Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Jeremiah: Erbe des Dolches
Jeremiah: Erbe des Dolches
Jeremiah: Erbe des Dolches
eBook462 Seiten6 Stunden

Jeremiah: Erbe des Dolches

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Schatten eines jungen Tages
werden wir sehen,
was möglich ist.

Im Schatten eines sterbenden Tages
sehen wir,
was von uns übrig bleiben wird.

In der Stille der Nacht
sehen wir,
was bereits verloren ist.


Ein junger König auf einem wackeligen Thron und ein Mann mit einem gebrochenen Herzen auf der Suche nach sich selbst.

Inmitten des tiefsten Winters versucht Jeremiah den Gott Nibu ausfindig zu machen, um zurückzuholen, was das Schicksal ihm gestohlen hat.
Dabei ignoriert er den Tanz mit dem Feuer, der das neugeformte Königreich in Flammen aufgehen lassen könnte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Jan. 2022
ISBN9783347506558
Jeremiah: Erbe des Dolches
Autor

Judith L. Bestgen

Judith L. Bestgen, geboren 1992 in Nordrhein-Westfalen, wuchs in Ostfriesland auf und fühlte schon als Kind die Magie des Meeres in sich. Ebenso spürte sie die Kraft der Geschichten, tief verwoben mit ihrem Glück. Mit ihrer besten Freundin, mit der sie nun auch in einer WG lebt, arbeitet sie am gemeinsamen Geschichtenprojekt "Das Bambusblatt", kann es sich aber natürlich nicht nehmen lassen, auch ihre privaten Werke endlich zu veröffentlichen.

Mehr von Judith L. Bestgen lesen

Ähnlich wie Jeremiah

Titel in dieser Serie (2)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Jeremiah

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Jeremiah - Judith L. Bestgen

    Teil I

    Der Thron und der Sand

    Kapitel 1

    Fey hatte gesagt, dass Glück nur dort zu finden sei, wo Hoffnung weilte, und Hoffnung konnte nur leben, wenn Angst sich zügelte.

    Hoffnung. Feys Schwester, die ebenso trügerisch wie unverzichtbar daherkam und selbst dann die Menschen nicht im Stich gelassen hatte, als Fey nicht mehr da gewesen war. Hoffnung hatte dadurch vielleicht ihren guten Ruf verloren, doch hatte es sie nie gekümmert. Stets war sie den Menschen zur Seite getreten. Sie weigerte sich, zu gehen. Auch jetzt.

    Um Jeremiah herum war es dunkel und nur die Sterne spendeten fahles Licht. Trotz des Fröstelns, das seinen Körper befallen hatte, sträubte er sich, für diesen Tag eine Pause einzulegen und sich ein wärmendes Feuer zu gönnen. Wenn er verweilte, schienen seine Gedanken ihn schneller einholen zu können. Das Licht eines Feuers bekämpfte die Schatten in seinem Kopf nur mäßig. Es schien, als könnten sie nicht mit ihm Schritt halten, aber sie hafteten an ihm wie Frost und wenn er sich der Erschöpfung ergab, dann nutzten sie diese Schwäche, um die Krallen in ihn zu schlagen.

    Und dennoch war er stehen geblieben. Unter seiner Hand nahm er die knorrige Borke einer alten Eiche wahr. Monate war Fey nun bereits fort. War die Freiheit wieder in ihren Herzen. Alles sollte so sein, wie es vor Jahrhunderten gewesen war. Sollte. Einmal mehr ein Wort voller Tücke. Vielleicht hatten Yron und er sich alles zu leicht erträumt. Vielleicht hätten sie auch nie die Stärke gehabt, ihr Vorhaben in eine Handlung umzuwandeln, wenn sie geahnt oder sich eingestanden hätten, dass damit nicht alles auf einmal besser werden würde. Dass es Zeit bedurfte, bis die Menschen diesen Schrecken abgelegt hätten und aus ihrem Albtraum erwachten.

    Lediglich die Kinder, die verschont geblieben waren oder nicht lange ohne Fey hatten leben müssen, waren nicht in diesen Schockzustand geraten. Kinder waren unglaublich. Sie nahmen die Welt, wie sie war, und sie passten sich an und lebten damit, während alle anderen jeder Zeit zu erwarten schienen, dass die Hexe aus den Grundfesten der Erde emporsteigen und ihre Herrschaft auf noch grausamere Art zurückerlangen würde. Dass sie vielleicht auch alle zu sehr gelitten hatten, dass sie nun zerbrechen würden, gleich ob Fey wieder da war oder nicht. Was ein Hoffnungsschimmer sein sollte, hatte den zerbrechlichen Frieden, in dem sie alle gelebt hatten, in tausende Scherben gebrochen.

    Jeremiah konnte es ihnen nicht verübeln. Das Einzige, das er ihnen nicht verzeihen konnte, war der Empfang, den sie dem wahren Erben des Thrones beschert hatten. Sein Verständnis für die Kälte, die Yron entgegengeschlagen war, hinderte seinen Hitzkopf nicht daran, sie alle als schändlich zu betrachten. Er wollte kein Verständnis verspüren, er wollte sein Recht auf seine Wut ausleben.

    Dabei war er selbst doch kein bisschen besser. Nur ein Mal war er bisher lange von Yron getrennt gewesen und da er damals nicht gewusst hatte, ob dieser noch lebte und wenn ja wie, dachte er lieber nicht daran zurück.

    Und erinnerte sich doch stets aufs Neue daran. Gefühle …

    Jeremiah verstand den komplexen Aufbau Feys und ihrer Schwestern untereinander nicht, obwohl er versucht hatte, Tagebuch zu schreiben und alles aufzuzeichnen. Es war zu einem halbherzigen Versuch verkommen, den er aus Schmerz heraus bereits nach wenigen Tagen beendet hatte. Trotzdem ließen ihn diese Aufzeichnungen nie ganz in Ruhe.

    Manchmal hatte er das Gefühl, alles entschlüsselt zu haben, aber dann schien sich wieder etwas zu ändern und er verstand den Sinn dahinter nicht. Dabei hoffte er, sich so in seinem Kummer selbst heilen zu können. Wenn er nur verstehen würde, wie das alles funktionierte, dann würde er sich selbst helfen können. Um keine Last mehr für das Königreich, seine Familie oder Yron zu sein. Mit jedem Tag vermisste er Fey und mit jeder Nacht kamen die schlechten Träume, in denen Hoffnung und Angst sich die Klinke in die Hand gaben und ihren Schabernack mit ihm spielten. Die Hoffnung, sie irgendwie zurückholen zu können; die Angst, es zu können und dabei zu versagen. Seit Monaten schlief er schlecht und der einzige Grund, wieso er überhaupt einige Stunden Ruhe bekam, war die Wanderung, auf die er sich begeben hatte, um einen Weg zu suchen. So war er erschöpft, wenn er abends auf seinen Schlafplatz kippte, und Hoffnung hatte noch eine hellere Flamme, einen längeren Docht, um sich mit aller Macht daran festzuklammern.

    Bloß je mehr Zeit verging, je mehr Sonnenaufgänge er sah, umso kleiner wurde dieses schummrige Licht in all der Dunkelheit, die sich in seinem Herzen festgenistet hatte. Mit der Dunkelheit kamen auch die Ängste vermehrt. Der Schmerz. Sie war da, das wusste er jedes Mal, wenn er sich nach Liebe suchend an das gepeinigte Herz klammerte, das so unnatürlich normal in seiner Brust schlug. Sie saß dort, seit sie ihn geheilt hatte, und manchmal fragte er sich, ob das der Grund war, wieso er sich verliebt hatte. Weil sie sich dort eingenistet hatte. Aber das ›Warum‹ war kaum von Belang. Die Trauer nahm ihm so oder so die Luft zum Atmen.

    Er wollte so nicht sein. Er hatte schon viele Masken in seinem Leben getragen. Das glückliche Kind; der verliebte Bursche; der Spaßvogel; der treue Freund, der seiner Geliebten die letzten Tage schöner machte. Er war ein Bruder für seine Schwestern und auch für Yron. Er war ein Sohn für seine Eltern.

    Und obwohl er all das ehrlich gewesen war, fühlte er sich, als wäre er nie er selbst gewesen. Vielleicht war das hier nicht nur eine Suche nach Fey, sondern auch eine Flucht vor sich selbst. Yron hatte nach viel Misstrauen aus der Bevölkerung tatsächlich den Thron bestiegen und es war unspektakulärer abgelaufen, als man nach all den Jahrhunderten hätte erwarten können. Die Menschen trauten ihm nicht, sie sahen keinen Grund darin, ihre Hoffnungen in den Dolch zu legen, hatte dieser anscheinend schon einmal eine schwache Königin erwählt. Die wenigen Menschen, die Yron kannten und die sich von ihren alltäglichen Pflichten hatten lösen können, waren so ziemlich die Einzigen, die zur Krönung gekommen waren. Ein Ritual, das holprig abgelaufen war, da man alte Schriften hatte befragen müssen. Es gab kaum einen lebenden Menschen mehr, der die letzte Krönung gesehen hatte oder darauf vorbereitet worden wäre, eine durchzuführen. Anders als früher.

    Und was tat er? Stromerte durch die Gegend, anstatt bei seinem Bruder zu bleiben. Weil er sich selbst nicht ertrug; weil er die Leere in seinem Herzen nicht ertrug, die eigentlich nicht da war. Es fühlte sich surreal an, Fey zu lieben. Als wäre sie nur eine Figur aus einem Buch, das er gelesen hatte. Einem wohlgeschriebenen Buch, eine Figur, die ihm zu lebendig vorgekommen und ans Herz gewachsen war, wo sie nun eine Lücke hinterlassen hatte, die eigentlich nicht existierte.

    Das leise Klirren eines sich lösenden Steins, der in die Tiefe fiel, riss ihn aus all seinen Gedanken und als er den Blick hob, konnte er nicht ganz verstehen, wie der Mond seinen Zenit bereits überstiegen haben konnte. Es musste eine Stunde nach Mitternacht sein und er stand seit geraumer Zeit auf einem Hügel, ohne sich zu rühren, tief vergraben in all seinem Jammer und Kummer.

    Er rieb sich die Nasenwurzel und stieß ein langes Seufzen aus. Es befreite ihn nicht. Er fühlte sich noch immer innerlich verkrampft und die losen Fäden seiner Gedanken, die mit dem Geräusch wie abgetrennt in seinem Kopf umherflatterten, warteten darauf, erneut verknüpft zu werden. Dabei hatte er das so oft gemacht. Tag für Tag. Sein Kopf brummte und erneut massierte er sich den Nasenansatz, in der Hoffnung, das Hämmern in seinem Schädel ein wenig bekämpfen zu können. Nichts geschah, also gab er es auf. Seine Schultern sanken herab und er nahm die Tasche wieder auf, die von seinem Rücken geglitten war, um noch einige Meilen zurückzulegen, ehe der Schlaf ihn übermannen würde.

    Neben ihm machte eine Eule laut auf sich aufmerksam, aber er sah sie nicht, sie war zu gut versteckt, und einen Moment lang wünschte er sich, er könnte das auch. Andererseits war er wie der letzte Feigling abgehauen, als Yron es gerade einmal geschafft hatte, allein den Weg vom Schlafgemach zum Thron zu finden. Und es hatte auch nur so lange gedauert, damit Jeremiah die ehrliche Ausrede hatte, dass sein Freund schon zurechtkommen würde und ihn gerade nicht an seiner Seite brauchte. Die Wahrheit war, dass Yron ihn höchstens deswegen nicht brauchte, weil Jeremiah ein jämmerliches Bündel geworden war. Sein Freund musste sich schrecklich verloren fühlen, so ganz allein mit der Bürde, die er so lange gescheut hatte und die er am Ende bei all dem Hin und Her vielleicht doch nur übernommen hatte, da er es Fey an ihrem letzten Tag geschworen hatte.

    Nun durfte er sich mit den anderen Ländern herumplagen, mit Bittstellern, verlorenen Seelen, obwohl er selbst doch eine war. Jeremiah konnte so gut in seinem Bruder lesen und die letzten Augenblicke, bevor er gegangen war, waren reine Qual gewesen. Er hatte in Yrons Augen gelesen, was er nie hatte lesen wollen. Angst, Verzweiflung, Einsamkeit, auch wenn sein Bruder noch vor ihm stand. Doch Yron hatte nicht ein Wort gesagt, um Jeremiah von seiner Reise abzuhalten. Er hatte ihm nur viel Erfolg gewünscht und ihn darum gebeten, wenigstens Augen und Ohren offen zu halten, um die Bevölkerung besser zu verstehen. Dann hatte Yron ihm ein Pferd bestellt und Proviant zusammengepackt.

    Das Essen hatte er genommen, das Pferd im Stall zurückgelassen. So wäre er schneller gewesen, doch er hatte keinen festen Zeitpunkt, wann er irgendwo sein musste. Er wollte nicht rasch ankommen, er wollte niemals ankommen, er wollte sich zerstreuen.

    Das war nun einige Wochen her und seither war er im Süden angelangt. Eine Gegend, die in starkem Kontrast zum Norden stand, aus dem Jeremiah stammte. Denn mit jedem Tagesmarsch war es wärmer geworden, wo Winter hätte sein sollen. Die Bäume sahen anders aus und die grünen Wiesen waren von bunten Blumen durchzogen, statt eingefroren und tot zu sein. Sogar die Luft roch anders. Süßer.

    Die Landschaften erschienen deutlich wilder. Zumindest sah Jeremiah keine größeren Straßen. Außer den wenigen Handelsstraßen. Der Rest bestand offenbar lediglich aus breiten Trampelpfaden. An einer Stadt war Jeremiah ebenso wenig vorbeigekommen. Nur an kleinen Dörfern, die zufällig in der Gegend platziert schienen. Er mochte seinen Norden deutlich lieber und dennoch hätte er nun gerne jemanden hier, mit dem er all das Neue in diesem Teil der Welt erforschen könnte. Seen, so warm wie ein heißes Bad, hatte er gefunden. Tiere, die er gar nicht kannte, ebenso wie Pflanzen. Er hatte sich ein Reisetagebuch zugelegt, in dem er alles Neue aufschrieb und zu zeichnen versuchte. Gewiss wäre Yron mehr als glücklich über ein solches Geschenk. Jedes Mal, bevor Jeremiah schlafen ging, setzte er sich an ein Feuer und verarbeitete, was er am Tag gesehen hatte, und manchmal hockte er sich auch direkt hin und zeichnete oder schrieb, was es zu zeichnen oder zu schreiben gab.

    Seine Schritte wurden allmählich träger, als er die Hügelkuppe hinauf schritt. Die Steigung zog an und ragte im dämmrigen Licht vor ihm in den Himmel auf. Er wusste, dass er dem Schlaf nicht mehr lange entkommen würde. Seine Lider waren schwer, mit jedem Meter wurden sie bleierner und sein ungelenker Körper schrie ihn an, endlich aufzuhören. Er wollte sich gerade ergeben, als er vor sich auf dem Weg die Umrisse von etwas Großem und Dunklem ausmachte und nicht einschätzen konnte, worum es sich handelte.

    Einen Augenblick lang wollte er sich wieder zurückziehen. Er hatte Bären in diesen Bergen gesehen, die riesig waren. Bären, deren scharfe Krallen einen Mann einfach durchtrennen konnten. Aber dieses Wesen sah nicht aus, als wäre es einer jener Bären, denn dafür war es doch zu klein. Ein tiefer Atemzug suchte sich den Weg in Jeremiahs Lungen, dann schritt er auf das Ungetüm zu, das den Weg blockierte und sich nicht regte, ganz gleich, wie nahe Jeremiah auch kam.

    Als das Mondlicht endlich die Konturen deutlicher aus der Dunkelheit riss, sodass er erkennen konnte, worum es sich handelte, hätte er bei all dem Frust fast über sich selbst gelacht. Auf dem Weg kauerte kein riesiges Tier, das tief und fest schlief. Es war ein verlassenes, halb zerrissenes Zelt und hätte gerade der Wind durch die Bäume getanzt, hätte er auch die Fetzen bewegt. So jedoch war alles unheimlich still und in Jeremiah keimte die Frage auf, wer sein Zelt auf dem Weg aufbaute, damit kein Mensch mehr vorbeikommen konnte.

    Niemand war zu sehen, allerdings verwunderte ihn das bei dem Zustand des Zeltes auch nicht weiter. Vielleicht war ein Tier auf den Besitzer losgegangen oder Menschen waren wieder Menschen gewesen und hatten das störende Objekt angegriffen.

    Auf eine unbestimmte Weise hatte es etwas furchtbar Trauriges an sich und Jeremiah, müde und abgekämpft, war geneigt, noch weiterzugehen. Direkt hinter dem Zelt führte ein schwindelerregender Weg den Hügel wieder hinab. Er wollte nicht hier verweilen. Seine Nackenhaare stellten sich bei dem bloßen Gedanken auf und einen Moment lang war er davon überzeugt, dass der Besitzer tot in der Nähe lag. Dann riss er sich von diesem Gedanken los und sich selbst zusammen.

    In der Nähe des Zeltes waren Ausbuchtungen auf beiden Seiten des Weges in die steilen Felswände geschlagen worden. Sie waren wie für ein Lager geschaffen. Das hätte der Besitzer des Zeltes wohl auch bedenken sollen, aber Jeremiah gab sich Mühe, kein Urteil zu fällen, und nahm stattdessen in einer dieser Ausbuchtungen den Rucksack vom Rücken.

    Als er zum Himmel hinaufsah, stellte er sich den Lebensstrom vor, der über das dunkle Firmament zog und von den westlichen Inseln gut zu sehen war. Über ihm war dieses Band der Göttermacht nicht auszumachen. Hier waren nur der silberne Mond und ein paar Sterne zu entdecken. Nichts, das ihm Trost spendete.

    Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk breitete er seine gepolsterte Decke aus und die leichte Steppdecke darüber. Er legte sich hin, zog sein Tagebuch aus der Tasche und brütete über der Seite, schaffte jedoch nur wenige Zeilen, ehe seine Lider viel zu schwer wurden. Er rollte sich auf den Rücken, starrte erneut zum Nachthimmel empor und schlief rasch ein.

    »Jeremiah …«

    Er wollte die Lider heben. Sie waren viel zu schwer. Wie angekettet zwangen sie ihn in eine hilflose Blindheit. Er wollte den Arm heben. Es war viel zu kalt. Wie erfroren war er zur Ruhe verdammt. Er wollte sprechen und ihren Namen sagen. Seine Zunge war unkoordiniert, als hätte man sie zu oft verwirrt und sie wüsste nicht mehr, wie sie Atem formen konnte.

    »Jeremiah …«

    Er mochte weinen und konnte es nicht sagen. Der Schmerz in seiner Brust war allgegenwärtig. Viel zu mächtig, um von nur einer Seele gehalten zu werden. Ein Sehnen, tief in seinem Inneren. Ein Flehen. Er wollte ihren Namen sagen. Fey! Drei Buchstaben. Drei kleine Buchstaben, die er schon so oft gesprochen und so oft geschrieben hatte. Es war ihm nicht möglich. Er war in diesem Zustand gefangen.

    Er versuchte, zu denken, in der Hoffnung, dass sie es hören mochte. Er dachte daran, wie sehr er sie brauchte und liebte und wie leer sich seine Arme ohne sie dazwischen anfühlten. Sie schien es nicht zu hören.

    »Jeremiah …« Wieso nur wiederholte sie seinen Namen? Wieso nur war es alles, was sie von sich gab?

    Kapitel 2

    »Welcher König schleicht des Nachts durch sein eigenes Schloss?«

    Yron blickte vom Mond auf und zog dabei den Kopf aus dem kleinen Fensterschlitz, an den er sich gestellt hatte. Die Nachtluft war so kalt, dass sein Gesicht zu brennen schien, aber es tat gut, die vor Frost beißende Luft in den Lungen zu spüren. So dumm es klang. Zum Glück musste er sich niemandem erklären, auch Liaz nicht, die in ihrem Nachtgewand, dicken Nachtschuhen und einer Wolljacke auf ihn zutrat, eine Kerze mit den Fingern umklammert, deren Licht sie zum Teil mit der Hand abschirmte. Auch wenn Liaz es gerne gesehen hätte, dass Yron vor ihr rechtfertigte und buckelte, so musste sie wohl oder übel akzeptieren, dass der König auch vor ihr keine Ausnahme machen würde.

    »Ein König, der macht, wie ihm beliebt«, meinte er nur und sehnte sich nach der Ruhe von zuvor zurück. Er war nie ein Freund davon gewesen, sich viel entschuldigen zu müssen, und so wichtig ihm Jeremiah war, er hatte gerne Zeit nur mit sich selbst verbracht. »Und was macht ein Neunmalklug wie du außerhalb seiner warmen Bettfedern?«

    Sie zuckte mit den Schultern, sichtlich unbegeistert. Aber er hatte auch keine Antwort erwartet, selbst wenn er ihre Frage beantwortet hätte. Er verstand schon, wieso so viele Liaz nicht leiden konnten. Sogar er war sich nie sicher, wie er zu ihr stehen sollte. Doch zumindest hatte sie ihnen treu geholfen und noch immer fühlte er sich auf gewisse Weise mit ihr verbunden. Das wollte er nicht missen. Vor allem nicht jetzt.

    »Du machst dir Sorgen um ihn.« Sie hätte niemals fragen brauchen; sie wusste, was in ihm vor sich ging. Trotzdem war es ihr lieber, wenn er seine Gefühle offenlegte. Nun war es an ihm, mit den Schultern zu zucken. »Natürlich sorge ich mich um ihn.«

    Jeremiah war losgezogen und Yron hoffte, dass sein Freund sich auf dieser Reise wiederfand. Aber er hatte Angst, dass es eher etwas Schlimmeres würde.

    Liaz stellte mit einem leisen Geräusch die Lampe auf einem kleinen Tisch im Flur ab und kam auf ihn zu. Ihr Gesicht war im Halbdunkel verborgen und das Flackern der Kerze spielte mit ihrem hellen Haar. Dennoch machte er ihr Lächeln aus. »Du musst dich nicht sorgen, ich bin mir sicher, dass er bald zurückkommen wird, und vielleicht ist er dann wieder dein alter Freund.«

    »Ich fürchte nicht und ich weiß auch nicht, inwieweit ich meinen alten Freund zurückhaben möchte.« Als ihm auffiel, wie diese Worte klangen, kniff er die Augen zusammen und stieß einen tiefen Atemzug aus. »Nein, so war das nicht gemeint. Ich möchte Jeremiah, wie er früher war, ich will nur nicht … Er soll nicht mehr so sein, wie der ganze Schmerz ihn gezeichnet hat.«

    »Der Schmerz gehört zu seinem Leben dazu, wie zu uns allen. Wir wollen ihn denen ersparen, die wir lieben, und denen zufügen, die wir hassen. Aber jeder von uns leidet. So ist es nun einmal. Jeder von uns verändert sich deswegen. Manche wachsen, andere schrumpfen und wiederum andere stumpfen ab.«

    Yron blickte aus dem Fenster. Ein Reiter preschte durch die Straßen, hin zur Stadtmauer und hinaus in die Nacht. Nichts Ungewöhnliches in der Stadt. Hier hatte er Jahre gelebt, ehe seine Reise begonnen hatte, und es fühlte sich auf mehr als eine Art merkwürdig an, im Schloss der Hexe zu stehen. Das Gebäude, das er so lange nicht hatte erobern können. Die Gänge, in denen sie so lange gewandelt war. Der Thron, auf dem so viele gesessen hatten, deren Namen Yron nicht einmal kannte. Irgendwann würde auch er nur zu Staub zerfallen und der nächste Erbe wäre auf dem Weg. Und das so lange, bis die Alten tot waren und keiner mehr sich Yrons Namen bewusst war. »Ich möchte nicht, dass er diese Schmerzen hatte. Ich will, dass er wieder glücklich wie früher ist.«

    »Dann wäre es aber nicht mehr Jeremiah«, nuschelte sie und legte die Arme um ihn. Ihre Wärme war tröstend und einen Moment lang schloss er die Augen, um sich von ihr tragen zu lassen. Leise seufzend löste er sich von ihr.

    »Du hast recht«, murrte er, müde und widerwillig. »Ich kann seine Vergangenheit nicht ändern oder auslöschen.«

    Sie nickte. Dann lächelte sie ihm aufmunternd zu. »Das bedeutet nicht, dass du seine Gegenwart und seine Zukunft nicht mitbestimmen kannst.«

    »Kann ich das? Er ist nicht hier.«

    »Aber er wird es wieder sein.« Sie lehnte sich ebenfalls ans Fenster, doch ihr Blick lag nicht auf den Gassen und Straßen der Hauptstadt, sondern auf dem Wald, der im Mondlicht fahl glänzend im seichten Wind wogte. Die kahlen Bäume sahen wie ein Totenacker im Dunkeln aus. Für einen Herzschlag schien es, als würde Liaz etwas sagen wollen. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und wandte sich halb um. »Irgendwo unter demselben Himmel ist er.«

    »Ja«, hauchte Yron und erneut beobachtete er den Mond, rieb sich durch die Haare. »Irgendwo. Wir sollten zu Bett gehen. Ansonsten holen wir uns in dieser Kälte den Tod. Außerdem wird, wenn der Hahn kräht, wieder ein neuer Tag anbrechen.« Und damit die ganze Verantwortung, die er nachts abstreifen durfte und die dessen ungeachtet jeden seiner Schritte verfolgte. Wie konnte Dilara nur darauf aus gewesen sein? War es, weil sie darauf vorbereitet worden war? Denn er sah nichts Erstrebenswertes darin und mit jedem neuen Tag wurde sein Herz schwerer. Das war die Bürde, die nun bis zu seinem Tod auf seinen Schultern lasten würde.

    Wie er Liaz` Nicken betrachtete und kurz darauf hörte, wie sie den Gang entlang schlurfte, den sie vorher gekommen war; wie er selbst den Weg in sein Gemach suchte; wie er sich unter die Bettdecke legte und zum Baldachin, den er nicht einmal mochte, hinaufblickte, da wurde ihm bewusst, wie allein er war. Denn dieses Joch war seines und nicht Jeremiahs. Genauso wenig wie sein Bruder sich um Cedric kümmern musste, dessen Herz durch den Tod seiner Schwester ebenso gebrochen war, wie seine Seele einen Knacks bekommen hatte, nachdem die Hexe ihn unter ihre Herrschaft gezwungen hatte. Jeden Tag aufs Neue fürchtete Yron, dass er aufwachen und nicht mehr als eine weitere Leiche vorfinden würde.

    Er fühlte sich, als hätte er niemanden, um sich anzuvertrauen, dabei brauchte er genau das nun mehr denn je. Brauchte ein König nicht Vertraute, damit die Last nicht allein auf ihm lag und sein Gemüt allzu sehr getrübt wurde? Jeremiah hatte sich für das Exil entschieden und es war Yron unbekannt, wann er seinen Freund zurückbegrüßen durfte. Cedric war nicht mehr er selbst und Liaz war eine miserable Zuhörerin, die meinen mochte, dass es eine der vielen Aufgaben eines Menschen war, allein mit seinen Zweifeln zu stehen und sie niederzuschlagen, wie er jeden Feind niederzuringen hatte.

    Jeder Tag, den er sich stärker geben musste, als er sich fühlte, war ein Tag, der ihn Stärke kostete.

    ***

    Seine Gebete an sich waren selbstredend wie immer nicht erhört worden. Jeremiah wachte mit schmerzendem Kopf auf und die Muskeln an seinen Kiefern fühlten sich verkrampft an. Hinter seinen Lidern schienen noch die letzten Bilder eines Traumes zu flackern, den er zum Glück nicht hatte halten können und der, dem zum Trotz, sein Herz zum Rasen brachte. Wie so oft.

    Am Tag war der Berg nicht mehr so unheimlich und das Zelt nur noch trauriger als in der Nacht und das veranlasste ihn dazu, rasch alles zusammenzupacken, sich ein karges Frühstück aus Trockenfleisch in die Hand zu nehmen, und zu essen, während er sich an den Abstieg machte.

    Jeder seiner Schritte abwärts wurde von dem leisen Klirren kleiner Steine begleitet, die sich ihren Weg den Hügel hinab suchten und dabei immer schneller wurden, als sei dies ein Rennen. Ab und an schaute er ihnen dabei zu, denn der Pfad war keine große Herausforderung für ihn. Aber wirklich ablenken konnte nichts seine Gedanken. In ihm war noch immer der Schrecken eines Traumes, an den er sich nicht erinnern konnte. Nach wie vor brachte das ungute Gefühl in seinem Magen das Blut in seinen Adern zum Kochen. Er hätte schreien können und wusste doch nicht, weshalb genau.

    Mit einem Mal kam ihm die Einsamkeit wieder in den Sinn. Nicht nur, dass Fey an seiner Seite fehlte. Es war auch die Einsamkeit, keinen anderen Menschen um sich herum zu haben. Nicht einmal Tiere machte er aus. Gleichsam wurde er von sich selbst gejagt. Jeremiah wusste nicht, ob es besser wäre, wenn er sich an den Traum erinnern könnte oder nicht. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Als wäre etwas in ihm, von dem er nur ahnte, dass es da war.

    Die Sonne stieg ungnädig höher und höher und bald kam er trotz des leichten Weges ins Schwitzen. Wie ein gejagtes Tier, schoss es ihm erneut durch den Kopf. Er bekam dieses Sinnbild nicht mehr von sich los.

    Irgendwann blieb er stehen. Es war kein bewusster Gedanke gewesen, der ihn dazu veranlasst hatte. Mit einem Mal war sein Körper einfach erstarrt. Jeremiah wunderte sich nicht einmal darüber. In seinem Kopf hämmerten die Gedanken. Er musste weiter. Er musste hier weg. Er konnte nicht mehr. Er war inmitten des Nichts und konnte einfach nicht mehr weitergehen. Weil er sich fragte, wozu er es überhaupt machen sollte. Weil er sich fragte, wie auch nur ein Schritt nach vorne noch möglich sein sollte. Weil er keinen Sinn darin sah …

    Um sich selbst zu beruhigen, ließ er sich langsam zu Boden gleiten. Ab und an hatte er solche Momente und er wusste mittlerweile, dass es einfach nur zu viele Stimmen in seinem Kopf waren, die ihn blockierten. Wie sollte die, die die Macht über seinen Körper hatte, auch am lautesten zu verstehen sein, wenn alle anderen durcheinander schrien?

    Er atmete. Eine einfache Tätigkeit, so sollte man meinen. Aber gerade war es nur eine enorme Bürde, die ihm Angst machte. Er versuchte, sich an der Festigkeit der Erde zu orientieren. Sie war da. Unendlich groß und unerschütterlich. Sie bot ihm Halt, immerzu, denn er war kein Vogel, der sich in die Lüfte schwingen konnte. Jeremiah versuchte, sich einfach nur auf das Einatmen zu konzentrieren und das Ausatmen nicht zu vergessen. Gesammelte Luft in seinen Lungen wirkte wie ein Stein, zog ihn tiefer in den Abgrund der Angst.

    Nach einer Weile wurde es besser. Er durfte nur nicht an Fey denken. Oder daran, dass er hier vollkommen allein war.

    Als die Panik abflaute, kam abermalig die Wut und diese ließ sich nicht so leicht bekämpfen. Sie brachte seinen Körper zum Beben, zitterte durch ihn hindurch, rieb an jedem Nerv, den sie berühren konnte. Sein Kopf fühlte sich schwer und heiß an, als das Blut hineinschoss. Erneut war es ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht war es ganz gut, dass er allein war, denn so konnte er niemanden verletzen. Er fühlte sich nicht mehr Herr über sich selbst. Als hätte ein kleines Wort ausgereicht, um einen Waldbrand loszulösen.

    Verzweifelt versuchte er, gleichmäßig zu atmen. Je mehr er es versuchte, umso unregelmäßiger wurden seine Atemzüge. Er verhaspelte sich, verlor den Weg. Mit einem Mal war er auf den Beinen. Seine Füße kannten keine genaue Richtung. Sie wollten sich bewegen, das war alles.

    Sein Rucksack glitt von seinem Rücken, schlug dumpf auf dem Stein auf und blieb friedlich liegen. Jeremiah drehte sich kaum danach um. Er raufte sich die Haare, hätte gerne mit jemandem gerangelt. Ob er Schmerz erfuhr oder austeilte, war ihm egal. Er musste etwas spüren, etwas anderes als das hier.

    Er schrie. Jeremiah hätte es in anderen Augenblicken nicht gewagt; aus Furcht heraus, doch gehört zu werden. Dennoch schrie er. Er versuchte, die ohnmächtige Wut in seinem Bauch hinauszuschreien, und beinahe war es, als würden die Berge antworten. Sein Schrei hallte nach.

    Er achtete nicht einmal auf seine Worte. Es hätte Gebrabbel sein können, genauso gut wie sinnvolle Sätze. Es war gleich. Der Zorn kannte keine Logik, keine Grammatik, keine Worte. Er kannte Bilder und Gefühle. Jeremiah erinnerte sich an Fey. An das Aufblitzen eines blauen Kleides, aber dieses Bild packte er nicht, er warf es rasch über Bord und zwang sich, nicht dabei zuzusehen, wie es unterging. Vielleicht sank es nicht mehr weiter, wenn er ihm erneute Aufmerksamkeit schenkte.

    Die Einsamkeit klebte an ihm.

    Ein paar Vögel stoben auf und suchten ihr Heil in der Flucht. Das Schlagen ihrer Flügel konnte er nicht hören, aber er konnte es sehen. Es war geradezu hypnotisch. Wie wäre es, dort oben zu sein? Einfach fortfliegen zu können? Auch nicht anders, als zu gehen, oder? Er war nicht gezwungen, an einem Ort zu bleiben, aber der eine Ort, der ihm eine solche Qual bereitete, der war dazu gezwungen, bei ihm zu verweilen. Sein Herz. So menschlich, so schwach. Es schrie und wusste doch nicht, was es wollte. Fey. Doch neben Fey konnte es sich nicht entscheiden, ob Gesellschaft oder Einsamkeit. Niemand konnte dieses Herz heilen, außer Jeremiah. Und Jeremiah, der wusste keinen Weg, keine Heilung. Er versuchte, in Bewegung zu bleiben, um sich selbst nicht zu begegnen.

    Als seine Kehle rau und die Sonne bereits weit gewandert war, fand er sich an einen Stein gelehnt wieder. Er erinnerte sich, wie er hierher gekommen war, und dennoch fühlte es sich wie aus einem anderen Leben an. Ein weiterer Traum vielleicht, nur einer, der ihm noch immer vor Augen stand.

    Während er seinen Tränen dabei zusah, wie sie zu Boden tropften, hätte er beinahe mit einem plötzlichen Regenerguss gerechnet. Nichts geschah und so ließ er nur erschöpft seine Schläfe gegen die Kühle des Steins gleiten. Seine Lider sanken herab.

    Kapitel 3

    Auf keiner Karte verzeichnet und noch ein ganzes Stückchen entfernt, tat sich doch recht bald, vom Hügel aus zu sehen, ein Dorf auf. Da er nur einzelne Giebel entdecken konnte, schien es nur aus wenigen Häusern zu bestehen. Zumindest war es ihm unmöglich, auszumachen, ob zwischen den Hügeln noch weitere flache Gebäude versteckt dalagen. Jeremiah zögerte.

    Sein Wutanfall und seine Verzweiflung saßen ihm nicht mehr in den Knochen, wohl aber noch in seinem Nacken. Die Schreie brachten seine Ohren nach wie vor zum Klingeln. Erneut war da dieser Kampf. Wollte er Gesellschaft oder nicht? Es lag ihm fern, eine Aussicht auf einen Erzähler verstreichen zu lassen. Außerdem sollte es ihm möglich sein, jeder Zeit zu gehen. Niemand würde ihn gefangen nehmen.

    Seine Füße ließen sich dennoch nur zögerlich dazu überreden, einen Schritt nach vorne zu machen. Er murrte. Allmählich flammte erneute Wut auf, dieses Mal jedoch nicht auf den Traum oder die Situation. Sie richtete sich gegen ihn selbst. Wer wusste schon, welche Hilfen er dort finden würde? Und die Aussicht auf andere Menschen wirkte gerade auch verlockend. Keine Einsamkeit mehr, zumindest für kurze Zeit. Er konnte jeder Zeit gehen, mahnte er sich. Jeder Zeit wieder zwischen den Hügeln verschwinden. Niemand würde ihm Ketten anlegen, niemand würde ihn zwingen, zu bleiben. Jeder Zeit frei.

    Er seufzte schwer. Dummer Gedanke … Er musste an Fey denken. Sie wäre offen und freundlich auf die Menschen zugegangen. Oder? Er dachte nur Unsinn! Fey hätte sich stets verstecken müssen. Die Hexe war auf der Suche gewesen und ihre Handlanger hatten ihr geholfen. Selbst die Bevölkerung hatte nichts von ihrem wahren Wesen wissen dürfen. Die naive Fey, das unschuldige Wesen vom Anfang, das wäre vielleicht freundlich auf die Fremden zugegangen. Aber später hatte sie gelernt, was für fatale Fehler dabei lauerten. Betrachtete man es so, war die Freiheit, nachdem man sie gefangen genommen hatte, sogar nicht frei gewesen, als sie nicht mehr im Kerker gesessen hatte. Immerzu hatte Fey sich verstecken müssen, hatte große Teile ihrer wenigen Zeit eingesperrt in Häusern verbracht und manchmal anderen beim Leben zugesehen.

    Vielleicht hatten sie deswegen in ihrer einzigen gemeinsamen Nacht, in der sie sich den Hoffnungen hingegeben hatten, so viel über das Reisen und die Länder gesprochen. Sie hatte all das mit ihm sehen wollen. All diese Menschen kennenlernen wollen.

    Das war der Punkt. Jeremiah atmete tief ein und aus, zwang Fey in einen anderen Teil seines Bewusstseins und richtete das Augenmerk absichtlich auf etwas anderes, an dem er sich festhalten konnte.

    Die Natur erstaunte ihn. Sie wirkte beinahe wie oben im Norden. Ohne Schnee und noch mit voller Farbenpracht, aber bis auf die merkwürdigen, von Ranken umschlossenen Bäume war es ihm kaum möglich, einen großen Unterschied wahrzunehmen.

    Das Dorf wirkte wie jedes andere auch. Dichtgedrängte Häuser, geschäftige Menschen und neugierige Blicke, die sich auf den Fremden hefteten. Jeremiah hatte das Gefühl, so tief in den Bergen und Hügeln der Südlande versunken zu sein, dass diese Menschen vermutlich nicht einmal von der Hexe gehört hatten und nun einfach verwundert über Feys Wiederkommen waren. Eine der Herausforderungen, um dieses Land beherrschen zu können, war die schiere Länge. Norden und Süden schienen unterschiedliche Länder zu sein, mit unterschiedlichen Kulturen und Ansichten. Sprachen sie überhaupt seine Sprache? Akzente waren ihm bereits untergekommen, manchmal schwer zu verstehen, doch irgendwie hatte man sich immer verständigen können. Jetzt jedoch war er sich nicht mehr so sicher. Dieses Dorf war so versteckt und klein, dass es dem Kartografen als zu nichtig erschienen war. Und so fühlte es sich auch für Jeremiah an, während er den Leuten fest ins Gesicht blickte und versuchte, herauszufinden, ob es einen Dorfplatz gab oder er einfach den erstbesten Bewohner ansprechen sollte.

    Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als ein alter Mann auf ihn zutrat. Obwohl seine Haare und sein Bart weiß waren und das gebräunte Gesicht von Falten geziert war, stand der Mann aufrecht und selbstbewusst vor ihm und der Stock, auf den er sich leicht stützte, schien eher eine Waffe denn eine Gehhilfe zu sein. »Nas?«

    »Was?«

    Der Mann nickte sich selbst zu, ganz als hätte er ein Rätsel gelöst. Dann räusperte er sich vernehmlich. »Ein Nordling?« Die Stimme war kratzig, als würde sie an den fremden Worten schaben. Der Blick aus dunklen Augen hatte etwas Vorsichtiges, Zaghaftes angenommen. »Warum bist du hier?«

    Jeremiah hatte in den südlichen Ländern viel Gastfreundschaft erfahren. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, nachdem er losgewandert war, denn mit den südlichen Regionen von Yrons Königreich hatte er sich nie sonderlich auseinandergesetzt. Aber er war positiv überrascht worden. So wie jetzt, denn obwohl der Südling zurückhaltend und misstrauisch wirkte, schien er in keiner Weise aggressiv. »Ich wandere«, murmelte Jeremiah und wiederholte es laut, als er fragend angesehen wurde. Vielleicht verstanden sie ihn leise nicht so gut? »Ich wandere seit Monaten durch das Königreich auf der Suche nach Geschichtenerzählern.« Als würde es etwas helfen, fuhr er sich über einen langen Bart, den er gar nicht besaß. Anscheinend wirkte die Geste verwirrend. So manch einer warf seinem Nachbarn einen Blick zu. »Menschen, die Geschichten erzählen?«

    »Wir kennen die Geschichtenerzähler«, meinte der Alte halblaut und betrachtete Jeremiahs Hand. »Wir verstehen, was

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1