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über leben: Roman
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eBook382 Seiten3 Stunden

über leben: Roman

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Über dieses E-Book

Res Buhme fasst sich ein Herz. An einem trüben Vorabend zieht er aus, um bei einem säumigen Zahler eine längst fällige Schuld einzutreiben. Der Hochnebel drückt seit Wochen aufs Land. Genauso drückend ist die Situation von Res und seiner Familie. Sie scheinen vom Unglück verfolgt. Es fehlt am Lebensnotwendigsten, um den Winter zu überstehen. Und es fehlt an der nötigen Solidarität unter den Leuten und an kleinen Zeichen des guten Willens, die helfen würden, die Not der Familie zu lindern. Dem Roman vorangestellt ist: »Menschen sind schon früher weggezogen, ins Nachbardorf, in die nächste Stadt, in ein fremdes Land, wenn sie zu wenig zu essen hatten oder um ihr Leben bangten.« Die Hoffnung der Familie, dass in der Stadt ein Neuanfang gelingen könnte, ist groß. Behörden, Kirche und viele Alteingesessene geben den Zugezogenen allerdings wenig Unterstützung und das Misstrauen scheint oft unüberwindbar. Die Familie erfährt aber Solidarität von Menschen, die ihnen unvoreingenommen begegnen und ihre Not wahrnehmen. Dank der Beharrlichkeit von Res und seiner Frau Trudi auf der Suche nach Auswegen und nach etwas Nahrhaftem in der täglichen Suppe und dank der Sympathien, die der gewiefte Sohn Godi im Städtchen genießt, blitzt da und dort ein Hoffnungsschimmer auf. über leben ist ein feinsinniger Roman über das Leben unterschiedlicher Menschen, über Lebensumstände und Versuche, damit zurechtzukommen und darin zu überleben. Im vielschichtigen Bild einer ländlichen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt Corinne Ammann von Sehnsüchten, Bedürfnissen, Ängsten und Hoffnungen, die gar nicht so weit entfernt sind von denen heutiger Menschen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Mai 2024
ISBN9783906907949
über leben: Roman

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    Buchvorschau

    über leben - Corinne Ammann

    1 AM FENSTER

    Das Fenster liess sich öffnen! Trudi zog zuerst den einen, dann den anderen Fensterflügel auf. Wunderbar frische Luft strömte ihr entgegen. Es war ein strahlender Morgen, wolkenlos der Himmel. Sie nahm einen tiefen Atemzug und genoss die Sonne, die ihr direkt ins Gesicht schien. Seit zwei Wochen wohnten sie nun in der Gesindewohnung über der Werkstatt des Küfers. Schäbig, muffig und dunkel waren ihre zwei Stuben. Das Fenster war klein, noch kleiner die einzelnen Scheiben. Aber das war ihr egal. Ihr Küchenfenster hatte Morgensonne!

    Sie liess den Blick über die Apfelbäume auf der Wiese hinter dem Haus gleiten. Noch waren sie kahl, das Gras darunter kurz und winterig dunkelgrün. Dahinter sah sie die Gärten und verwinkelte Rückseiten der Häuser der nächsten Strasse. Sie wirkten wackelig und alt, wie die offene Treppe und die Laube, die zu ihrer Wohnung im ersten Stock führten. Wer dort wohnte, wusste Trudi nicht. Aber vielleicht kamen die Leute mit dem wärmeren Wetter vermehrt aus ihren Häusern. Vielleicht würde jetzt alles anders. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ob in der Stadt so der Frühling roch?

    Der Winter steckte der Familie tief in den Knochen. Er hatte sie fast ums Leben und um den Verstand gebracht. Drei endlose Monate lang war das Armenhaus am Stadtrand ihr Dach über dem Kopf gewesen. Sie hatten gefroren und gehungert. Verzweifelt war Trudi morgens aufgewacht, verzweifelt war sie wieder eingeschlafen und nachts hatte sie der Husten wach gehalten, hatte sie durchgeschüttelt. Ein grauer Tag war dem nächsten gefolgt, ein Tag dumpfer als der andere.

    Damit war es jetzt vorbei. Am liebsten hätte sie das Fenster sperrangelweit offengelassen, aber es war unvernünftig, denn die Luft war trotz der Sonne kalt. Die Nacht war klar gewesen. Sämi lag immer noch bleich im Bett in der Schlafstube nebenan, und sie hatte kein einziges Scheit, um im Ofen Feuer zu machen.

    Aber bald würden Godi und Urseli Holz bringen. Sie hatte ihnen eingeschärft, dass es mindestens reichen müsse, um die Kartoffeln weich zu kochen. Dabei wäre sie am liebsten mitgegangen, denn nach dem starken Wind vom Vorabend musste im Wald viel Kleinholz liegen. Sie stellte sich vor, wie gut es sich anfühlen würde, Äste zusammenzutragen und möglichst dicht auf den Leiterwagen zu stapeln.

    Zu Hause geblieben war sie wegen Sämi. Er hatte in der Früh so stark gehustet, dass sie ihn nicht allein lassen wollte. Lange war sie bei ihm am Bett gesessen, obwohl sie nicht mehr als tröstende Worte für ihn hatte. Wie gern hätte sie ihm einen süssen Tee oder einen Löffel Holundersaft gegeben. Seit er wieder eingeschlafen war, stand sie untätig in der Küche. Wo nur die Kinder blieben?

    Wenn wenigstens der Küfer unten in der Werkstatt anfeuern würde, dachte sie, dann wäre es auch bei ihnen etwas wärmer. Aber im unteren Stock blieb es still und allmählich verlor sie die Hoffnung. Wenn er bis um diese Zeit nicht auftauchte, kam er meist gar nicht mehr. So rechtschaffen wie das Haus auf den ersten Blick aussah, war es beileibe nicht. Und hinten, wo sie wohnten, noch weniger. Trotzdem war es ihr ganz recht, hinter dem Haus zu wohnen. Hier liess sich die Angst, dass der schreckliche Mordverdacht gegen Res sie einholen könnte, leichter im Zaum halten.

    2 ÜBER DEN MARKTPLATZ

    Langsam bahnte sich Res mit Lüthis Fuhrwerk einen Weg zwischen den Ständen des Wochenmarkts. Das Ross führte er ruhig neben sich. Es war kurz vor halb zwölf und die ersten Marktfahrer waren schon am Zusammenpacken. Trotzdem war noch viel Volk auf dem Platz, die Stimmung war aufgeräumt und fast fröhlich. Dort, wo die Sonne über die Dächer der hohen Häuser bis hinunter auf den Platz schien, standen ein paar Leute und redeten. Andere eilten zwischen den Ständen, um letzte Besorgungen zu machen.

    Res hielt den Blick gesenkt. Kennen tat er ja sowieso keinen, niemand würde ihn grüssen und schliesslich bestand am Markttag auch immer die Gefahr, dass jemand vom Dorf auftauchte oder der Landjäger mit suchendem Auge durch die Menge ging. Die Angst vor Studer hockte Res dauernd im Nacken, lastete schwer wie der Hochnebel im November, obwohl heute der Frühling in der Luft lag.

    Eigentlich war es eine abgemachte Sache, dass er am Markttag der schwangeren Frau Lüthi vom Nachbarshof beim Auf- und Abladen half. Schon seit vier Wochen, weil sie immer wieder wilde Wehen hatte und sich schonen sollte. Sie war freundlich und grosszügig. Man merkte, dass sie gern auf den Markt ging und anpackte. Zuversichtlich trug sie auch den grösser werdenden Bauch. Es war ihre erste Schwangerschaft.

    Als Res heute in der Früh zum Aufladen gekommen war, hatte er stattdessen ihren Mann getroffen. Die Frau müsse liegen, hatte er schlecht gelaunt gesagt und ihn kritisch gemustert. Er habe gewiss Gescheiteres zu tun, als Gemüse zu verkaufen. Nur der Frau zuliebe sei er hier und weil noch so viel Ware im Keller eingelagert sei.

    Einen Augenblick lang hatte Res befürchtet, dass ihn der kräftige junge Mann wegschicken würde, aber seine Frau hatte ihm offensichtlich erklärt, wie viel einfacher es zu zweit ging, und der Knecht war nirgends zu sehen.

    Geredet hatten sie nur das Nötigste. Möglichst unauffällig war Res Lüthi zur Hand gegangen und hatte danach Wagen und Pferd zurück zum Hof gebracht.

    Frau Lüthi war froh gewesen um die Hilfe von Res. Das hatte sie auch immer wieder gesagt und ihm am Mittag jeweils die schrumpligsten Rüebli und Kartoffeln, ein paar Äpfel und einen Batzen in die Hand gedrückt. Zu gern hätte Res gewusst, ob ihn ihr Mann auch so grosszügig entlohnen würde. Denn der Verdienst am Markt war wie ein Geschenk, viel leichter erarbeitet als ein Taglöhnerverdienst. Und die Buhmes brauchten diesen Zustupf, auch wenn der Lüthi Hannes vielleicht keine Hilfe brauchte.

    Immerhin hatte Lüthi nicht widersprochen, als Res gesagt hatte, er bringe um halb zwölf den Wagen wieder. Er war froh drum. Denn jetzt im Frühling knurrte manchen der Magen und er war sicher nicht der Einzige am Marktplatz, der auf verbilligte Ware oder eine milde Gabe hoffte. Nie waren Marktfahrer, die gute Geschäfte gemacht hatten, so grosszügig wie mittags, wenn sie möglichst schnell nach Hause wollten. Res hoffte, dass Lüthi da keine Ausnahme darstellte.

    3 WARTEN AUF RES

    Langsam verschwand die Sonne hinter der Hausecke. In der Küche wurde es merklich dunkler und es tschuderete Trudi. Sie legte die Hand auf den kalten Ofen. Er war noch kälter, als sie erwartet hatte. Ihre einzige Pfanne stand leer auf dem Tisch. Daneben die zwei wackligen Schemelbänke, die Res ein Graus waren, sie wusste es. Aber er hatte kein Werkzeug mehr, um sie zu richten.

    Bald würde er nach Hause kommen und hoffentlich etwas fürs Zmittag bringen. Seit einem Monat war der Dienstag der beste Tag der Woche. Im Vorbeigehen hatte Trudi damals bemerkt, dass der schwangeren Bäuerin das Laden des Marktwagens schwerfiel. Da hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und gefragt, ob sie Hilfe brauche. Ohne lang zu überlegen, hatte diese zugesagt, und Trudi hatte Hoffnung geschöpft. Endlich hatte Res einen regelmässigen Verdienst. Sie waren so froh drum, auch wenn er klein war. Denn zu verkaufen hatten sie jetzt wirklich nichts mehr ausser dem Leiterwagen.

    Als Taglöhner wurde Res nur selten angestellt. Manchmal, zwischendurch, dachte der Almosner oder jemand vom Armenverein an ihn. Aber es gab nie viel Arbeit und noch weniger, seit sie aus dem Armenhaus ausgezogen waren. Es dünkte sie, es müsste mehr sein. Wenn sie nur wüsste, wo finden und wen fragen. Wenn es Res nur besser ginge. Bleich und kraftlos wirkte er, und es war nicht nur der Husten, das war ihr klar, obwohl er ihm die Schuld für seine Schwäche und Schlaflosigkeit gab. Immer wieder betete sie darum, dass er gesunden möge, und versuchte ihm so viel wie möglich abzunehmen. Aber manchmal hätte sie ihn auch am liebsten geschüttelt. Es ist Frühling! Schau doch!

    Jetzt wartete sie unruhig auf seine Rückkehr. Ob der Bauer so grosszügig wie seine Frau sein würde? Auch hatte ihr Res nicht gefallen wollen. Den ganzen Morgen lang war er matt am Tisch gesessen, erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag. Dabei hatte er doch einfach einen Marktstand aufgestellt.

    Wenn Godi nur ein oder zwei Jahre älter wäre, dachte sie oft, er würde die Arbeit für Frau Lüthi mit Leichtigkeit machen. Denn er war geschickt, und oft brachte er schon jetzt etwas zu essen für die Familie oder hatte einen vollen Bauch, weil er irgendwo geholfen hatte.

    4 FREMDE GÄRTEN

    Trudi beschloss, vorne auf der Strasse Ausschau nach Res und den Kindern zu halten. Dann konnte sie helfen, Gemüse und Äste hinaufzutragen. Mit einem kurzen Blick in die Schlafstube vergewisserte sie sich, dass Sämi immer noch schlief und zog die Tür leise wieder zu. Sie würde ja nicht lange weg sein.

    Neidisch schaute sie von der Laube auf den pützerleten Garten des grossen Bauernhauses nebenan. Alles war gleichmässig zurückgeschnitten und die Beete sorgfältig abgeräumt. Sie dachte an Frau Lüthi, die jetzt liegen musste. Ob die Magd am Nachmittag mit der Arbeit anfangen würde? Denn es war endlich Gartenwetter. Erbsen, Kefen und Rüebli, man konnte sie fast nicht zu früh sähen, und dann das Beet mit Laub locker abdecken. Zwiebeln würde sie beidseitig der Rüeblizeilen stecken. Sie sah ihren Pflanzblätz von früher vor dem inneren Auge, wusste genau, wo was wachsen sollte. Der Jahreslauf und die Fruchtfolgen in ihrem Kopf. Wie hätte sie auch ahnen können, dass sie nicht mehr dort sein würden?

    Die Kirchenglocke schlug Viertel vor zwölf. Erschrocken schob sie die Erinnerungen beiseite und ging die Treppe hinunter. Grübeln brachte nichts. Sie konnte nichts tun. Sie konnte nur hoffen, dass sie durch eine unerwartete Fügung zu einem Stück Land kam. Denn ohne Gemüsegarten war kein Auskommen. Alle hatten einen Gemüsegarten. Das war in der Stadt sicher nicht anders.

    Hinter dem Haus ging sie schnell an den Obstbäumen vorbei und dann um die Hausecke, wo sonnseitig der verwilderte Garten des Küfers lag. Dort blieb ihr Blick wie immer hängen. Das Unkraut vom letzten Jahr stand braun und kniehoch im umzäunten Viereck. Grün wuchs schon das neue hinterher. Noch im letzten Sommer hatte offensichtlich jemand den Garten bestellt, denn die Blüten der Pfingstrose waren abgeschnitten. Aber die Herbstarbeiten hatte niemand mehr ausgeführt, da war sie sich sicher. Verloren standen halb verrottete Stängel von aufgeschossenen Kohlpflanzen in einem Beet.

    Heute juckte es sie noch mehr als sonst, das Gartentor aufzumachen und anzupacken.

    Es gsuch de wider nach öppis us, hatte sie zum Küfer gesagt.

    Vergässit’s, hatte er gemuffelt, ohne sie dabei anzusehen.

    Sie nahm sich fest vor, ihn bei der nächsten Gelegenheit wieder darauf anzusprechen, auch wenn er noch nie ein freundliches Wort für sie übrig gehabt hatte. Zu gern hätte sie gewusst, was ihn dazu bewogen hatte, ihnen die Wohnung zu vermieten und was es mit dem Garten auf sich hatte. Vielleicht könnte sie dann einen Weg finden, ihn zu überzeugen.

    Schon in einigen Wochen könnte sie ihre Familie mit eigenem Gemüse versorgen. Wenn sie sich nur so lange irgendwie über Wasser halten konnten. Erleichtert dachte sie an die Kartoffeln, die Res gleich nach Hause bringen würde.

    Vorne an der Strasse warf sie einen Blick in beide Richtungen. Es war noch zu früh. Ihre Kinder kamen nicht dahergelaufen, Res war noch auf dem Markt und auch beim Bauernhaus nebenan war niemand zu sehen, nur der frisch gewischte Platz, die Schitterbigi vor dem Haus und die dunklen Fenster in der schönen Fachwerkfassade.

    Unmerklich schüttelte sie den Kopf, richtete sich auf und blieb doch stehen. Es war immer noch so fremd, dieses neue Leben. Aber was blieb ihnen übrig? Zurück ins Dorf zu gehen, war nicht möglich. Keiner hatte versucht, die Werkstatt zu retten. Keiner hatte zum Löscheimer gegriffen, als das Feuer aufs Haus übergriff. Ob sie sich je ans Hiersein gewöhnen würde?

    5 RICHTIG FRAGEN

    Grüessech, Herr Lüthi, sagte Res freundlich, als er das Pferd vor dem Stand zum Stehen brachte. Eine Hand liess er auf dem warmen Hals des Tieres, als ob es ihm etwas von seiner Ruhe abgeben könnte.

    Lüthi tat, als hätte er ihn nicht gesehen, während er von einer Kundin einkassierte.

    Fieberhaft überlegte Res, was er jetzt sagen sollte oder ob es besser wäre, einfach zu warten. Trudi rechnete mit dem Gemüse und dem Batzen. Sie hatten kein Brösmeli Vorrat zu Hause, nüt und no mou nüt. Er musste einen Weg finden, um dem Bauer noch einmal zu helfen und seinen Verdienst zu bekommen. Was hätte er um eine klare Abmachung gegeben, wie viel er verdiente.

    Noch immer war Lüthi mit der Kundin beschäftigt. Sie schienen etwas zu bereden. Als die Frau sich dann endlich verabschiedete, machte sich der Bauer daran, etwas hinter dem Stand zu kramen. Er hatte gut verkauft, das konnte Res sehen, aber was er selber tun sollte, wusste er immer noch nicht.

    Den Rest mache ich selber, sagte Lüthi dann, ohne Res recht

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