Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Sex, Drugs & Symphonies: Die unglaubliche Geschichte von Adrian, Riggbert & Theyler
Sex, Drugs & Symphonies: Die unglaubliche Geschichte von Adrian, Riggbert & Theyler
Sex, Drugs & Symphonies: Die unglaubliche Geschichte von Adrian, Riggbert & Theyler
eBook849 Seiten10 Stunden

Sex, Drugs & Symphonies: Die unglaubliche Geschichte von Adrian, Riggbert & Theyler

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die deutsche Prog-Rockband Adrian, Riggbert & Theyler (ART) erobert von London und New York aus mit Konzeptalben wie "Westwake", "Tour De Farce" und "Uropya" sowie spektakulären Bühnenshows von 1970 bis 1974 den Gipfel der internationalen Rockmusikszene. Der Ruhm wächst bei Wolfgang Adrian (Keyboards & Synthesizer), Michael Riggbert (Bass, Guitars & Vocals) und Stefan Theyler (Drums & Percussion) wie Drogenkonsum, Gigantomanie und Rücksichtslosigkeit. ART geraten zudem wegen ihrer atheistisch-sozialistischen Attitüde in ein unkalkulierbares Spannungsfeld. Die Band wird von Linksaktivisten und Ostblockpolitikern umworben, aber vom Establishment und dem FBI argwöhnisch beobachtet. Zunehmend untereinander entfremdet, verstricken sich die Musiker in bizarre Beziehungen, skandalösen Publicitypannen und tödlichen Konfrontationen. "Sex, Drugs & Symphonies oder Die unglaubliche Geschichte von Adrian, Riggbert & Theyler - Teil 1: Die Töne der Titanen" ist mit seiner Mischung aus Rockhistorie, Komödie und Thriller eine einzigartige Musikbiografie, wie es sie noch nie gab. Bei ihrer Odyssee durch die Musik- und Zeitgeschichte der 1960er und 1970er-Jahre begegnen die drei Musiker unter anderem Persönlichkeiten wie Romy Schneider, Elena Ceausescu und Charlie Chaplin.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. März 2021
ISBN9783347206847
Sex, Drugs & Symphonies: Die unglaubliche Geschichte von Adrian, Riggbert & Theyler
Autor

Bernd Franco Hoffmann

Bernd Franco Hoffmann (als Interviewer in dem Buch BFH) arbeitete als Journalist u.a. für den Kölner Stadt-Anzeiger, die Kölner StadtRevue und die TAZ sowie als Quizautor u.a. für WDR, RTL und Kabel eins. Für die Musikmagazine EB/METRONOME, MUSIK-WOCHE und ECLIPSED schrieb er unter anderem über Grobschnitt, Beach Boys, Emerson, Lake & Palmer, Blood, Sweat & Tears, Grobschnitt, Peter Rüchel, James Taylor, Mike Oldfield und Super-tramp. Zudem verfasste er Buchbeiträge über Santana und Emerson, Lake & Pal-mer. Bernd Franco Hoffmann verfasste zahlreiche Bücher im Bereich der Sport-, Regional und Verkehrsgeschichte, über die im WDR, ZDF und RBB berichtet wurde. Als Musiker und Sänger spielte er Synthesizer bei den Elektrobands Sektor und Cromosome nach Meinung des Musikjournalisten Matthias Lang „Musik für nicht existierende Diskotheken“. Mit beiden Bands veröffentlichte er mehrere Vinylalben, CDs sowie Videoclips und trat bei der documenta 8 auf. "Sex, Drugs & Symphonies" ist sein Romandebüt.

Ähnlich wie Sex, Drugs & Symphonies

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Sex, Drugs & Symphonies

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Sex, Drugs & Symphonies - Bernd Franco Hoffmann

    Prolog oder Was wurde aus Adrian, Riggbert & Theyler?

    Diese Frage stellen sich Millionen Rockfans: Wieso sind die Mitglieder der einstigen Super-Progressive-Rockband Adrian, Riggbert & Theyler seit Jahren spurlos verschwunden? Das Ende der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gegründete Trio war von 1970 von 1974 gemessen an den Plattenverkäufen und Konzertbesucherzahlen die erfolgreichste Rockband der Welt.

    Musikalisch waren Adrian, Riggbert & Theyler, von den Fans auch respektvoll „ART" genannt, mit ihrem ebenso ausdrucksstarken wie kontrovers diskutierten Symphonic-Rock eine Ausnahmeerscheinung. Wolfgang Adrian (Keyboards & Synthesizer), Michael Riggbert (Vocals, Bass & Guitars) und Stefan Theyler (Drums & Percussion) trieben sich gegenseitig zu musikalischen Höchstleistungen an. Basierend auf europäischen Klassikelementen, angloamerikanischer Rockpower und elektronisch erzeugten Klanggebirgen waren die Kompositionen ebenso komplex wie kommerziell enorm erfolgreich.

    Adrian, Riggbert & Theyler kombinierten im Zeitalter der Post-Hippie-Ära ihren Klangkosmos oft mit Texten, die mehr oder wenig offen Revolution, Kommunismus und Atheismus propagierten. Themen, die andere Bands aus der Superstarliga nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätten. Aus der Feder flossen aber nicht nur provokativer Politikrock mit ästhetischem Anspruch, sondern auch mitreißende Rocksongs, einfühlsame Balladen und schillernde Suiten – gesungen vom optisch so sanft wirkenden „Chefideologen" Michael Riggbert.

    Zu den fauchenden Synthesizern, pathetischen Piano-Akkorden und krachenden Orgelkadenzen des kompromisslosen Keyboardvirtuosen und genialen Soundtüftlers Wolfgang Adrian trommelte ebenso expressiv wie einfühlsam mit Stefan Theyler eine lebende Schlagzeugbatterie.

    Diese musikalische Synthese aus dem „Besten von Beethoven, Beatles und Rock'n'Roll" (DER SPIEGEL) geriet in den Hintergrund, als die Band zunehmend in einem Sumpf aus Politaktivismus, Drogenmissbrauch und Größenwahn versackte. Aufgrund ihrer rockhistorischen Bedeutung haben es Adrian, Riggbert & Theyler dennoch schon längst verdient, ein biografisches Denkmal gesetzt zu bekommen. Doch seit Jahrzehnten herrscht um dieses einstige Super-Trio Grabesstille.

    Vorab: Das Geheimnis um das spurlose Verschwinden wird auch mit diesem Buch (noch) nicht gelüftet. Es handelt es sich um den ersten Teil der unglaublichen Geschichte dieser extremsten Rockband aller Zeiten. Wir erfahren hier die Hintergründe, Details und Einblicke über Kindheit, Bandgründung und den Aufstieg in die Superrockstarliga. Wir erleben hautnah das Privatleben wie die damals schlagzeilenträchtige Liaison Michael Riggberts mit Romy Schneider und die Entstehung der bombastischen Bühnenshows mit Schlagzeugschloss, Keyboardkarussell und computergesteuerten Wachtürmen.

    Wir erleben diese unglaubliche Bandgeschichte aus erster Hand – nämlich aus den Erzählungen der Protagonisten Wolfgang Adrian, Michael Riggbert und Stefan Theyler. Ich führte mit den drei Musikern über Monate hinweg ausführliche Interviews an den Orten, wo sich Adrian, Riggbert und Theyler mittlerweile inkognito schon seit Jahren aufhalten. Wie es dazu kommen konnte, darüber habe ich für den ersten Teil mit Adrian, Riggbert und Theyler noch Stillschweigen vereinbart.

    Eine entscheidende Rolle spielte dabei aber auch ihr ehemaliger Manager Uwe „Max" Maxner. Durch ihn konnte ich die oft sehr subjektiv und emotional gefärbten Berichte der Musiker um eine neutrale und sachliche Perspektive ergänzen. Neben Maxner kommen auch der langjährige Produzent Kenny Tischler und andere Personen aus dem direkten Bandumfeld zu Wort.

    Schon vorab entschied ich mich, das Buch im Wortlaut-Interview zu schreiben. Zum einem bin ich kein Meister der Erzählkunst wie Siegfried Lenz, zum anderen bietet diese journalistische Form eine spontane, spannende und aufschlussreiche Sprache und eignet sich hervorragend, um die Protagonisten sowie ihre Ansichten und Absichten in eigenen Worten darzustellen. Trotzdem ist dieses Buch keine Abschrift der Tonbandprotokolle, vielmehr stelle ich die nicht zeitgleich entstandenen Aussagen der Beteiligten in einen Gesprächskontext.

    Und jetzt folgen Sie mir, lieber Leser, auf die aufregende Reise durch eine Ära der Triumphe, der Erfolge und des Ruhms, aber auch der Skandale, der Verbrechen und des Versagens. Es ist die unglaubliche Geschichte von Wolfgang Adrian, Michael Riggbert und Stefan Theyler – in der Rockwelt einst weltberühmt als Adrian, Riggbert & Theyler, die mit ihren Rock-Symphonien die Welt eroberten und denen nicht nur Sex und Drugs zum Verhängnis wurden.

    Aktuelle Infos über Band, Buch und Autor unter www.art-therockband.com

    1. Schlüsselerlebnis eines Schlüsselkindes

    Ich beginne die Geschichte mit Wolfgang Adrian, dem einst gefeierten „King Of Keyboards". Ich gebe zu, ich fühle mich zunächst etwas beklommen, dieses einst weltberühmte Idol zu treffen. Adrian wirkt auf mich ernst und misstrauisch, wird aber sofort redselig, wenn es um die Musik geht. Ich drücke die Tastatur des Aufnahmegerätes und die unglaubliche Geschichte beginnt:

    BFH: Über eure Kinder- und Jugendzeit ist ja kaum was in den Archiven zu finden. Ich möchte deshalb eure Geschichte von Anfang an hören.

    Adrian: Dann bist du wirklich der erste.

    Im englischen Musikmagazin MELODY MAKER vom August 1973 war zu lesen, dass dein Urgroßvater Hofpianist beim russischen Zaren war. In der BRAVO stand in einem der ersten Artikel überhaupt über euch, dass du bereits als Zweijähriger „Alle meine Entchen" auf der Melodika spielen konntest. Stimmt das?

    Nein und ich weiß nicht, wie dieser Unsinn entstanden ist. Dieser Blödsinn stammt jedenfalls nicht von mir.

    Dann erzähl mir doch, wie bei dir alles anfing.

    Nun ja, mein Vater besaß ein Klavier, das er nach dem Krieg wiederum von seinem Vater erbte. Mein Großvater spielte tatsächlich Klavier, aber bestimmt nicht für den russischen Zaren. Von ihm habe ich dann wohl auch das musikalische Talent geerbt. Von meinem Vater kann ich das nicht behaupten, der war Buchhalter. Deshalb diente das gute Stück bei uns im Wohnzimmer auch nur als Unterlage für diverse Schrankdeckchen und andere Staubfänger. Jedenfalls fing ich so im Alter von acht Jahren mit dem Spielen an.

    Bevor wir dazu kommen, möchte ich noch einige Umstände deiner Kindheit erfahren. Du warst ja ein Einzelkind, was in den 1950er-Jahren eher ungewöhnlich war. Weißt du eigentlich, warum deine Eltern keine weiteren Kinder wollten?

    Keine Ahnung, darüber wurde nie gesprochen. Ist das denn so wichtig?

    Für die persönliche Entwicklung eines Kindes schon, wie ich finde.

    Meine Eltern besaßen eben nicht viel Familiensinn, die hätten auch gut für sich bleiben können.

    Warst du kein Wunschkind?

    Wunschkind? Gab’s den Begriff damals überhaupt? Damals kamen Kinder einfach so auf die Welt, wenn Mann und Frau geheiratet haben oder? So dachte ich jedenfalls als Kind.

    Hast du Geschwister vermisst?

    Anfangs schon, weil ich mich oft so alleine fühlte. Meine Eltern haben wenig mit mir gesprochen und sahen mich wohl eher als lebende Puppe, um sich nach außen zumindest als Kleinfamilie zu präsentieren. Bei einer kinderlosen Ehe hätten die Leute damals sicher komisch geguckt.

    Abgesehen davon, dass der Begriff „Familienplanung" noch nicht so verbreitet war.

    Nee, es wurde eher planlos gevögelt. Ich suchte anfangs immer die Zuneigung meiner Mutter, die mich aber oft abwies. Von meinem Vater wollte ich gar nichts, wir konnten nichts miteinander anfangen. Meistens verbarg er nach der Arbeit sein Gesicht hinter der Zeitung.

    Du musst ja emotional völlig verkümmert gewesen sein.

    Vielleicht hätte ich ja kriminell werden müssen, dann wären sie vielleicht aufmerksam geworden, aber wahrscheinlich hätten sie mich dann in ein Erziehungsheim abgeschoben. Untereinander waren sich meine Eltern aber stets einig und bildeten mir gegenüber eine emotionale Festung, gegen die ich nicht ankam.

    Du hast dich also als Kind alleine gefühlt?

    Ja, auch weil ich wohl kein richtiges Urvertrauen aufbauen konnte, was meine Rolle bei Adrian, Riggbert & Theyler sicher in gewisser Hinsicht beeinflusste.

    Als ich in die Grundschule kam, fing meine Mutter außerdem an, wieder halbtags als Verkäuferin zu arbeiten. An manchen Tagen arbeitete sie sogar bis abends. Dadurch war ich als Schlüsselkind noch mehr allein zu Hause.

    Freunde hattest du nicht?

    Ich spielte schon mit den anderen Jungs aus der Nachbarschaft. Aber mir fiel es dennoch immer schwer, Kontakte zu knüpfen.

    Wie hast du denn die Musik für dich entdeckt?

    Ich war, wie gesagt, acht Jahre alt, als es mir zu Hause allein wieder langweilig war. Ich weiß bis heute nicht wieso, aber ich setzte mich einfach vor das Klavier auf den Hocker und klappte vorsichtig den Deckel auf. Und zum ersten Mal sah ich diese weißen und schwarzen Tasten vor mir.

    Instinktiv fing ich an, diese Tasten mit meinen kleinen Fingern langsam runterzudrücken. Erst wahllos und vorsichtig, bis ich nach einiger Zeit ein paar passende Töne zusammen bekam. Dann fing ich sogar an, „Alle meine Entchen und „Hänschen klein zu spielen. Das ging einfach so nach Gehör. Nun, du siehst, „Alle meine Entchen" habe ich schon gespielt, aber nicht als Zweijähriger auf der Melodika. Jedenfalls spielte ich von nun an immer regelmäßiger auf dem Klavier, wenn ich allein zu Hause war, und das war ich ja oft. Ich erfand schon immer gerne Melodien, die ich als kleiner Junge vor mich hin summte. Und durch das Klavier erwachten diese Melodien in meinem Kopf plötzlich zum Leben.

    Das war also sozusagen als Schlüsselkind für dich das Schlüsselerlebnis.

    Nett formuliert, aber das waren natürlich noch keine komplexen Sinfonien, sondern Lieder, die von Schlagern inspiriert waren. Eben solche, die ich vom Fernsehen kannte oder im Radio hörte.

    Du bist also ein echtes Naturtalent.

    Na ja, das Klavierspiel ging mir jedenfalls leicht von der Hand. Und meine Mutter bekam das mit, als sie mit meinem Vater in der Küche saß, während ich im Wohnzimmer auf dem Klavier klimperte.

    Ich hörte, wie meine Mutter zu meinem Vater sagte: „Hör dir das mal an, der Junge sollte Klavierunterricht bekommen. Dann hat er endlich mal eine Beschäftigung." Das war doch sehr vorrauschauend von deiner Mutter.

    Aber auch eigennützig. Ich denke, dass meine Mutter darin eine Möglichkeit sah, vor mir Ruhe zu haben, damit ich nicht ständig um Zuneigung quengelte.

    Und dein Vater?

    Der grummelte hinter seiner Zeitung nur: „Wenn’s nicht zu teuer wird."

    Du bekamst dann also Privatunterricht?

    Ja, bei einer älteren Dame namens Frau Graumeier. Den Vornamen weiß ich nicht, aber Frauen, die verheiratet waren, besaßen damals scheinbar sowieso keine Vornamen. Bei meinen Eltern stand auch immer „Karl-Heinz Adrian auf dem Klingelschild. Ich sehe Frau Graumeier noch vor mir, mit ihrer altmodischen Brille, dem runden Gesicht und den grauen, streng nach hinten gekämmten Haaren - wie diese Schauspielerin aus diesem schrecklichen Stummfilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück.

    Sozusagen klassischer Typ alte Jungfer?

    Ob sie mal verheiratet war oder ein Sexualleben besaß, stellte ich mir lieber nicht vor. Wichtig war, dass sie mir musikalisch einiges beigebrachte – vor allem die richtige Körperhaltung beim Klavier spielen, das half mir schon sehr. Obwohl sie eine strenge Person war, kam ich mit ihr ganz gut klar.

    Vielleicht war sie ja für dich eine Art Mutterersatz?

    Ganz sicher nicht, ich war ihr emotional nicht sonderlich zugeneigt. Aber sie hielt mich für talentiert und sie musste bei mir nicht bei null anfangen. Ich kam gut voran und lernte rasch nach Noten spielen.

    Bald flitzte ich die Tonleitern rauf und runter. Die leichteren Stücke von Chopin, Händel oder Bach waren für mich überhaupt kein Problem. Ich zählte schnell zu ihren besten Schülern. Aber die Dame war natürlich schrecklich konservativ. Konservativ in musikalischer Hinsicht?

    Was wohl sonst? Über Politik habe ich mich als Achtjähriger nicht mit ihr unterhalten. Ich erinnere mich daran, dass sie offenbar diesen Jerry Lee Lewis im Fernsehen sah und entsetzt war. „Das ist kein Klavierspielen, sondern musikalische Barbarei", meinte sie verächtlich. Ich solle bloß nicht auf die Idee kommen, mir so was anzuhören oder gar auszuprobieren, das wäre dem Spiel nur abträglich.

    Beim Jazz sah die Sache schon anders aus, da schätzte die alte Dame durchaus Pianisten wie Errol Garner, Duke Ellington oder Oscar Peterson. Und ich lernte bei ihr auch Dave Brubecks Klassiker „Take Five".

    Und wie fandst du Jerry Lee Lewis?

    Ihre verächtlichen Kommentare machten mich natürlich erst neugierig. „Great Balls Of Fire mochte ich nie besonders, dafür aber „High School Confidential, obwohl ich als Kind vom Text immer nur „Ha-Tu-Ha" verstand. Das war noch vor dem Englischunterricht auf dem Gymnasium. Insgesamt war Lewis aber kein Pianist, dem ich nacheifern wollte.

    Gab es für dich schon Pianisten, die Vorbilder waren?

    Damals noch nicht. Bei meinen Eltern lag leider nur die für diese Zeit typische Schlagerkollektion herum. Das hab ich mir dann auch angehört. Einiges davon fand ich ganz witzig wie „Spaghetti" von Teddy Parker.

    „Spaghetti"? Nie gehört.

    Ich denke, du bist Musikexperte.

    Ist das überhaupt Musik?

    Lassen wir das. Ich erinnere mich auch an dieses schreckliche Lied von Bobbejaan, das hieß: „Ich steh an der Bar und ich habe kein Geld". Den Text fand ich schon als Kind absolut deprimierend.

    Wieso?

    Das Lied handelt ja von einem Mann, der von allen ausgenutzt, von seiner Braut betrogen wird und am Ende nicht mehr leben will. Ich weiß noch, wie trostlos dieses Lied auf mich wirkte.

    Was dich als Achtjähriger so bedrückte, war in Deutschland 1960 wochenlang in den deutschen Top-Ten.

    Ja, furchtbar. Bevor die Beatles aufkamen, tummelte sich sowieso ein Haufen Schrott in den Hitparaden wie „Kalkutta liegt am Ganges von Vico Torriani oder „Wir wollen niemals auseinander geh‘n von Heidi Brühl.

    Zurück zu deiner Kindheit: Als du 1963 mit elf Jahren auf das Gymnasium gewechselt bist, blicktest du also schon auf drei Jahre Klavierunterricht zurück?

    Wenn du das sagst. Ich war bis dahin noch bei Frau Graumeier, die für mich technisch immer schwierigere Stücke auswählte. Aber ich wollte nicht mehr die Werke alter Meister nachspielen. Ich wollte selbst komponieren, denn schließlich konnte ich ja schon perfekt Noten lesen und spielen. Inzwischen hatten meine Eltern das Klavier in mein Zimmer bringen lassen.

    Und stimmen lassen?

    Das machte ich selbst, so gut war ich schon.

    2. Biedere Typen hinter nussbraunen Kästen

    Irgendwann bist du dann ja wohl mit der Beat-Musik in Berührung gekommen?

    Ja, so ab 1964, da war ich zwölf Jahre alt und hörte ich die Beatsachen im Radio oder auf meinem kleinen Plattenspieler. Mich faszinierten diese Songs, die rasanter und rhythmischer klangen als diese scheintoten Schlager.

    Wenn es mein Taschengeld erlaubte, kaufte ich mir gelegentlich Singles von den Beatles, Hollies oder Kinks. Das waren allerdings Bands, bei dem kaum ein Keyboard zu hören war. Eine Band mit Keyboarder war damals die Ausnahme, die meisten Bands waren gitarrenorientiert.

    Warum war das deiner Meinung nach so?

    Ein Orgel war damals in der Beatmusik, na ja, die Leute würden heute sagen uncool. Die Keyboarder waren meist bieder aussehende Typen, die hinter einem nussbraunen Kasten saßen. So wie dieser Manfred Mann, der 1964 mit „5-4-3-2-1" in England einen Nummer-1-Hit hatte. Der Mann sah ja mit Bart und Brille so spießig aus wie mein Chemielehrer, der sinnlose Formeln an die Tafel kritzelte.

    Ein Klavier war im Gegensatz zur E-Gitarre kein Instrument der Rebellion und kein Instrument, das sich ein Arbeiterkind leisten konnte.

    Es gab allerdings schon die Beach Boys, bei denen öfter eine Orgel zu hören war oder auf dem Stück „California Sun" von den Riveiras.

    Aber die waren bei uns nicht so populär.

    Was ist denn mit „A Whiter Shade Of Pale" von Procol Harum?

    Toll, dass du dieses Stück erwähnst, das war nämlich sozusagen mein Aha-Erlebnis, weil es im Frühjahr 1967 ein Riesenhit war und von der Orgel dominiert wurde. Zudem orientierte sich das Orgelspiel von Matthew Fisher an Johann Sebastian Bach, den ich anfangs sehr verehrte.

    Im selben Jahr wurden auch The Nice mit Keith Emerson an der Orgel bekannt, die ich auch großartig fand. Besonders „America und „The Thoughts Of Emerlist Davjack sind eine großartige Verbindung von Klassik- und Rockelementen, wenn auch saumäßig schlecht produziert.

    Das Feuer in mir war entfacht, so eine außergewöhnliche Musik wollte ich auch machen. Ich spielte mittlerweile fast jeden Tag mindestens vier Stunden und komponierte zwischendurch kleine Stücke, die ich aber niemandem vorspielte. Mein Vater ging das dauernde „Geklimper", wie er abfällig meinte, aber auf die Nerven, deshalb musste ich abends immer leiser spielen. Dafür hasste ich meinen Vater. So musste ich notgedrungen nachmittags nach der Schule spielen, wenn mein Vater noch arbeitete. So entwickelte ich mich zum Stubenhocker, den das Leben draußen immer weniger interessierte.

    Du hast den ganzen Tag nur noch in deinem Zimmer Klavier geübt und komponiert?

    Ja, aber auch aus einem anderen Grund.

    Welchen?

    Ich glaube, du bist du der erste, mit dem ich darüber spreche, vielleicht hat es ja eine therapeutische Wirkung. Ich glaube es fing an, da war ich 13 oder 14.

    Was fing an?

    Dass ich Pickel bekam. Nein, keine Pickel, viel schlimmer: Furunkel.

    Furunkel?

    Ja, so heißen diese dicken Eiterbeulen, die im Gesicht wucherten. Ich merkte das immer, wenn ich so eine verhärtete Druckstelle auf der Haut spürte. Oh nein, bitte nicht schon wieder, dachte ich jedes Mal. Aber es war immer dasselbe: Diese schmerzhafte Druckstelle wuchs in den nächsten Tagen zu eine großen roten Beule an. Es war eine Tortur, denn diese Dinger pulsierten förmlich, weil der Eiter nach außen ausbrechen wollte wie bei einem brodelnden Vulkan.

    Wenn diese Beule dann platzte, war das eine ungeheure Erleichterung. Ich bekam diese Beulen auf der Wange, zwischen den Augen und an den Ohrläppchen.

    Bist du nicht zu einem Hautarzt gegangen?

    Doch, aber keiner von diesen Quacksalbern konnte mir helfen. Einer verschrieb mir eine fleischwurstfarbene Salbe namens „Akne Compren", die musste ich mir über das ganze Gesicht schmieren. Diese Schmiere stank nach Autoreifen und zog überhaupt nicht in die Haut ein. Ich muss im Gesicht ausgesehen haben wie Frankensteins Monster.

    Hinzu kam noch meine unreine Haut mit vielen Mitessern. Ich hab mich vor mir selbst geekelt. So hatte ich bei den Mädchen natürlich keine Chance, obwohl ich als Teenager bereits 1,80 Meter groß war. Diese Erinnerung ist für mich immer noch sehr schmerzlich.

    Das war ich also mit 16 Jahren: ein verschüchterter, todunglücklicher von Furunkeln geplagter langer Lulatsch, der dafür von den Mitschülern gehänselt wurde und vor denen sich die Mädchen ekelten. Keiner wusste oder interessierte sich dafür, dass ich Klavier spielte.

    Und deine Eltern?

    Zu denen verlor ich jegliches Vertrauen, wir lebten in völlig verschiedenen Welten. Mein Vater hielt das Klavierspielen für reine Zeitverschwendung: „Sieh zu, dass du die Schule schaffst und dann ab in die Lehre. Schon das Wort „Lehre hasste ich, hat so was Unterwürfiges.

    Und zu meinen Furunkeln gab er mir den genialen Ratschlag: „Du musst mit einem Mädchen schlafen, dann gehen die Dinger weg." Klar, nichts leichter als das, wo die Mädchen mich Furunkelface ja geradezu umschwärmten. Mir blieb nur die Musik, sonst hätte ich mich vermutlich umgebracht. Ich war völlig orientierungslos und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Bis ich, …ja bis ich auf dem Schulfest den Skandal-Auftritt von Michael Riggbert erlebte.

    3. Die Sehnsucht eines Sauerampfers

    Damit komme ich zu Michael Riggbert. Der einstige Mädchenschwarm, den die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG einst als „Symphonic-Rocker mit dem sozialistischen Sex-Appeal" titulierte, geht bei unserer ersten Begegnung gleich auf Angriff:

    Riggbert: Wir wollten mit Adrian, Riggbert & Theyler damals die Menschen zum Denken anregen. Wir hinterfragten das System und ich wollte es – und das nicht nur mit musikalischen Mitteln wie du noch erfahren wirst – unter allen Umständen zerstören.

    Letzteres hat ja wohl nicht geklappt.

    Leider, im Gegenteil, der Kapitalismus hat gesiegt – zumindest vorläufig. Und die Rockmusik ist heute nur noch Teil des Systems.

    Aber war das die Rockmusik damals nicht auch?

    Nein, ich sah uns immer als Anti-Establishment.

    Aber ihr habt doch finanziell vom kapitalistischen System profitiert.

    Das hätte ich auch in einem sozialistischen System.

    Warum bist du dann nicht nach „Drüben" gegangen?

    Das war kein Sozialismus, aber reden wir von was anderem.

    Okay. Erstmal möchte ich auch von dir wissen, wie du überhaupt zur Musik gekommen bist.

    Auch bei mir war es damals die Musik der Beatles. Ungefähr im Frühjahr 1964 lief „I Wanna Hold Your Hand dauernd im Radio und war damals Platz 1 in Deutschland. Und dann kam „A Hard Days Night, das allerdings nur auf Platz 2 landete.

    Du kannst dich ja noch gut erinnern.

    Und weißt Du warum? Weil damals Platz 1 der Hitparade von „Petersilien-Paulchen & die Rohrkrepierer" blockiert war.

    Petersilien-Paulchen? Noch nie gehört.

    Das Lied hieß jedenfalls „Das kommt vom Rudern, das kommt vom Segeln".

    Ach, du meinst Peter Lauch & die Regenpfeifer? Das war ein ziemlich zotiges und zweideutiges Stück, das deshalb nicht im Radio gespielt wurde. Rudern und Segeln waren nämlich Synonyme für „Pudern und „Vögeln.

    Die Eltern eines Freundes besaßen die Single und da habe ich den Quatsch auch erstmals gehört. Wenn so was auf Platz 1 kommt, sagt das schon einiges über die geistige Verfassung der damaligen Gesellschaft aus.

    Inwiefern?

    Na, das ist doch genau diese verklemmte Geilheit der Spießer, die sich nur in solchen Zweideutigkeiten ausleben konnte. Ich hasste diese Doppelmoral und wollte schon als Jugendlicher diese Heuchler provozieren.

    Bleiben wir bei der Kindheit. Ich las mal irgendwo, dass du als Dreijähriger bereits Goethes „Faust" gelesen und erste Kurzgeschichten verfasst hast.

    Sehr schmeichelhaft, aber leider frei erfunden.

    Dann hast du jetzt Gelegenheit, die Wahrheit zu erzählen.

    Die Wahrheit ist, dass ich mit dem Schreiben von Gedichten in der Grundschule anfing, was aber zunächst mehr der Spaß am Reimen war. Meine Mutter war davon ganz begeistert und ich musste die Gedichte immer vor den Verwandten aufsagen. „Oh, unser kleiner Goethe", hieß es dann immer. Gedichte mochte ich also schon als Kind, aber als Dreijähriger habe ich noch nicht mal Pixi-Bücher gelesen.

    Wäre wohl auch ein bisschen zu viel verlangt.

    Das erste Gedicht, an das ich mich erinnere, ist das vom „Mann mit dem Schwamm, was in einem Schulbuch für das 1. oder 2. Schuljahr stand. Es war ebenso bildhaft wie absurd und ich kann es heute noch aufsagen. Dann mochte ich aus den Schulbüchern noch James Krüss und später besonders das Gedicht „Arm Kräutchen von Joachim Ringelnatz.

    „Arm Kräutchen"? Nie gehört.

    Das Gedicht handelt von einem Sauerdampfer, der „immer nur Eisenbahn um Eisenbahn sah und niemals einen Dampfer". Schon allein deswegen mochte ich Ringelnatz, denn welcher Dichter schreibt schon über die Sehnsüchte eines Sauerampfers?

    Wie sah es bei der Musik aus?

    Damit hatte ich in der Grundschule noch nicht so viel am Hut außer dem, was damals im Radio lief und das waren meist deutsche Schlager.

    Wie war das Verhältnis zu deinen Eltern?

    Gut. Meine Mutter interessierte sich auch ein wenig für Musik und Malerei. Meinen Vater sah ich selten, der war viel auf Geschäftsreise. Das Verhältnis war eher kumpelhaft.

    Dein Vater ist gebürtiger Engländer, richtig?

    Ja, deshalb wuchs ich zweisprachig auf.

    Was sich als Glücksfall für Adrian, Riggbert & Theyler erwies, denn du dadurch musstest du nicht mit diesem schrecklichen „Denglisch" abmühen wie beispielsweise Frank Bornemann von Eloy.

    Ja, schrecklich, nicht? Insgesamt waren meine Eltern für diese Zeit sehr liberal und ich erinnere mich nicht daran, dass ich jemals verprügelt wurde.

    Besaßen deine Eltern musikalische Vorlieben?

    Ja, beispielsweise US-amerikanische Sänger wie Perry Como, Ray Conniff oder Tony Bennent. Das war immerhin eine anspruchsvolle Alternative zur deutschen Schlagermusik, allerdings auch ziemlich schmalzig, wie ich fand. Musik, die vorzugsweise in Fahrstühlen oder auf Flughäfen im Hintergrund vor sich hin säuselte und garantiert niemanden störte.

    Mit elf Jahren bist du dann auf das Gymnasium gewechselt. Wenn ich richtig recherchiert habe, war es wie bei Wolfgang das Hindenburg-Gymnasium.

    Ja, benannt nach diesem Steigbügelhalter für Adolf Hitler. Als Elfjähriger wusste ich natürlich noch nicht, dass er mit den Nazis paktierte, das wird in Deutschland gerne verdrängt. Und an der Schule herrschte ein gewisser Kommissgeist und manche Lehrer waren sehr repressiv.

    Ich erinnere mich an eine Lehrerin, über die Gerüchte im Umlauf waren, dass sie beim „Bund Deutscher Mädel" war.

    Es gab einen Werklehrer, der gerne mal während des Unterrichts seinen Arm um die Mädchen legte und einem Jungen namens Rudolf mal die Nase blutig schlug. Und eine Musiklehrerin verteilte sogar die Noten 7 und 8.

    Du machst Witze.

    Oh nein, ich erinnere mich noch gut daran, wie sie einem Mitschüler in einer Stunde die Note 8 gab und in der nächsten Stunde eine 1. Leider stand er dadurch immer noch insgesamt bei 5.

    Hat dir diese Dame nicht die Musik verleidet?

    Glücklicherweise nicht. Ich hatte zunächst sogar einen Stein bei ihr im Brett, weil sie meine Stimme mochte und mich deshalb in den Schulchor aufnahm. Allerdings haben wir dann das übliche Volksliederzeug gesungen wie dieses unsägliche „In einen Harung jung und schlank mit diesem albernen „sit-tata-tiralala. Da bin ich dann irgendwann nicht mehr hingegangen.

    4. Zwischen Mao und Micky Maus

    Und dann kam der Weihnachtsabend im Jahre 1966.

    Der Tag, an dem mir meine Eltern eine Gitarre schenkten.

    Irgendwo war mal zu lesen, dass du dir schon immer eine Gitarre gewünscht und dir vorher aus einer Zigarrenkiste und Einmachgummis ein Banjo gebastelt hast.

    Ich sehe schon, diese Biografie ist bitter nötig, auch wenn die Wahrheit manchmal langweiliger ist als der Mythos – falls ein Zigarrenkistenbanjo überhaupt ein Mythos ist. Meine Mutter wollte mich neben der Schreiberei auch musikalisch fördern. Die Gitarre war aber ein ziemlich billiges Exemplar von den Billigketten „Woolworth oder „Hertie, das zunächst in einer Ecke meines Kinderzimmers ein unbeachtetes Dasein fristete.

    Dann lag ich um Neujahr herum eine Woche lang mit Grippe im Bett. Als ich die ersten Fieberattacken überstand und es mir etwas besser ging, holte ich mir aus Langeweile die Gitarre auf die Bettdecke und fing an, ein wenig darauf herumzuspielen. Das klappte überraschenderweise ganz gut und ich hatte schnell ein paar Akkorde zusammen, einfach nach Gehör.

    Interessant, dass Wolfgang und du aus lauter Langeweile angefangen haben, ein Instrument zu spielen.

    Große Dinge fangen eben oft ganz belanglos an. Ich wollte jedenfalls unbedingt Noten lernen. Meine Eltern waren einverstanden, dass ich Unterricht nehme. Klar, mussten sie ja auch, sagte ich mir, denn sie hatten mir ja auch die Gitarre geschenkt.

    Neben dem Unterricht beschäftigte ich mich bereits mit den Beatles, die damals nicht zum klassischen Gitarrenunterricht gehörten. Ich habe mir ein Beatles-Liederbuch gekauft und, so oft es ging, die Lieder geübt. Dann fing ich allmählich an, selbst kleine Stücke zu komponieren.

    Kannst du dich noch an konkrete Songs erinnern?

    Zunächst waren es eher Fragmente, damit ich ein Gefühl für Harmonien und Akkordwechsel bekam. Dann verfasste ich nach den ersten Unterrichtswochen bereits kurze Instrumentalstücke. An die Titel kann ich mich aber noch gut erinnern, weil mir das immer sehr wichtig war. Eines hieß auf jeden Fall „Electric Bird, ein anderes „Green Monster.

    „Green Monster war sicher vom Film „Das Ungeheuer vom Amazonas inspiriert.

    Nein, vom gleichnamigen 17.000 PS starken Raketenfahrzeug, mit dem ein gewisser Art Afons in den 1960er-Jahren mehrere Geschwindigkeitsrekorde auf dem Salzsee in Utah erreichte. Ich las über diese Raketenfahrzeuge in einem „Micky-Maus- Heft. Ich war von den Bildern fasziniert, weil die Fahrzeuge sehr futuristisch aussahen und Namen besaßen wie „Spirit Of America Sonic oder „Bluebird. Ein anderes meiner ersten Stücke hieß „Mao.

    Mao? War das etwa ein frühes politisches Statement?

    Es war tatsächlich Mao-Tse-Tung gemeint, aber von Politik hatte ich damals null Ahnung. Vielmehr sah ich als Kind diesen Mao-Tse-Tung immer in den TV-Nachrichten und der Name blieb mir im Gedächtnis haften. Dass ich mit Adrian, Riggbert & Theyler den Mao sogar mal persönlich treffen würde, hätte ich damals natürlich nie gedacht. Das größte visuelle Aha-Erlebnis in musikalischer Hinsicht war aber der „Beat-Club".

    Wie bei vielen anderen auch.

    Durch den „Beat-Club" entdeckte ich, was es neben den Beatles oder Rolling Stones noch für Bands gab. Dabei muss ich rückblickend sagen, dass viele Beatbands wie Hermann Hermits, Spencer Davis Group oder Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich auch nichts anderes waren als Schlagermusik, nur eben tanzbarer für junge Leute. Vielen Teenies ging es immer um das Tanzen, was ich ablehnte. Musik zum Tanzen wollte ich nun wirklich nicht machen. Die erste Band, die diesen Kreislauf durchbrach waren für mich The Who.

    The Who sind j’a mehrfach im „Beat-Club" aufgetreten und die Musik brach aus dem typischen Beatsongschema aus.

    Ich denke, das lag neben dem Gitarristen Pete Townshend natürlich besonders an Keith Moon, der ja völlig außer Rand und Band trommelte. Aber da kann dir Stefan sicher mehr zu sagen.

    Wobei du ja an Pete Townshend keine guten Erinnerungen haben dürftest?

    Du meinst, wegen dem Isle-Of-Wight-Festival? Ich habe daran keine schlechten Erinnerungen, eher Wolfgang, aber dazu kommen wir später.

    Jedenfalls entstand ab 1967 auch durch das Monterey-Festival aus der eher braven Beatmusik die härtere Rock-Variante. Auch die Optik änderte sich bei den Musikern. Die Haare wurden länger, die Kleidung bunter. Bei dir auch?

    Nein, ich lief zunächst noch brav mit Seitenscheitel rum und die Ohren mussten natürlich frei sein, warum auch immer. Ohren bedeckt oder Ohren frei, das entwickelte sich zu praktisch zur Weltanschauung. Meine Eltern erlaubten mir keine schulterlange Mähne trotz aller sonstigen Freiheiten.

    Die Haare wuchsen dann bei mir als 14- oder 15-jähriger Teenager sozusagen inoffiziell immerhin schon so lang wie die Beatles zu Zeiten von „Rubber Soul". Meine Eltern dachten wohl, der Junge geht schon von alleine zum Friseur, wenn ihm die Haare zu lang werden. Nö, ich dachte gar nicht daran, die Haare konnten ja gar nicht lang genug werden.

    5. Jeff Beck statt „Blues-Gejaule"

    Ich sprach bereits das Jahr 1967 an. Welche Alben haben dir aus diesem Jahr besonders gefallen?

    Ich besaß natürlich nicht so viel Taschengeld, dass ich mir ständig Platten kaufen konnte. Damals gab es noch die Preisbindung bei Langspielplatten und die kosteten immerhin 22 DM. Aber Singles interessierten mich immer weniger und Alben immer mehr, zumal auch die Cover interessanter wurden. Die Zeiten waren vorbei, als einen der Interpret auf den Hüllen meist frontal und ausdrucklos anstarrte.

    Die Musik wurde zu einem Gesamtkunstwerk.

    Richtig. In diesem Jahr kaufte ich mir „Disreali Gears von Cream, „Days Of Future Passed von den Moody Blues und „The Piper At The Gates Of Dawn von Pink Floyd. Mehr war mit meinen Taschengeld nicht drin. Cream waren diesem Zeitpunkt die erste „Supergruppe, also eine Band, deren einzelne Mitglieder schon mit anderen Bands erfolgreich waren, so wie danach Crosby, Stills & Nash oder Blind Faith.

    Oder wie Stefan später mit Jimmy Page und Rick Wakeman bei der Band Pacific.

    Ich denke, da ging es nur noch um Profit, da kann Stefan erzählen, was er will. Aber zurück zu Cream: An der Band kam ich als Rockfan gar nicht vorbei. Cream beeinflussten mich enorm, weil ihre Musik bedeutender härter und psychedelischer als der Rest klang.

    Allerdings gefiel mir das ausufernde Blues-Gejaule von Eric Clapton auf „Crossroads weit weniger als die originellen Songs aus der Feder von Jack Bruce wie „N.S.U., „I Feel Free oder „White Room. Ich habe schon immer lieber Jeff Beck als Eric Clapton gehört.

    Wo du gerade von „Blues-Gejaule" sprichst, dann konntest du wohl mit Jimi Hendrix auch nicht viel anfangen?

    Hör bloß auf. Ich habe nie verstanden, was an Hendrix so großartig sein soll. Ich denke, diese gottgleiche Verehrung verselbständigte sich irgendwann und sein früher Tod trug sicher zu diesem völlig überhöhten Mythos bei.

    Was ist denn mit „Sgt. Pepper" von den Beatles?

    Für mich auch ein wenig überschätzt, denn es klingt mittlerweile ein bisschen altmodisch. Aber versteh mich nicht falsch: „A Day In The Life und „Lucy In The Sky With Diamonds sind großartig, aber „When I’m Sixty Four hat für mich mit Rockmusik nichts zu tun und George Harrisons „Within You Without You ist für mich ein kompositorischer Totalausfall. Von den Beatles gibt es sowieso kein Album, auf dem jeder Song gelungen ist.

    Und wie gefiel dir damals „Pet Sounds" von den Beach Boys?

    Also erst mal ist das für mich kein Beach-Boys-, sondern ein Brian-Wilson-Soloalbum. Es ist der typische Brian-Wilson-Stil, wie er auch auf den späteren Alben zu hören ist. Das Herausragende an „Pet Sounds" ist für mich, dass Brian die Popsongs mit Umweltgeräuschen wie Fahrradklingeln und Hundegebell kombiniert, das war schon ungewöhnlich.

    Bist du den Beach-Boys eigentlich jemals persönlich begegnet?

    Nee, die waren zu unserer erfolgreichen Zeit schon ein Nostalgieact, der hauptsächlich von den alten Hits zehrte. Für mich werden aber bis heute die Verdienste der beiden anderen Wilson-Brüder Carl und Dennis viel zu wenig gewürdigt. Ich denke, Carl Wilson verfasste mit „Our Sweet Love" einen der besten Beach-Boys-Songs.

    Du erwähntest noch „The Piper At The Gates Of Dawn".

    Großartig. Allein der Auftakt mit „Astronomy Domine" jagt mir noch heute kalte Schauer über den Rücken. Als ich das zum ersten Mal hörte, dachte ich, die Marsmenschen sind gelandet.

    Aber auch die anderen Syd-Barrett-Songs auf der Platte sind absolut fantastisch. Leider bin ich ihm ebenfalls nie begegnet, weil er zu unserer Hochphase schon völlig zurückgezogen lebte.

    Haben dich solche Songs inspiriert?

    Absolut. Die eingangs erwähnten Alben erweiterten meinen musikalischen Horizont erheblich. Und als ich diese Bands in Fernsehsendungen wie „Beat Beat Beat, „Betty’s Beat Box-Haus oder „4-3-2-1 Hot And Sweet" spielen sah, war mir schnell klar, dass ich auch in einer Band sein wollte. Bloß wie, das war die Frage. Ich spielte mittlerweile recht gut Gitarre, verfügte über eine wohlklingende Stimme, die auch durch den Stimmbruch kaum beeinträchtigt war und hatte schon ein paar Songs geschrieben.

    Aber die Beatmusik war elektrisch verstärkt und eine elektrische Gitarre besaß ich nicht. Mit der akustischen „Hertie"-Gitarre kam ich mir lächerlich vor. Elektrische Gitarren waren aber damals irrsinnig teuer und meine Eltern nicht bereit, mir eine zu kaufen. Dann wirst du eben eine E-Gitarre vom Taschengeld sparen müssen, meinte meine Mutter. So lange konnte ich nicht warten.

    Ich wollte es trotzdem wagen und warum nicht als Sänger mit akustischer Gitarre? Ich könnte ja Rhythmus spielen und ein anderer die elektrische Sologitarre. In meiner Klasse stand ich mit meiner Begeisterung für die Rockmusik allerdings ziemlich allein. Also hängte ich am „Schwarzen Brett des Gymnasiums einen Zettel mit dem Text: „Sänger und Gitarrist sucht Gleichgesinnte, um Beat-Band zu gründen. Hattest du damals schon irgendwie eine musikalische Vorstellung wie die Band klingen sollte?

    Eben wie meine Songs (lacht). Wobei ich damals natürlich noch keine Ahnung davon hatte, wie meine Kompositionen im Bandkontext klingen würden. Aber es meldete sich sowieso niemand, der mit mir eine Band gründen wollte, vielmehr sollte ich einer Band beitreten.

    Ein paar Tage nachdem ich den Zettel aufgehängt hatte und schon nicht mehr mit einer Reaktion rechnete, standen plötzlich zwei Jungs in meinem Klassenzimmer und fragten, wer hier der Michael wäre. Als ich mich meldete, stellten sich die beiden als Olaf und Achim vor und sie wären eine Klasse über mir. Dann erzählten sie mir, dass sie vor einigen Monaten eine Band gegründet hätten, aber dass ihnen ein Sänger fehle.

    „Ich spiele aber auch Gitarre", warf ich ein.

    Kein Problem, meinten sie, einen zweiten Gitarristen könnten sie gut gebrauchen. Hauptsache, ich würde den Sologesang übernehmen.

    „In Ordnung, meinte ich, „wir können es ja mal probieren, allerdings besitze ich nur eine akustische Gitarre.

    Auch kein Problem, meinten beide wieder betont lässig, im Proberaum stehe noch eine zweite E-Gitarre herum. Spätestens jetzt war ich Feuer und Flamme. Wir verabredeten einen Probetermin, den ich kaum erwarten konnte.

    6. Songs mit Synkopen

    Und wie war das erste Mal mit deiner ersten Band?

    Ziemlich muffig (lacht). Das lag aber an den alten Drecksteppichen, mit denen im Proberaum, der sich in der Nähe eines Schrotthandels befand, die Wände abgedeckt waren, um den Sound zu dämmen.

    „Habt ihr die von der Müllkippe geklaut?", fragte ich naserümpfend, was bei den Jungs gar nicht gut ankam.

    „Ist dem jungen Herrn wohl nicht fein genug, kannst ja beim nächsten Mal ’nen Perserteppich von deiner Mami mitbringen", lästerte Achim, der sich als der Gitarrist vorstellte, während Olaf Bass spielte. Schon war die Stimmung ein wenig gereizt.

    Und da war noch Erwin, der Schlagzeuger. Erwin saß bereits hinter seiner Schießbude und besaß das typische Schlagzeug seiner Zeit: Ein Winz-Set mit Basstrommel, Tom-Tom, Standtom sowie Hi-Hat und einem Becken.

    Wie war die Atmosphäre in der Band?

    Wir mussten uns erst mal beschnuppern. Achim, Olaf und Erwin waren äußerlich keine Rock-Rebellen, sondern Jungs, die einfach Spaß daran hatten, „dufte Musik zu machen. Meine Freude bekam zunächst einen erheblichen Dämpfer, als sie mir erzählten, dass sie ausschließlich Coversongs spielen würden. Schließlich wollte ich doch auch eigene Songs spielen. Aber das behielt ich erstmal für mich, ich wollte zunächst mit der Band warm werden. Deshalb fragte ich, was sie denn für Songs spielen würden. Ich erinnere mich noch, wie Erwin achselzuckend meinte: „Na so querbeet eben.

    Ich versuchte, witzig zu sein und fragte: Von der Band Querbeet eben hab ich noch nie gehört."

    Achim, Olaf und Erwin starrten sich nur fassungslos an, dann meinte Olaf todernst: „Querbeet eben ist auch keine Band. Wir spielen beispielsweise Poor Boy von den Lords." Und da stöhnte ich innerlich auf.

    Mochtest du die Lords nicht?

    Nee, die fand ich schrecklich mit ihrem Denglisch, den hausbackenen Songs ohne Originalität und den komischen Lord-Helmchen-Frisuren. Als nächstes sagten sie mir, dass sie auch die Rattles in ihrem Repertoire hätten, und zwar dieses etwas nervige „Come On And Sing", was sich dann aber als Glücksfall herausstellte, weil ich dazu sehr gut Rhythmus-Gitarre spielen konnte.

    Das Lied war damals immerhin Platz 11 in Deutschland.

    Erfolgreich ist nicht gleich gut, und der Song wurde dadurch auch nicht besser. Dazu spielten sie noch ein paar Sachen von den Hollies und Kinks. Wir haben dann am ersten Abend „Come On And Sing und „Dandy von den Kinks ausprobiert, was insgesamt ganz gut klappte. Ich musste mich natürlich erst mal mit der elektrischen Gitarre vertraut machen, aber das ging relativ mühelos, wie auch meine Singerei, obwohl ich die Texte noch nicht richtig konnte.

    „Hört sich gut an", murmelte Olaf anerkennend und er fragte mich, ob ich denn zweimal die Woche abends proben könnte. Klar konnte ich und ich sah mich schon als kommenden Popstar.

    Ich muss mal kurz einhaken. In welchem Zeitraum befinden wir uns jetzt?

    Moment, also die eben erwähnten Platten von Cream, Pink Floyd und Moody Blues besaß ich bereits.

    „Days Of Future Passed" von den Moody Blues erschien im November 1967. Könnte also Ende 1967 oder Anfang 1968 gewesen sein.

    Es war auf jeden Fall nach Weihnachten, denn ich weiß noch, dass ich ziemlich enttäuscht war, am sogenannten „Heilig Abend" keine elektrische Gitarre bekommen zu haben. Die Jungs von der Band erzählten mir dann nach ein paar Wochen, dass sie im Herbst ihr Debüt feiern wollten und zwar beim Jubiläumsfest zum 50-jährigen Bestehen des Gymnasiums. So sollte es auch geschehen, aber von feiern konnte dann keine Rede sein (lacht).

    Existierte eigentlich ein Bandname?

    Anfangs nicht, aber ich schlug vor, die Band „The Electrics zu nennen. Das war ein Name, der mir ganz spontan einfiel und alle Bandnamen fingen damals eben mit „The an: The Hollies, The Kinks oder The Tremeloes. Sie stimmten zu, wie sie überhaupt allem zustimmten, was ich vorschlug.

    Du warst ihr Anführer, obwohl du als letzter hinzukamst.

    Ja, es gelang mir erstaunlich schnell, in der Band eine Vormachtstellung zu erringen. Obwohl ich der Jüngste war, besaß ich durch mein musikalisches Können schon eine natürliche Autorität. Ich war technisch auf meinem Instrument bereits der beste und ich wurde immer wagemutiger. Bei einer der nächsten Proben sagte ich: „Lasst uns eigene Songs spielen!"

    „Wie denn? Wir haben keine eigenen Songs", meinte Achim.

    „Ich schreibe eigene Songs", erwiderte ich.

    „Ach tatsächlich? Dann lass doch mal hören", forderte Achim.

    Ich spielte ihnen auf der Gitarre zwei Eigenkompositionen vor, die ich bewusst im Stil der Hollies und Kinks verfasste. Eines hieß „Kelly Sue frei nach „Carrie-Anne von den Hollies, das andere „Nights, dass ich von den Kinks klaute, die ja „Days geschrieben hatten.

    Achim, Olaf und Erwin hörten staunend zu und nach dem Ende der Vorstellung fragte Olaf: „Das hast du komponiert?"

    „Ja, und ich denke, wir sollten sie einüben."

    „So, denkst Du? Und was denkt ihr?", fragte Olaf in die Runde.

    „Warum nicht, meinte Erwin, „klingt auch nicht schlechter als die Kinks und ist mal eine Abwechslung.

    Damit war ich mit einem Schlag auch der Chefsongwriter und verlangte immer mehr von meinen Mitmusikern, beispielsweise vom Schlagzeuger, doch mal Synkopen zu spielen. Ich befasste mich bereits ein wenig intensiver mit Musiktheorie. Und Synkopen kann man ja notieren. Dann habe ich das aufgeschrieben und dem Drummer vorgegeben: „Spiel das so!"

    Der hat erstmal dumm aus der Wäsche geguckt, aber dann meine Vorgaben so gut es ging umgesetzt.

    7. Der Robespierre des Rock'n'Roll

    Dann warst du jetzt praktisch der Bandboss.

    Ja, und diese Rolle gefiel mir ungemein, während mich Olaf immer misstrauischer beäugte. Aber die Jungs zogen mit. Kurz vor Beginn der Sommerferien hatten wir ungefähr 45 Minuten Programm mit einem Mix aus meinen eigenen und den gecoverten Songs. Unser Auftritt beim großen Herbstfest stand bereits fest und er sollte unvergesslich werden.

    Weil ihr fast die Bühne in Brand gesetzt habt. Außerdem las ich im Archiv, dass

    noch eine Guillotine auf der Bühne stand. Alle Achtung. Immerhin seid ihr mit dieser Horrorshow Alice Cooper ein paar Jahre voraus gewesen. Und du warst dann wohl eine Art Robespierre des Rock'n'Roll …

    …der seine musikalischen und politischen Feinde am liebsten geköpft hätte oder was? Nun, ich muss gestehen, dass mir diese Vorstellung sehr gefällt. Leider stimmt weder das eine noch das andere.

    Es stand aber so in der POP.

    Glaube doch nicht blind, was diese Schmierfinken schreiben. Oft haben sich diese Schreiberlinge solche Dinge aus den Fingern gesogen, damit sie eine Geschichte über uns schreiben konnten, weil wir damals so populär waren. Wo sollten wir denn überhaupt eine Guillotine her haben?

    Also keine Horrorshow und keine brennende Bühne?

    Doch doch, auf der Bühne hat es gebrannt und für die Schule war die Show sicher der pure Horror (lacht).

    Jetzt bin ich aber neugierig.

    Dazu musst du wissen, dass der Eklat seine Vorgeschichte im Religionsunterricht hatte. Meine Eltern waren nicht religiös, aber meine Mutter evangelisch und damals war der Religionsunterricht obligatorisch.

    Die ersten Schuljahre hörte ich mir die ganze Litanei noch geduldig an, aber mit 16 Jahren kamen mir diese Bibelmärchen immer absurder vor. Wir nahmen in der Schule bereits Philosophen wie Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Ludwig Feuerbach durch und für mich war schon lange klar: Religion ist nur Opium fürs Volk und Gott nur eine Projektion für Menschen, die ihre Sterblichkeit nicht akzeptieren wollen.

    Erstaunliche Erkenntnisse für einen 16-Jährigen.

    Ich war eben in mancher Hinsicht den anderen voraus. Meine Aversion verstärkte sich noch durch unsere Religionslehrerin. Die Frau hieß Ziegenhobler und kam wohl schon als alte faltige Frau auf die Welt. Und alt, besser gesagt, altmodisch waren ihre Unterrichtsmethoden. Die Ziegenhobler machte doch tatsächlich jahrelang nichts anderes, als die Schüler nach einzelnen Bibelstellen aus diesen absurden „Testamenten" abzufragen.

    Es war wie beim Militär: Wenn die Alte jemand drannahm, musste der Schüler sofort aufstehen und den geforderten Bibelsatz aufsagen. Fehlte nur noch anschließend wie bei den US-Marines das „Jawohl Sir!". Und es gab jedes Mal eine Note. Jedes Mal?

    Jedes Mal. Und somit wuchs im Lauf eines Schuljahres in ihrer DIN-A-5-Kladde bei jedem Schüler eine rund zwei Kilometer lange Noten-Linie. Und wie sie mit überzeugter Inbrunst immer vom Lukas-, Matthäus oder Apfelmus-Evangelium schwafelte – diese alte Religiotin glaubte tatsächlich an den Quatsch.

    Jahrelang stand ich auch auf und machte das Spiel mit. Ich bekam sogar in dem Fach immer eine Eins oder mindestens eine Zwei. Und dann stand ich während einer Stunde nicht mehr auf.

    Sondern?

    Ich blieb sitzen, verschränkte trotzig die Arme und sagte: „Hören Sie doch endlich auf, uns diese Märchen zu erzählen. Das sind doch alles nur Behauptungen ohne Beweise. Gott gibt es nicht."

    Die alte Fregatte war so perplex, als wäre ihr Luzifer leibhaftig erschienen. Sie starrte mich wütend, ja geradezu hasserfüllt an und schrie: „Bald wird es dich nicht mehr geben und zwar auf dieser Schule, dafür sorge ich!"

    Sie ist dann auf der Stelle zum Direx marschiert, der mich dann in sein Büro zitierte und mich ermahnte, dass ich bei der nächsten Aufsässigkeit von der Schule fliege. Danach wurde ich vom Religionsunterricht freigestellt, weil die Ziegenhobler keinen Ketzer in der Klasse wollte.

    Was haben deine Eltern dazu gesagt?

    Die fanden das okay und mein Vater meinte: „Sag was du denkst und mach, was du für richtig hältst."

    Wow, das ist ja echt progressiv.

    Ich denke, das hat mir schon geholfen. Als Heranwachsender fühlst du dich dadurch akzeptiert. Jetzt hatte ich in der Schule allerdings einen schweren Stand. Denn natürlich sprach sich mein aufsässiges Verhalten unter den Lehrern herum. Meine Noten sackten ab, weil ich im Unterricht nicht mehr dran genommen wurde. Die Lehrer boykottierten mich regelrecht. So stand ich mündlich plötzlich überall 5 und 6. Glücklicherweise war ich schriftlich so gut, dass ich zumeist in den Fächern noch insgesamt eine knappe 3 oder 4 erreichte. Mir gelang es dadurch, dass ich so gerade noch versetzt wurde. Dann kamen die Sommerferien und ich fuhr mit meinen Eltern in den Urlaub nach Schweden. Drei Wochen, die alles veränderten.

    8. Gütiger Vater Ho-Chi-Minh

    Jetzt bin ich natürlich gespannt, wie ein dreiwöchiger Schweden-Urlaub alles verändert.

    Meine Eltern mieteten ein Ferienhaus, in der wir allerdings im Fernsehen nur schwedische Sender empfangen konnten. Eines Nachmittags stellte ich eher aus Langeweile zufällig den Fernseher an und da lief eine schwedische Jugendsendung, in der eine Band namens The Fugs auftrat.

    Es gab zunächst einige Statements der Mitglieder, die ich vom Sinn her nicht so richtig verstand. Dazwischen legten diese Typen aber einen Auftritt hin, der mich sprachlos machte. Die Band spielte eine Art anarchistischen Progressiv-Punk. Vielleicht vergleichbar mit Frank Zappas „Mothers Of Invention" oder den Motor City Five.

    The Fugs gelten als Vorläufer von Frank Zappa und Velvet Underground – und sogar des Punkrock.

    Was ich damals nicht wusste. Aber schon lustig, denn die Musik von Adrian, Riggbert & Theyler hat ja überhaupt nichts mit Punk zu tun. Vielmehr avancierten wir ja zum bevorzugten Hassobjekt der Punk-Bewegung.

    Aber mich faszinierte bei dem Song die damals ungewöhnliche Instrumentierung. Bei einem Song spielte beispielsweise ein Mitglied neben dem Schlagzeuger noch Kesselpauken. Und als die Band dann die sehr rohe Vietnam-Kritik „Kill For Peace" spielte, war ich wirklich hingerissen. So eine kraftvolle Wut-Musik wollte ich auch machen.

    Bei den legendären „Essener Songtagen" im Jahr 1968 haben The Fugs sogar ein Schwein als ihren amerikanischen Präsidentschaftskandidaten vorgestellt.

    Und wahrscheinlich wäre dieses Schwein ein besserer Präsident gewesen als der bigotte Kommunistenhasser Ronald Reagan, der in Nicaragua so viel Unglück angerichtet hat.

    Jedenfalls war ich inspiriert wie nie zuvor. Ich schnappte mir sofort Papier und Bleistift, um dann in einem Rutsch einen Anti-Vietnamkrieg-Song runter zu schreiben. Dabei schwirrten mir die Bilder vom Vietnamkrieg im Kopf: Wie das US-Militär Vietnam mit Napalm bombardiert und unschuldige Zivilisten ermordet, nur um die angebliche Gefahr durch den Kommunismus zu verhindern. Und da gab es Bilder von der US-Studentenbewegung, die sich im Oktober 1967 zu Hundertausenden vor dem Pentagon versammelten, um gegen diesen schmutzigen Krieg zu demonstrieren. Ein Krieg, der sich gegen das kommunistische Nordvietnam unter Ho-Chi-Minh richtete. Hon-Chi-Minh war ein Mann, den ich in den folgenden Jahren immer mehr bewunderte.

    Was hat dich an ihm so fasziniert?

    Er war ein Mann, der die marxistisch-leninistische Theorie täglich praktizierte und in einer Hütte neben dem Regierungsgebäude lebte. Ho-Chi-Minh wirkte auf den Bildern damals auf mich wie ein gütiger Vater, zu dem die Menschen aufschauen konnten.

    Meine Gitarre hatte ich in Schweden dabei. Die Musik krachte schon in meinem Kopf herum und in zwei Stunden war das Stück „Don’t Fight Against The Father auf meiner Gitarre fix und fertig komponiert. In dem Text bezeichnete ich die USA als blutdurstiges Schweinesystem – womit ich nichts gegen Schweine sagen will. Alles diente meinem Ziel, diesen spießigen Lehrern meine unverhohlene Verachtung entgegenzuschleudern und ein musikalisches Inferno zu entfachen. Als ich aus dem Urlaub zurückkam und wir wieder probten, stellte ich den anderen das Stück vor. Es besaß ein längeres Intro, bei dem Erwin wie bei den Fugs Kesselpauken spielen sollte, dann steigerten sich die Strophen in ein mitreißendes Thema – so wie bei „Shangri-La von den Kinks.

    Und die Band war begeistert?

    Nein, entsetzt. „Du bist wohl total irre, meinte Erwin, „was ist das denn für ein kranker Mist?

    Achim war der gleichen Meinung: „Ein Anti-Kriegs-Lied muss nun wirklich nicht sein."

    „Bist du etwa Kommunist?", fragte Olaf misstrauisch.

    „Wie kommst du denn darauf?", erwiderte ich.

    „Na, die Amerikaner schützen uns doch in Vietnam vor dem Kommunismus. Wenn du gegen die Amerikaner bist, musst du ja Kommunist sein, schlussfolgerte Olaf. „Blödsinn, erwiderte ich, „die Amis verfolgen nur ihre eigenen Interessen und ermorden dabei das vietnamesische Volk."

    „Pro-Kommunismus hin oder Anti-Krieg her, das Stück spielen wir jedenfalls nicht", erklärte Erwin bestimmt.

    „Dann steige ich aus", erwiderte ich.

    „Das kannst du nicht machen, nächste Woche ist der Auftritt", erwiderte Olaf entsetzt.

    „Ja und? Spielt halt ohne mich", zuckte ich mit der Schulter.

    „Du weißt ganz genau, dass das nicht geht. Du bist mittlerweile in unserer Musik zu präsent", meinte Achim.

    „Viel zu präsent – leider, das haben wir jetzt davon", erklärte Olaf.

    „Okay, ich schlage euch einen Kompromiss vor. Ich übernehme als Komponist für diesen Song die volle Verantwortung", erklärte ich großspurig.

    „Er übernimmt die volle Verantwortung. Hört hört", höhnte Olaf.

    „Das nennst du Kompromiss? Ich nenne das Größenwahn", meinte Achim.

    „Nenn es, wie du willst, entweder wir spielen den Song oder ich steige aus."

    „Ich habe aber gar keine Kesselpauken", jammerte Erwin und damit waren wir schon wieder einen Schritt weiter.

    „Egal, dann holst du dir ein paar Mallets und trommelst auf der Stand-Tom."

    „Häh, was sind denn Mallets?", meinte Erwin.

    Ja, was sind Mallets?

    Das sind Filzschlegel, die auf dem Schlagzeug universal einsetzbar sind. Die hat sich Erwin dann besorgt und genau das gespielt, was ich ihm vorschrieb. Ich trommelte es ihm förmlich vor. Und damit war endgültig klar, dass alles so gemacht wurde, wie ich es wollte.

    Klingt, als wärst du damals ein ziemlicher Diktator gewesen.

    Mir ging es dabei immer um die Musik, aber ich wollte schon damals nicht nur die Musik sprechen lassen. Und ich wollte noch einen Schritt weiter gehen und den Leuten etwas bieten, was heute ein so genanntes Multimedia-Spektakel wäre.

    Und was du dann mit Adrian, Riggbert & Theyler realisiert hast.

    Richtig. Ich ging in die örtliche Bibliothek und machte heimlich mit meinem kleinen Fotoapparat einige Repros von Fotos, die damals in den Tageszeitungen und Magazinen erschienen. Daraus ließ ich Dias entwickeln.

    Dann entdecke ich im Fernsehen zufällig eine CDU-Wahlwerbung, in dem eine Studentengruppe doch tatsächlich „Ho-Chi-Minh" rief. Jeden Abend wartete ich nach der Tagesschau, bis diese Werbung endlich mal wieder lief und ich sie mit dem Tonband aufnehmen konnte.

    „Was willst du denn damit?", wunderten sich meine Eltern.

    „Das brauche ich für den Politikunterricht", schwindelte ich. Dann schnitt ich die Ho-Chi-Minh-Parolen mit meinem Tonband mühsam hintereinander, so dass ein rund zweiminütiger Loop entstand. Dann kaufte ich in einem Militärshop die US-Flagge. Das Schulfest fand nach meinem 17. Geburtstag im September 1968 statt. In der Aula war das offizielle Programm mit Reden, Theaterstücken und Musik vorgesehen. In der letzten Woche vor dem Auftritt probten wir dann fast täglich. Am Tag des Auftritts fuhr uns Olafs Vater, der einen Kaufmannsladen besaß, mit seinem Ford Transit zur Schule. Wir benötigten den Platz, weil wir neben den Instrumenten auch das Tonband, den Dia-Projektor, die Leinwand und die riesige US-Flagge mitschleppen mussten.

    „Was willst du eigentlich mit dem Kram?", fragte Olaf noch argwöhnisch.

    „Lass dich überraschen, das gibt einen unvergesslichen Knalleffekt", erwiderte ich. Über den Auftritt sprichst du aber besser mit Wolfgang. Er saß ja im Zuschauerraum.

    9. Feuer und Flagge

    Adrian: Dieses Konzert vergesse ich nie. Ich kann es auch nicht, weil dadurch praktisch alles mit Adrian, Riggbert & Theyler anfing. Ich besuchte dasselbe Gymnasium wie Michael. Er ging in die Parallelklasse und da ist er mir schon mal aufgefallen. Ich habe sicher unbewusst gedacht, dass er ein interessanter Typ ist, weil er damals schon eine gewisse Ausstrahlung besaß.

    Von dem Bandauftritt erfuhr ich erst ein paar Tage vor dem Schulfest, als der Name auf dem Plakat zu lesen war: „The Electrics (Schulband)" stand da einfach. Ich staunte, denn für diese doch sehr konservative Schule war es sehr außergewöhnlich, dass es eine Rockband gab.

    Und du wolltest sicher auch gerne in einer Rockgruppe spielen.

    Allerdings. Ich war verärgert und zugleich deprimiert, dass ich von dieser Schulband nichts wusste. Mann, vielleicht hätte ich da ja mitspielen können, dachte ich noch. Gut genug war ich allemal. Aber ich stand vor einem Riesenproblem.

    Deine Furunkel?

    Nein, ich besaß kein Keyboard. Ich wünschte mir eine Orgel und am liebsten eine der Firma Farfisa, die damals neben Bontempi die günstigsten Modelle anbot. An eine Hammond-Orgel war natürlich nicht zu denken. Von meinem Taschengeld hätte ich mir gerade mal eine Mundorgel leisten können.

    Ich schwärmte für Keith Emerson von The Nice, deren zweites Album „Ars Longa Vita Brevis" gerade erschienen war. So eine Musik, in der Orgel und Piano exzessiv und einfallsreich im Rockkontext eingesetzt wurden, schwebte mir auch vor. Doch bisher hatte ich keine Gleichgesinnten getroffen.

    Wie hast du dieses Fest erlebt?

    An diesem Tag herrschte den ganzen Tag eine gewisse Jahrmarktsatmosphäre. Nachmittags strömten dann Schüler, Eltern und Lehrer in die festlich geschmückte Aula, die ungefähr Platz für 1000 Personen bot. Das Programm startete mit den üblichen Festreden und einer ellenlangen Schulchronik, die ein Heimatforscher stotternd vortrug. Dann folgte eine ebenso holprige Rede des stellvertretenden Bürgermeisters, dessen Versprecher häufiger waren als seine Sätze. Danach spielte ein junges Cello-Duo das „Herbstlied von Felix Mendelssohn-Bartholdy und die Theater-AG einen Auszug aus „Alice im Wunderland.

    Die Instrumente von Michaels Band waren da schon aufgebaut sowie eine kleine Verstärkerwand, was sehr beeindruckend aussah. Die Spannung wuchs bei mir minütlich. Mal sehen, was die drauf haben, dachte ich mir. Und vielleicht bestünde ja nach dem Konzert eine Chance zum Mitspielen. Dann war es soweit: Die Band wurde angekündigt und eine ältere Schülerin sagte so was wie: „Und jetzt für die Freunde der Beatmusik: The Electrics."

    Erinnert mich an Uschi Nerke vom „Beat-Club".

    Fragt sich nur, ob damals überhaupt „Freunde der Beatmusik" anwesend waren, die Schule war wie gesagt sehr konservativ. Jedenfalls stürmte danach die Band auf die Bühne und als ich Michael sah, dachte ich noch: Ach, der ist auch mit dabei, der macht also Musik, sieh an.

    Ich muss gestehen, dass mich die Präsenz von Michael sofort beeindruckte. Er sah für sein jugendliches Alter schon sehr gut aus und war für die damalige Zeit schon ziemlich lässig gekleidet. Seine Haare überdeckten bereits die Ohren und er machte auf mich den Eindruck, als wüsste er genau, was er tat. Er wirkte auf mich wie ein junger, aber schon sehr selbstbewusster Pop-Dandy.

    „Dandy" von den Kinks war auch ihr erster Song, wie mir Michael erzählte. Michael gab mir eine Songliste mit, er konnte sich noch an alle Titel erinnern.

    Lass mal sehen (bekommt den Zettel überreicht und studiert). Das mit „Dandy" stimmt, wobei die Band den Titel eher runterrotzte, was anschließend entsprechend verhaltenen Beifall auslöste.

    Dann kam Riggberts Komposition „Nights". Wie klang der Song?

    Es war ein ziemliches wildes Instrumentalstück, so eine Art psychedelischer Rock'n'Roll, was das Publikum völlig ratlos machte.

    Michael meinte, er hätte sich dabei an den Kinks orientiert.

    An den Kinks? Bullshit! Ich fand das Stück trotzdem toll, weil Michael aus der Gitarre wirklich interessante Klänge herausholte. Das klang nicht dilettantisch, sondern sehr souverän. Und dabei schaute er in die Menge, als wollte er den Leuten sagen: „Da habt ihr’s!"

    Der Typ hat’s ja echt drauf, dachte ich. Ich beneidete ihn, dass er auf der Bühne stehen durfte.

    Dann kam „Help" von den Beatles.

    Was die Band hervorragend rüberbrachte. Auch Michael überzeugte mit seiner Stimme. Und zum ersten Mal kassierte das Quartett einen satten Applaus.

    Dann Michaels Eigenkomposition „Nothing".

    Komposition? Hat er dir das nicht erzählt?

    Was denn?

    Der Applaus für „Help war gerade verebbt, da verkündete Michael: „And now: ‚Nothing‘.

    Ja und dann?

    Ja und dann passierte …nichts. Die Band

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1