

    Er zieht das Schwämmchen aus der Schlinge, gibt es Margita und deutet auf die Tür zum Hygienebereich. Betgenhaus zieht den Geruch nasser Kreide durch seine Nase, als er mit den befeuchteten Überresten mediterranen Meeresgetiers die alten Zeichen von der Tafel löscht. Dann schreibt er selbst. Margita kann es zunächst nicht lesen. Erst als der Schiefer trocknet, kommen die Buchstaben zum Vorschein.

    „Dein Mann hat mich schon einmal erpresst. Was will er jetzt?"

    2. Jugendträume

    Als Kind hatte Margita mit ihrem leiblichen Vater gern Kennzeichenraten gespielt, falls sie ihn auf einer Tour mit seinem LKW begleiten durfte. Das kam gelegentlich vor, wenn sie schulfrei hatte. Jetzt sind keine Ferien, und die Autobahn ist nicht mit blechummantelten Familien verstopft. Im Gegenteil, der Verkehr fließt flott vor sich hin und wird Paaling, der Margita kutschiert, die lange Fahrt zurück vom Privatsanatorium in heimische Gefilde keine zusätzlichen Nerven kosten. Es sei denn, etwas käme dazwischen. Paaling und Margita sitzen schweigend nebeneinander.

    Einerseits ist Margita von Paaling angefressen, weil er Betgenhaus während des gemeinsamen Besuches Äußerungen ihres Mannes übermittelt hat, von denen sie selbst noch nicht weiß, wie diese einzuordnen sind. Andererseits will sie es vermeiden, Paaling darauf anzusprechen. ‚Wer weiß, wohin der steuert, wenn seine Aufmerksamkeit erst einmal auf diese Untiefe gelenkt wurde.’ Ansonsten glaubt jeder vom anderen, dass er wohl die Ereignisse des langen Tages Revue passieren lässt oder überlegt, wie Betgenhaus’ Auftrag, die Rede am nächsten Tag, günstigst platziert werden kann.

    Wegen der langsam herabsinkenden Dämmerung und des fortgeschrittenen Geschwindigkeitsbereiches, in dem sie sich bewegen, schaltet Paaling das Fahrtlicht ein.

    „Der Tage war lang."

    Margita nickt.

    „Wie wäre es, in einem Landgasthof zu übernachten? Ein rustikaler Salat mit einer Flasche Rotwein, um den Tag hinunterzuspülen und anschließend eine entspannende Massage durch den Chauffeur deiner Wahl."

    „Deine Idee ist keine gute Idee. Wir müssen morgen um acht Uhr in der Firma sein. Sonst fahren sie ohne uns Schlitten."

    Was Margita sagt, ist wahr, aber auch ein willkommenes Argument, sich Paalings Zuwendung für heute zu entziehen. Er hat Margita wieder einmal nicht so unterstützt, wie sie es erhoffte. Außerdem verleitet das Aufsuchen von Familienangehörigen in Heilstätten zu Nachdenklichkeiten über das Leben im Allgemeinen und das eigene im Besonderen.

    In Margitas Fall führt dies dazu, dass sie von ihren Gedanken über die Jugend bei ihrem Vater mit seinem LKW und dem Ziehvater mit dessen Firma nicht loskommt. Die aktuellen Ereignisse scheinen beides zu verbinden, auch wenn Margita nicht recht sehen kann, wie. Nur das Gespräch, welches sie mit Betgenhaus heute führte, während sie allein mit ihm war, verweist wie ein leicht zu übersehender Spinnenfaden vom einen zum anderen. Um diesen zwischen Raum und Zeit gewebten Hauch klarer zu erkennen, beabsichtigt Margita, die noch länger andauernde Fahrt zu nutzen, um in ihren Erinnerungen jenen Staub aufzuwirbeln, der in der Lage ist, sich auf diesem empfindlichen Gespinst abzusetzen. Dann, so ihre Hoffnung, wird sie die Verbindungen erkennen.

    Begonnen hatte alles, als Margitas Mutter noch für sie sorgte. Sie bewohnten ein Siedlungshäuschen der Betgenhaus-Werke. Vater, Mutter, Kind. Fast perfekt, wenn es gelänge, die Streitereien der Eltern auszublenden.

    „Ich habe dich nicht geheiratet, um in diesem Loch alt zu werden!"

    „Früher fandest du es toll, dieses Grundstück und so. Schon mit dem Umzug hierher hast du dich doch verbessert damals. Vergiss nicht, wie du im zum Lieferdreirad umgebauten Moped deines Erzeugers, diesem zum Lumpensammler verkommenen Lebemann, hier vorgefahren bist. Deine sieben Sachen in alte Schnapskartons gepackt. Aber du bist ja nie zufrieden!"

    Derlei hörte die heranwachsende Margita viel zu häufig, als dass sie es hätte vergessen können. Wie jedes Kind, das nicht hungern muss, einen Platz zum Schlafen und wohlgesonnene Spielgefährten hat, konnte sie die Probleme, welche ihre Eltern umtrieben, zunächst nicht verstehen. Doch ihre Mutter half ihr dabei. Um Margita nahe zu bringen, was sie meinte, zeigte sie, wenn beide gemeinsam spazieren gingen, gelegentlich auf die Betgenhaus-Villa.

    „Eines Tages, mein Kind. Du wirst sehen... In so was muss man leben, um glücklich sein zu können."

    Begehren fällt nicht vom Himmel. Es sind die damit verbundenen Hoffnungen, welche es auslösen. Die kleine Margita nahm an, ihre Mutter meine, familiäres Glück stelle sich ein, wenn das Dach über dem Kopf Zinnen und Türmchen trägt. Denn dann seien die elterlichen Streitereien überflüssig, so ihre Einbildung. Mittlerweile hat Margita ihre Vorstellung auf ein realistischeres Maß zurechtgestutzt. ‚Wenn schon das Glück sich an solch einem Ort nicht einstellt, ist dessen Abwesenheit dort in jedem Falle recht angenehm zu ertragen.’ Ebenfalls ein guter Grund etwas zu begehren. ‚Haben’ als Metadonprogramm für ‚Sein’.

    Zuvor jedoch hatten die mütterlichen Schilderungen dessen, was diese mit einem herrschaftlichen Leben verband, Margitas Aufmerksamkeit auf ein Mädchen aus der Villa gelenkt, welches sich gelegentlich in die Werkssiedlung verirrte. Merkwürdig war, dass keines der anderen Kinder etwas mit dieser Irrläuferin zu schaffen haben wollte. Dabei war die Kleine nett. Das hatte Margita schnell herausgefunden. Heute ist ihr klar, was die Ursache für das Vermeidungsverhalten der anderen gewesen sein musste. Die Eltern der Siedlungskinder wollten nicht, dass ihre Töchter und Söhne mit den Nachkommen des Besitzers der Firma spielten, in welcher sie selbst ihr täglich Brot verdienten. Da herrschte ein gesundes Distanzempfinden. ‚Sie hatten wohl Angst gefeuert zu werden, falls der eigene Sprössling im wilden Spieltrieb die Sandburg des hochwohlgeborenen Töchterchens schleift.’

    Margitas Mutter war da ihrer Zeit voraus. Sie ermutigte die Tochter, sich des siedlungsfremden Kindes anzunehmen. ‚Heute hieße das: Man kann nicht früh genug damit beginnen, soziale Netzwerke zur gegenseitigen Förderung des eigenen Fortkommens zu knüpfen’, lächelt Margita in Richtung des Sattelschleppers, den sie, während Paaling den Fuß steif auf dem Gaspedal hält, gerade überholen.

    Damals ergab es sich mit der Zeit, dass Inka Betgenhaus ab und an Margita zum Spielen auf das elterliche Grundstück mitbrachte. Inkas Mutter hatte damit keine Probleme, bei Betgenhaus selbst lösten die sich, als die Spielgefährtin seiner Tochter älter wurde. Margitas Mutter konnte zu diesen Vorgängen keine Haltung mehr beziehen. Die hatte sich zu dieser Zeit schon einem neuen Kerl an die Kehle geworfen und mit ihm die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen³ namens Glück erneut aufgenommen. Dass ihre Mutter dies tat, ohne Margita daran teilhaben zu lassen, hat sie ihr nie verziehen. Da half auch nicht, dass sie zum Abschied zu hören bekam:

    „Du musst das verstehen, das ist meine letzte Chance. In ein paar Jahren guckt mich kein Mann mehr an. Dass er... -damit meinte die Mutter wohl ihren neuen Stecher, den Margita nur ein einziges Mal von weitem zu sehen bekam - „... nicht gut mit Kindern kann, tut mir leid! Ich hole dich nach, sobald es geht. Keine Angst, das wird schon!

    Später kamen noch zwei, drei Ansichtskarten aus fernen Gegenden, dann war Schluss. Margita hasste ihre Mutter dafür. Die aber hatte durch ihr Verlassen von Mann und Kind die Erkenntnis in Margita betoniert, dass, wenn jemand wirklich etwas will, er oder sie bereit sein muss, Brücken hinter sich niederzubrennen⁴, ohne nach dem Schicksal derer zu fragen, die man am anderen Ufer zurücklässt.

    Irgendwann, als die spielenden Mädchen langsam ihre Puppen beiseite legten und begannen, die Welt um sich herum genauer zu besehen, wurde mehr aus der Sandkastenfreundschaft. Margita begann, zusammen mit Inka von dem zu träumen, was man im Leben erreichen sollte. Dabei hatte Inka meist ganz andere Vorstellungen als sie selbst. Deutlich wurde das für Margita ein erstes Mal bei einer ‚Soli-Aktion’, wie Inka es nannte. Deren Vater hätte ihr dafür sprichwörtlich den Hintern versohlt, wäre ihm vorab zu Ohren gekommen, was die beiden Mädchen planten. Um dem auszuweichen, war Inka seit dieser Zeit immer öfter im Haus von Margita und deren Vater anzutreffen.

    Bei dieser Aktion ging es darum, einen etwas hilflosen Nachbarn in Margitas Siedlung zu unterstützen. Er war nicht viel älter als die beiden und hatte erst vor kurzem als Hilfsarbeiter in der Firma von Inkas Eltern angefangen. Eines Tages erhielt er auf Arbeit einen Anruf, der ungelegen kam. Eben wollte er seine Kollegen beim Verladen von tonnenschweren Maschinen auf Tieflader unterstützen.

    „Aber wat mut, dat mut", sagte sein Vorarbeiter, der von der Wasserkante kam, und schickte ihn zum Telefon. Und es musste wirklich. Nur wenige Minuten später stand der junge Mann, umringt von Siedlungsbewohnern, die gerade keine Schicht hatten oder schon pensioniert waren, vor den rauchenden Ruinen des Hauses, welches ihn bis dahin beheimatet hatte.

    „Herzliches Beileid."

    Mit rotztriefender Nase und verweinten Augen nahm er die Trauerbezeugungen für seine Familie entgegen. Der Vater hatte offensichtlich kurzen Prozess gemacht. Wie es hieß, konnte er die Raten für das Reihenhäuschen nicht mehr aufbringen, nachdem er wegen eines Unfalls die Arbeit hatte wechseln müssen. Auch das vorzeitige Herausnehmen des Jungen aus der Schule, damit er Geld nach hause bringt, hatte nichts gerettet. Es war wirklich tragisch.

    Diesem armen Tropf wollte Inka helfen. Natürlich unterstützte Margita sie. Doch nur um ihrer Freundschaft willen. Und tatsächlich, es kam etwas rum dabei.

    „Soli für den Poggenpuhl-Jungen", sagten sie, als beide in der Siedlung von Haus zu Haus gingen und mit Kaffeebüchsen, in die ihnen Margitas Vater je einen Schlitz gestanzt hatte, herumklimperten. Manchmal standen sie auch vor dem kleinen Supermarkt ein paar Straßen weiter. Die eingenommenen Scheine und Münzen reichten am Ende dafür, dass Poggenpuhl Vater, Mutter und die zwei kleinen Geschwister unter die Erde bringen lassen konnte, denn selbst die Sterbegeldversicherungen waren verpfändet.

    „Tolle Sache, Mädchen! Das hätten wir nicht besser gekonnt. Unsere Tür steht euch jederzeit offen", bekamen die beiden zu hören, als sich herumsprach, dass sie wirklich hatten helfen können. Seitdem war Inka in der Siedlung nicht mehr die, zu der man besser den Kontakt lose hielt. Das tat ihr richtig gut, wie Margita damals bemerkte. So gut, dass Inka sich in der Siedlung bald wohler fühlte als zu Hause.

    „Das ist alles so unecht dort", sagte sie zu Margita, die das bedauerte, da sie sich doch bei den Betgenhauses einführen wollte und nicht Inka in der Siedlung. Noch heute kann Margita sich gut an Inkas Worte erinnern. Sie rauchten am Autobahnsee, nur wenige Fahrradkilometer entfernt, ihre ersten Zigaretten, die Margita ihrem Vater aus dem gravierten Blechetui mit einem eingelassenen Halbedelstein stibitzt hatte. Das Ding war ein Geschenk ihrer Mutter aus der Zeit, in welcher diese für sich bereits beschlossen hatte, dass ein Leben in jener Arbeitersiedlung nur eine Etappe auf ihrem Weg nach oben sein soll. Sie glaubte in dieser Phase noch, ihrem Mann beizustehen würde sie weiter bringen. Das Etui sollte so etwas, wie ein Fingerzeig dahingehend sein, dass der zu beschreitende Pfad aufwärts führen soll. Dorthin, wo man nur eingelassen wird, wenn man mit solchen Accessoires aufwarten kann. In seiner Welt wurde Margitas Vater eher belächelt, wenn er das Blechgehäuse hervorzog. Er nutze es weiter in Erinnerung an seine Frau.

    Auf Inkas Standpunkt, das alles aufgesetzt sei, erwiderte Margita:

    „Ich kann nichts Unechtes bei euch erkennen. Im Gegenteil. Es ist immer, was man sieht, aber nicht hat, dass einen reizt. Dein zu Hause finde ich spannend. Das riesige Schwimmbad zum Beispiel. Ich würde dafür sterben, jeden Morgen darin meine Runden zu drehen. Da braucht man nicht erst aufs Rad und hierher raus zum Baggersee, von dem jeder genauso verschwitzt wieder zurückkommt, wie er losgefahren ist."

    „Aber diese Typen, die mein Vater dorthin an den Wochenenden einlädt... ‚Poolparty’ nennen sie, was die da treiben. Ich kann das Wort nicht mehr hören und die Leute in ihren feinen Klamotten nicht mehr sehen. Küsschen hier, Stößchen da, und eigentlich geht es immer bloß darum: ‚Wie kannst du mir dabei helfen, dass ich noch bessere Geschäfte mache?’ Die wollen doch alle am liebsten mit dem, was sie sich aus dem Arsch pressen, noch Geld verdienen. Da ist mir der Menschenschlag in der Siedlung allemal lieber. Selbst, wenn es bloß Kaffee mit Kuchen auf der Veranda gibt und man sich erzählt, wie das Dach vom Häuschen am besten repariert wird. Statt Sekt, Häppchen und Schieberintrigen am Schwimmbeckenrand."

    ‚Da täusche dich mal nicht, was meine Nachbarn betrifft’, dachte Margita und sagte:

    „Weißt du, wir sollten tauschen. Das wärs doch! Ich wüsste, wie ich diesen Leuten bei dir zu Hause um den Bart gehe."

    „Da bin ich mir sicher."

    Inka schnappte ihre Luftmatratze und ging ins Wasser. Damit war das Thema erledigt. Vorerst. Denn Margita blieb am Ball. Sie richtete es ein, nach wie vor gelegentlicher Gast in der Villa Betgenhaus zu bleiben. Und so dauerte es keine Ewigkeit, bis Betgenhaus an Margita mehr Gefallen zu finden schien als an der eigenen Tochter.

    „Inka mit ihren Sozialflausen. Die hat sie nicht von mir. Ich kann nur hoffen, dass die sich noch auswachsen, bis sie volljährig ist. Sie sollte mehr von dir haben. Du weißt, worauf es ankommt im Leben. Na, vielleicht ist Inka in zwei Jahren auch soweit", sagte Inkas Vater einmal, als Margita aus dem Becken, für das sie sterben würde, stieg und er ihr das Badetuch reichte. Zur gleichen Zeit ging Inka ihrer Mutter in einem anderen Teil der Villa bei praktischeren Dingen zur Hand. Nur um jenen zu entgehen, die sich außer Betgenhaus und ihrer Freundin am Rande des Beckens einer Party hingaben.

    „Ich bin auch nicht älter als ihre Tochter, Herr Betgenhaus."

    „Tatsächlich? Hätte ich nicht gedacht."

    So waren beide, Inka und Margita, ihren ganz persönlichen Versuchungen ausgesetzt. Dem Traum von der Flucht aus einer Welt, die mit schönem Schein den schnöden Mammon übertüncht, und dem Traum sich in dieser Welt einzunisten.

    „Sag mal, wie müssen wir es anstellen, zu tauschen?", erinnerte sich Inka ein Jahr später - wieder am Autobahnsee - an ihr Gespräch. Den Anlass lieferte ein unangenehmer Vorfall mit jemandem aus dem väterlichen Bekanntenkreis. Genaueres hatte Inka ihrer Freundin nicht erzählen wollen. Margita ihrerseits hatte in den vergangenen Monaten geduldig auf eine solche Frage gewartet und gedanklich vorgearbeitet.

    So kam es, dass die beiden eines Nachts über das Betgenhaussche Betriebsgelände schlichen.

    „Wo ist er denn nun?"

    „Stell dich nicht so an! Du weißt genau, wo der Fuhrpark ist. Es sind noch ein paar Meter."

    „Das ist die Aufregung."

    „Ja, ja. So, da vorn steht der LKW."

    Margita holte einige Utensilien aus der Tasche und machte sich am Laster zu schaffen, während Inka ihren Rucksack abstellte.

    „Und du bis dir sicher, dass man auf die Tour über die Grenze kommt?"

    „Ja, Herrgott. Wenn Ritchi, mein Freund, das sagt, ist das so."

    Beide kicherten.

    „Doch, doch. Verlassen kann man sich auf ihn. Den habe ich fest am Haken. Der bildet sich sogar was darauf ein."

    „Bloß komisch, dass er gerade auf dieser Fahrt deinen Vater nicht begleitet."

    „Sei froh, sonst würde er dich vielleicht finden."

    „Hast du ihm was gesagt?", fragte Inka erschrocken.

    „Quatsch mit Soße! Ritchi hat keine Ahnung, dass wir grade an seinem Laster durchziehen, was er mir an Tricks verraten hat. Der hat morgen irgendeine theoretische Prüfung."

    Beide umarmten sich herzlich, da sie ausgemacht hatten, einander für längere Zeit nicht wieder zu sehen.

    „Übrigens: ‚Quatsch mit Soße’ sagt man in meinen Kreisen nicht, Patenschwesterchen."

    Inka spielte darauf an, dass Margita als mutterloses Kind durch beider geschicktes Spiel vor einigen Wochen zum Patenkind der Familie Betgenhaus aufgestiegen war. Wenn getauscht wird, dann richtig. Das gehörte zum Plan. Im Gegenzug hatte Margita die Aufgabe übernommen, Inkas Transfer ins Ausland zu ermöglichen. Inka war besessen von der Idee, dass ihre Eltern die ganze Republik durchrastern lassen würden, sobald sie stiften geht. Sie war noch nicht achtzehn.

    „So, steige da rauf und pass mit den Kabeln auf."

    Margita schob Inka hinauf. Vielleicht ein bisschen zu sehr, so dass Inka beim Nachziehen ihres Rucksacks doch hängen blieb, wo sie nicht sollte. Eilig steckten sie die Verbindungen wieder zusammen, denn von weitem sahen sie schon den Schein der Nachtwächterlaterne, die mit ihrem Träger regelmäßig im Betriebsgelände kreiste.

    Es war nachmittags, drei Tage später. Margitas Vater hätte bereits zurück sein müssen, als Ritchi bei ihr in der Tür stand.

    „Du wirst heute noch Besuch von der Polizei bekommen", sagte er tonlos und mit einem Ausdruck im Gesicht, dem jede Fassung entglitten war. Margita schauderte. ‚Sie haben Inka erwischt und die hat ausgepackt.’

    „Dein Vater."

    Ritchi stockte. Irgendetwas stimmte nicht.

    „Dein Vater kommt nicht mehr nach Hause."

    „Ist der im Gefängnis?"

    „Nein, Mann. Wie kommst du denn darauf? – Egal. Ich weiß gar nicht, ob ich dir das sagen darf."

    „Ritchi, mein Freund, was ist los?"

    „Nenn mich nicht so!"

    Margita sah ihn schweigend an und trommelte mit ihren glasierten Fingernägeln auf das Glas in der Haustür.

    „Es gab einen Unfall."

    „Ist wer verletzt?"

    „Es gab Tote."

    „Wie viele?"

    „Keine Ahnung... Ich habs gerade in der Firma gehört. Der Kunde, an den dein Vater liefern sollte, hat angerufen. Es muss wohl kurz vor - ach, ich kann mir diese ausländischen Namen nicht merken - passiert sein. Die Polizisten werdens dir sicher noch genau sagen."

    Ritchi stockte, doch Margita erwiderte nichts.

    „Es tut mir so leid. Vielleicht hätte ich es verhindern können, wenn ich dabei gewesen wäre. Aber diese blöde Prüfung..."

    Margita konnte nicht denken ‚... hat dir unter Umständen das Leben gerettet.’ Der Schmerz, zwei Menschen verloren zu haben, war alles, was sie spürte. Margita sank kraft- und willenlos am Türrahmen zu Boden.

    Bei Familie Betgenhaus war die Stimmung ähnlich. Dort fand man einen Brief:

    ‚Liebe Mama, hallo Vater!

    Ihr habt es sicher selbst gemerkt. Die Spannungen in letzter Zeit waren nicht mehr lustig. Ich bin es leid mit anzusehen, wie ihr lebt. Die Typen, mit denen ihr euch umgebt. Die Freunde, die ihr für mich aussuchen wollt. Und dann noch seit einiger Zeit euer riesiges Hallenbad, wo doch die Leute, die für euch arbeiten, nicht mal einen Swimmingpool haben.

    Dass Vater mich damals ausgelacht hat, als Margita und ich die Soli-Aktion durchzogen, tat schon weh. Er hat einfach nicht begreifen wollen, worum es mir geht. Deswegen steht für mich fest: Ich muss hier weg, raus in die Welt. Das habe ich schon lange gedacht. Genau jetzt ist es soweit.

    Letzter Anlass war... – ach, da soll Vater doch mal seinen Freund Pfeilschneider fragen.

    Und: Seid nett zu Margita, die hat von alledem nichts gewusst.

    Inka, eure Tochter

    P.S. Sucht nicht nach mir! Ihr wüsstet gar nicht, wo ihr

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