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Die goldene Stunde
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eBook235 Seiten3 Stunden

Die goldene Stunde

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Über dieses E-Book

Mari, Ahmad und Tarik wissen nicht weiter. Alle drei sind auf der Suche nach Trost und Errettung und finden sie nicht.

Ahmad ist vor dem Krieg in seiner Heimat geflohen, stieß in den Niederlanden jedoch auf neue Hindernisse. Mari wollte ihn beschützen und lieben, aber es gelang ihr nicht. Und der ehemalige Soldat Tarik hat sich in ein abgelegenes Grenzgebiet zurückgezogen, doch sein Gewissen nagt an ihm. Dort trifft er nun auf Mari, die mittlerweile ihr Zuhause hinter sich gelassen hat, nachdem ihr idealistisches Projekt katastrophal gescheitert ist.

Die drei Leben sind auf fatale Weise miteinander verflochten, die Geschichte droht sich zu wiederholen – und dennoch gibt es Hoffnung. Wytske Versteeg verfügt über eine besondere Menschenkenntnis, große Empathie und Scharfsinn. So schafft sie es, in äußerst prägnanten Bildern und Dialogen die Konflikte unserer Zeit in einen reichen, vieldeutigen Roman zu verwandeln. Ein lange nachhallendes Leseerlebnis.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2024
ISBN9783803143884
Die goldene Stunde

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    Buchvorschau

    Die goldene Stunde - Wytske Versteeg

    Wytske Versteegs eindringlicher und poetischer Roman umkreist die Herausforderung, das Richtige zu tun, auch wenn es allen Erwartungen widerspricht. Wie viel Mut braucht man, um Mensch zu sein? Und wenn man nichts mehr tun kann – was tun?

    Wytske Versteeg

    Die goldene Stunde

    Roman

    Aus dem Niederländischen

    von Christiane Burkhardt

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«

    Friedrich Hölderlin

    Mari

    Das hier ist das Gegenteil von Zuhause. Das Land hier ist in sich gekehrt, der Boden hart und ausgezehrt. Namenlose Straßen, unnummerierte Häuser. Aus dem Lautsprecher der Moschee hallt fünfmal am Tag der Gebetsruf durch ganz Sarakina. Das Licht ist nachmittags so intensiv, wie du es kanntest, die Luft so trocken, wie du sie vermutlich gewohnt warst. Die Nacht ist schwärzer, die Dunkelheit dunkler, die Weite über mir überwältigend. Tagsüber suchen Tarik und ich nach Spuren von Menschen, die längst nicht mehr existieren, nach einer früheren Version der Erde, nach einem Moment, an dem noch alles möglich war, begierig verliere ich mich in einem Meer aus Zeit. Nicht weit von hier gibt es einen Tagebau, erst gestern sind wir daran vorbeigefahren. Einer der Berge wird von Baggern systematisch ausgehöhlt, sodass seine Flanke nicht mehr steil in bizarren Linien abfällt, sondern sich nach und nach in einen altmodischen Tetris-Turm verwandelt. Fein säuberliche Schneisen wurden in das Gestein gefräst; eine aufgeräumte Leere bedroht den Berg, eines Tages wird nichts mehr von ihm übrig sein. Schon bald wird niemand mehr erahnen, dass hier Jahrmillionen dieser Berg stand, und innerhalb weniger Jahrzehnte wird selbst die Erinnerung an die Erinnerung verschwunden sein.

    Ich hätte eigentlich gedacht, dass uns mehr Tage, Wochen, Monate bleiben würden – vielleicht sogar Jahre. Der Abend, bevor du gegangen bist, hat sich angefühlt, wie alle anderen auch, erst im Nachhinein wurde er zu dem Abend, bevor ich alles verlor. Deshalb überraschte es mich, dass du sanft meine Hand drücktest, als wäre ich ein kleines Kind oder eine uralte Frau oder hätte etwas Schlimmes erlebt. Ich versuchte deinen Gesichtsausdruck zu entziffern, aber du sahst an mir vorbei durchs Fenster, hinaus in die Dunkelheit. Noch einmal hast du meine Hand gedrückt, und ich musste lachen über diese altmodische, aufmunternde Geste – leicht verlegen, weil sie mich zu jemandem machte, der nicht für sich selbst sorgen kann, der Trost braucht.

    »Was ist denn?«, fragte ich.

    Du hast gelächelt. Wenn du lächelst, zeigst du nichts von dir, im Gegenteil. Du lächelst wie ein Schulkind, das seine Lösungen verdeckt, damit der Banknachbar nicht abschreiben kann. Du hast gelächelt, als müsstest du an einen Witz denken, den ich nicht verstehen würde.

    »Was ist denn?«, wiederholte ich.

    »Was ist, was ist?« Du ließest meine Hand los, standst auf und gingst zum Fenster, pflücktest ein Blatt von der kümmerlichen Basilikumpflanze auf der Fensterbank und kautest nachdenklich darauf herum. Jetzt sah ich nur noch deinen Rücken, die schmalen Schultern unter deinem Lieblings- T-Shirt, Weiß auf Schwarz der Text: FOR THE LOVE OF BASS. (Du hattest die Angewohnheit, dich ans Fenster zu stellen, wenn es draußen zwar noch kalt war, aber die Sonne bereits schien: die Arme um den Oberkörper geschlungen, zur Scheibe gebeugt, vor lauter Sehnsucht nach ein bisschen Wärme.)

    Von Anfang an haben alle nur gedacht, dass du was von mir willst, dass du mich bloß benutzt, um zu bekommen, was nur ich dir geben kann: das Bleiberecht oder einfach Geld. Aber da täuschen sie sich. Du hattest etwas, wonach ich mich gesehnt habe – etwas, was ich nicht in Worte hätte fassen können. Kein Wunder, dass du mich verlassen hast, ohne dich auch nur ein einziges Mal umzuschauen, während ich bei meiner halbherzigen Suche nach dir Hunderte von Kilometern zurückgelegt habe.

    Bei meiner Suche nach dir oder dem Zerrbild, mit dem ich dich verwechselt habe.

    Dabei ist das hier nicht mal deine Heimat, dort ist es nach wie vor zu gefährlich. Wenn du wüsstest, dass ich gerade hier bin, in dieser Grenzregion, in diesem Kaff, das Daresh so gar nicht ähnelt – du würdest mich auslachen. Aber wenn ich mich richtig erinnere, hast du Verwandte in den Bergen, vielleicht hast du sie ja regelmäßig dort besucht, hast nachts auf dem Hausdach geschlafen wie viele junge Männer hier und Maulbeeren gepflückt – was weiß ich schon von dir? Wenn du mal was erzählt hast, dann immer nur anfallsartig: stockend, hervorgesprudelte Sätze mit langen Pausen dazwischen. Dein Körper hat sein Gedächtnis ausgetrieben, es regelrecht ausgespuckt. Du hast nur Fragmente von früher in der Hand gehalten, Scherben eines zerbrochenen Spiegels: das ausgelassene Gelächter deiner kleinen Nichte; die Mosaiksteinchen im Innenhof, ganz rau an deinen Füßen; der Schaukelstuhl, in dem deine Mutter gerne saß. So gesehen, dürfte dieser Ort, dieser kahle Felsen, genauso gut geeignet sein wie jeder andere, um dich kennenzulernen.

    Am liebsten wäre ich in eines von diesen alten Natursteinhäusern gezogen, die halb in den Berg gebaut sind und aussehen, als hätte jemand die Steine sorgfältig zusammengepuzzelt. Aber weil ich eine Fremde bin, die mit den richtigen Papieren aus der richtigen Weltgegend kommt, haben sie mir das Beste gegeben, was sie haben: einen Betonklotz mit vergitterten Fenstern, einen Tisch mit Plastiktischdecke und darüber eine Neonröhre, die ständig brennt, weil die Fenster so klein sind, um die Sonne fernzuhalten.

    Bei früheren Ausgrabungen wich die Langeweile irgendwann immer einer Konzentration, die fast an Gleichgültigkeit grenzte. Das abgeteilte Stück Boden, über das ich vorsichtig mit meiner kleinen Schaufel strich, wurde zu einer eigenen Welt: Ob ich noch etwas finden würde, war mir längst gleichgültig. Diese Gleichgültigkeit löste sich sofort in Luft auf, wenn doch etwas zum Vorschein kam, war aber unverzichtbar, um die Stunden, Tage, Wochen zu ertragen, in denen nichts geschah. Das Einzige, was zählte, waren die Sandkörner, ein Grau, das sich kaum merklich vom übrigen Grau unterschied. Wenn ich wieder aufschaute, waren Stunden vergangen. So eine Trägheit erlebe ich auch jetzt. Mit Tarik drehe ich meine Runden, ohne jede Hoffnung, auf den von mir genauestens untersuchten Felsen doch noch etwas Interessantes zu entdecken.

    Hier weiß ich nichts und kenne niemanden, nur die Namen der hiesigen Pflanzen habe ich nachgeschaut. Anfangs habe ich Tarik danach gefragt, doch der hat bloß mit den Schultern gezuckt und irgendwas Unverständliches gemurmelt. Das interessiert ihn kein bisschen. Jetzt sage ich ihre Namen im Stillen auf. Die zartrosa Blüten der Tamariske. Polei-Minze, die hier an Bächen mannshoch gedeiht und intensiv duftet. Mönchspfeffer mit seinen filzig behaarten Fingerblättchen, auch Keuschbaum genannt, um dessen violette Blüten Schmetterlinge flattern. Stacheliger Christusdorn, Gamander, Knorpelmöhre. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt die richtigen Namen sind, aber es gibt mir Halt, wenigstens ein paar Arten benennen, etwas begrüßen zu können, dem ich begegne.

    Neulich hat Tarik eine alte Volksweise gesummt, und als ich wissen wollte, worum es da geht, hat er den Text für mich übersetzt. The houses have moved to the oasis. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber er blieb dabei: Die Häuser sind zur Oase gezogen. Seitdem sehe ich die Häuser am Tag ihres Aufbruchs vor mir, wie sie einfach so die Mauern lichten, sich kurz schütteln wie träge, aus dem Tiefschlaf erwachte Tiere. Wie sie sich nacheinander auf den Weg machen, Leere hinterlassen, wo sie einst gestanden haben – Spuren eines Lebens, das von nun an Geschichte ist. Auf einmal fiel mir wieder ein, wie ich als Kind auf einer Brache in unserem Viertel gespielt habe, die Halme hart und scharfkantig an meinen Beinen. Rücklings ließ ich mich ins hohe Gras fallen und bewegte die Arme hin und her. Dort, wo mein Körper alles plattgedrückt hatte, waren neue Räume entstanden. Räume, in denen ich ein neues, abenteuerliches Leben führen und jemand ganz anderes sein würde.

    Schon bald nach meiner Ankunft merkte ich, wie absurd mein Vorhaben war. Der Bezirksleiter, der mich an der Bushaltestelle abholte und nach Sarakina fuhr, wies unaufhörlich darauf hin, welche Bedeutung dieses Projekt habe, welche Chancen es biete und was für eine Ehre es sei, dass eine so herausragende Wissenschaftlerin wie ich daran mitwirke. »Aber Sie sind jetzt bestimmt müde, ich lasse Sie dann mal allein«, wiederholte er immer wieder, um mir sogleich einen neuen Vortrag zu halten. Es grenzte an ein Wunder, dass er irgendwann tatsächlich in sein Auto stieg und davonfuhr.

    Lange blieb ich noch draußen vor dem Haus stehen, das in nächster Zeit mein Zuhause sein würde. Vor meiner Abreise hatte ich der Universität gemailt, die Sarakina am nächsten lag, Hunderte Kilometer davon entfernt. Ich bekam eine höfliche, äußerst umständliche Antwort, die mir wortreich zu verstehen gab, dass die Prähistorie die Herren Professoren wenig interessierte. Die Felsmalereien sind vor ungefähr viertausend Jahren entstanden, in der Bergregion, die eine Grenze zwischen zwei Ländern bildet. In dieser Gegend wimmelt es nur so von Überresten alter Kulturen, aber ob Hethiter, Thraker, Byzantiner und vor gar nicht allzu langer Zeit das Osmanische Reich: Hier interessiert sich mehr oder weniger keiner für Felsmalerei. Es gibt andere, dringendere Dinge, und das Geld reicht schon hinten und vorne nicht, um die Kunstwerke zu restaurieren, die uns viel näher und historisch deutlich wertvoller sind. Wen interessiert da schon, was vor Jahrtausenden auf ein paar Steine gekritzelt wurde? Auch die Leute von Tourism for Life hatten keinerlei Erwartungen: Sie waren schon zufrieden, wenn ich mit ein paar Anekdoten und vielleicht noch mit einigen Fotos und Markierungen auf der Landkarte zurückkehrte. Mehr als ein paar Touristeninformationen waren ihrer Meinung nach nicht nötig. Ich hingegen war deutlich ehrgeiziger. Weil man mit Archäologie kein Geld verdienen kann, hatte ich mich vor einiger Zeit zur Sozialarbeiterin umschulen lassen. Meine Sommerferien verbrachte ich zwar nach wie vor gern mit Ausgrabungen, aber mein Arbeitsalltag bestand schon seit Jahren darin, Maßnahmen zu empfehlen und mich auf der sozialen Landkarte zurechtzufinden. Was nicht weiter schlimm war, wie ich mir einredete, die großen Archäologen der Vergangenheit waren schließlich auch bloß Amateure gewesen. Die Höhle von Lascaux wurde nur entdeckt, weil ein Hund in eine Felsspalte gefallen war. Wer weiß, worauf ich noch stoßen würde! Ich suchte nach einem neuen Betätigungsfeld, nach etwas, worin ich aufgehen konnte. Jetzt, wo ich auch als Sozialarbeiterin gescheitert war, gewann mein ursprünglicher Beruf wieder an Attraktivität. Erst im Rückblick erkenne ich, wie irrational meine Hoffnungen waren, die ich damals für selbstverständlich hielt.

    Die ersten Tage nach meiner Ankunft waren verschwommen, unstrukturiert. Ich hatte gehofft, auf das lokale Gedächtnis zurückgreifen zu können, auf Wissen, das die Älteren noch hatten; auf Routen, die sie als Kinder zurückgelegt, auf Zeichnungen, die sie vielleicht gesehen hatten, ohne sie als das zu erkennen, was sie waren. Aber ich konnte mich nur mit Händen und Füßen verständigen, und die Hitze setzte mir zu. Ich schlief viel, weil ich mich nicht wachhalten konnte, schlief, um Teil des Landes zu werden. Die Hitze machte es nahezu überflüssig, etwas zu essen. Meist halbierte ich gegen Abend ein paar Tomaten, deren Saft auf den staubigen Boden tropfte. Sofort fanden sich Ameisen bei den feuchten Flecken ein, marschierten schnurgerade herbei. Wenn ich mich hinauswagte, dann nur, um in den kleinen Supermarkt zu gehen. Zu mehr war ich nicht in der Lage, und ich hatte das ungute Gefühl, es auch in Zukunft nicht zu schaffen. Im Vorbeigehen berührte ich verdorrte Grashalme, die Samenfussel verblühter Disteln, die erstaunlich zart sind für so eine dornige Pflanze, viel weicher als die schmutzigen Büschel Schafwolle, die hier und da hängen geblieben waren. In dem winzigen Supermarkt bewachte ein schnurrbärtiger Mann ein seltsames Sortiment aus Toilettenpapier, Werkzeug und Lebensmitteln. Auf seinem Taschenrechner zeigte er mir, wie viel ich zahlen musste, was jedes Mal erstaunlich wenig war, während mich seine beiden Töchter aus sicherer Entfernung kichernd anstarrten. Näheren Kontakt zu Dorfbewohnern bekam ich nicht, auch wenn ich grinste wie eine Geisteskranke, sobald ich durchs Dorf lief. Manchmal unternahm ich den Versuch zu winken, ließ meine Hand aber schnell wieder sinken, ehe es jemand gesehen hatte. Ein paar Frauen erwiderten mein Lächeln, während die meisten Männer den Kopf abwandten oder wenn überhaupt, halbherzig grinsten. All die Zeichen, deren Bedeutung ich nicht kannte, all die Menschen, von denen ich abhängig war. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, deine Ratlosigkeit ansatzweise verstehen zu können.

    Am Abend des fünften Tages klopfte es. Ein großer unrasierter Mann in Badelatschen stand vor der Tür. Zuhause hätte ich ihn für einen Obdachlosen gehalten, doch hier fiel seine Kleidung nicht weiter auf. Sein Alter war schwer zu schätzen: Ende fünfzig, vielleicht auch älter.

    »Hi«, sagte er. »Welcome to Sarakina

    Aus seinen Händen formte er ein Gefäß, streckte es mir entgegen. Ich dachte, er würde etwas Lebendiges, etwas Zerbrechliches halten, einen Vogel vielleicht, aber es waren vier Pflaumen mit violett glänzender Schale.

    »Thank you«, sagte ich. »I’m Mari.«

    Ich sprach ihn Englisch aus: Mary, diesen seltsam altmodischen Namen, der nicht so richtig zu mir passte und mich zu Schulzeiten um Weihnachten herum stets zum Gespött gemacht hatte. Oft dachten die Leute, ich käme aus einer katholischen Familie, aber mein Name hatte höchstens indirekt etwas mit Religion zu tun: Das Hellblau von Marias Mantel auf frühmittelalterlichen Gemälden hatte meine Eltern auf die Idee gebracht.

    »Mary«, wiederholte der Mann vor mir und hielt mir die Hände so unter die Nase, dass ich die Pflaumen notgedrungen annehmen musste.

    »They’re beautiful, wie schön.« Keine Ahnung, was er von mir erwartete, warum er mir die Pflaumen anbot; wollte er sie mir zeigen, verkaufen, schenken? Dieses Land machte mich wieder zu einem Kind, ohne einen Führer war ich hilflos.

    »Tarik«, sagte er und blieb abwartend stehen. Es dauerte, bis ich auf die Idee kam, ihn hereinzubitten. Das hatte ich mir in den letzten Jahren abgewöhnt: Leute, Freunde zu mir einzuladen.

    »A drink?«, fragte ich. »Coffee, tea? Perhaps we can share your lovely plums?«

    Ich hörte das Echo meiner Worte, die übertriebene Höflichkeit, die sich in meine Stimme schleicht, wenn ich verunsichert bin. Bei meinem zweiten Vorschlag schüttelte er den Kopf und zeigte auf mich: »For you, die sind für dich.«

    Drinnen war es kühler als draußen. Ich füllte den Wasserkessel, entzündete das Gas. Die kleine Küche mit der langen steinernen Arbeitsplatte und dem an eine Gasflasche angeschlossenen Herd befand sich auf der Rückseite des Hauses. Ich hatte keine Angst vor dem Mann, aber umso mehr vor dem Schweigen, das sich zwischen uns einstellen würde. Ich war froh, ihm den Rücken zukehren zu können. Er ließ sich auf einen der Stühle fallen und machte sich klein. Ich stellte den Kaffee vor uns hin und trotz seines Protests auch die Pflaumen, die er sofort ostentativ zu mir schob.

    »Was willst du hier?«, fragte er. Er schaute mich nicht direkt an, sondern fixierte einen Punkt neben meinem Kopf, so als müsste er sich anstrengen, aufmerksam zu bleiben. »Hier ist doch nichts.«

    »Die Malereien. Auf den Felsen?« Keine Ahnung, was ich ihm sonst noch von meinem Projekt erzählen konnte.

    »Ja«, erwiderte er dermaßen gleichgültig, dass ich mich fragte, ob er nicht längst wusste, weshalb ich hier war und eigentlich etwas ganz anderes, Wesentlicheres erfahren wollte, nämlich was mich hierher, an diesen gottverlassenen Ort, geführt hatte. Während wir Kaffee tranken, blieb es still, dann sagte er: »Ich helfe dir.«

    Das war keine Frage und auch kein Angebot, sondern eine Feststellung. Nicht weiter schlimm: Allein würde ich ohnehin nichts auf die Reihe kriegen.

    »Kennst du die Region gut, bist du hier aufgewachsen?«

    »Nein.«

    Ich wartete, aber er erklärte nichts weiter, fragte bloß, wie lange ich bleiben wolle. »Ich habe Zeit«, antwortete ich, »und zwar mehr als genug.« Es gab nichts, wozu ich hätte zurückkehren können, meine Stelle hatte sich in Luft aufgelöst, meinen Wohnungsmietvertrag hatte ich gekündigt und meine Sachen verkauft und verschenkt, bis nur noch so viel übrig war, dass es in wenigen Kartons Platz fand. »Ich habe Zeit«, wiederholte ich, ohne zu wissen, wofür genau.

    Ich wollte nirgendwohin, als ich ins Flugzeug stieg, ich wollte nur noch weg. Ich wusste nicht, wie ich in dieser leeren Wohnung weiterleben sollte. Lange hatte ich ausschließlich gewartet. Wenn ich raus musste, mied ich das Paradies beziehungsweise das, was noch davon übrig war. Die Kleingartensiedlung hatte sich in eine schwarz verkohlte Müllhalde verwandelt: Die kahlen, staksigen Äste erinnerten an flehend ausgestreckte Arme, überall verbogenes Metall und halb karbonisiertes Holz. Natürlich hatte keine einzige Pflanze überlebt: keiner der Ableger, die wir bei Momo gezogen hatten, nichts von Johans Ernte und nichts von Ritas exotischen Pflanzen, die sie Herbst für Herbst ins Haus holte, um sie im Spätfrühling wieder nach draußen zu stellen, wobei sie mit jeder Pflanze sprach wie mit einem Kind. Nach einigen Wochen kamen Männer mit Kettensägen, um die Bäume abzuholzen und abzutransportieren. Bagger planierten die Trümmer und anschließend wurden Hochglanzschilder voller Verheißungen für die Zukunft aufgestellt. Ich machte extra einen Umweg mit dem Rad, um sie nicht sehen zu müssen. Ich hasste dich, vermisste dich, wartete darauf, dass du zurückkehren und mir alles erklären würdest. Ich veränderte nichts an meiner Wohnung und nichts an mir, sodass du das Leben, das du zurückgelassen hattest, nahtlos hättest wieder aufnehmen können … wozu es jedoch nie kam. Abends starrte ich auf die flimmernde Mattscheibe meiner Nachbarn und machte mir nicht mal mehr die Mühe, das Licht einzuschalten. Im Baum hinter meinem Haus saßen zwei Turteltauben, stets eng aneinandergeschmiegt. Ich schaute mir Filme über Wildschweine in den Straßen an, über Ziegenherden mitten in der Stadt, über Delfine in Häfen. Es gab Berichte von Wirtschaftseinbrüchen, gefolgt von der Nachricht, dass es eigentlich gar nicht so schlimm sei, zumindest nicht fürs Erste. Niemand schien sich entscheiden zu können, ob das nun eine Katastrophe oder eine neue Chance für die Menschheit war, sofort hieß es, das sei die Rache der Natur, die Wiederherstellung eines verlorenen Gleichgewichts. Eine Familie mit drei Kindern ertrank bei dem Versuch, den Ärmelkanal in einem Schlauchboot zu überqueren. Grenzen, die für uns seit Langem nur noch eine bloße Formalität waren, wurden wieder geschlossen, auch für uns. Und eine Ausgangssperre war nicht länger nur noch etwas aus dem Zweiten Weltkrieg.

    Doch all das spielte keine Rolle mehr, ich betrachtete es wie aus weiter Ferne. Du warst verschwunden, Momo war in Schutt und Asche gelegt, nichts hielt mich noch hier. Momo, benannt nach meinem Lieblingskinderbuch, hätte eigentlich ein sicherer Hafen für unsere Gäste sein sollen – in den langen, leeren Stunden, in denen ihre Schlafunterkünfte geschlossen waren. Jetzt, wo von diesem Hafen nichts mehr übrig war, hatte auch ich jegliches Zeitgefühl verloren. Um irgendwas zu tun zu haben, ging ich in den Botanischen Garten und zog mich in die alten hohen Gewächshäuser zurück. Botanische Gärten haben etwas beruhigend Vorhersehbares: diese brav angeordneten Pflanzen

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