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Die Messermacher: Ein Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe
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Die Messermacher: Ein Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe
eBook313 Seiten4 Stunden

Die Messermacher: Ein Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe

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Über dieses E-Book

Dass die krebskranke Seniorchefin der Messermanufaktur in Ottenbach eines natürlichen Todes gestorben ist, steht für die 7-köpfige Familie außer Frage, aber warum ist in der gleichen Nacht der alte Firmenchef spurlos verschwunden? Seine Enkelin, die 18-jährige Nora ermittelt auf eigene Faust und kommt damit dem jungen Kripo-Assistenten Joska Kiss gewaltig in die Quere. Was hat es mit dieser geheimnisvollen Nachricht auf sich und wer ist der seltsame Mann, der zu Großmutters Beerdigung gekommen ist? Was Nora dann herausfindet, stürzt ihre heile Welt ins totale Chaos. Nur ihr neuer Freund Joska kann ihr helfen, das alles zu überstehen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Nov. 2020
ISBN9783960147954
Die Messermacher: Ein Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe

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    Buchvorschau

    Die Messermacher - Petra Mehnert

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    Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

    Impressum 

    Petra Mehnert, »Die Messermacher« 

    2. Auflage 

    www.edition-winterwork  

    © 2020 edition-winterwork  

    Alle Rechte vorbehalten 

    Satz: Petra Mehnert 

    Umschlaggestaltung und Foto: Robin Mehnert 

    Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

    ISBN Print 978-3-96014-763-3 

    ISBN E-BOOK 978-3-96014-795-4

    Die Messermacher 

    Ein Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe 

    Petra Mehnert 

    edition winterwork

    Prolog 

    Er kauerte wimmernd in der Ecke seines kleinen Schlafzimmers und starrte unverwandt auf das blutverschmierte Messer. Seine Hand zitterte unkontrolliert, als wäre sie ferngesteuert. 

    Was hatte er nur getan? 

    Vor ihm lag in einer sich immer weiter ausbreitenden Blutlache ein älterer Mann, mit weißem, längerem Haar, das in wirren Strähnen die Hälfte seines Gesichtes verdeckte. Der Mund halb geöffnet, das eine Auge starr und weit aufgerissen, als könne er selbst noch im Tod nicht glauben, was gerade geschehen war. Der hölzerne Griff eines Messers ragte ihm aus der Brust und es sah aus, als wäre er mit der weiß behaarten Brust verwachsen. Nur das inzwischen kleine Rinnsal aus Blut zeugte davon, dass dieser Mann vor ein paar Minuten noch gelebt hatte. Aber sein Herz hatte aufgehört zu schlagen und der Körper, der zwar alt, doch noch gesund und durchtrainiert gewesen war, hatte seine Funktionen eingestellt. 

    Der deutlich jüngere Mann zitterte immer noch – wie in 

    Trance saß er da und wiegte sich vor und zurück – vor und zurück. Er konnte nicht damit aufhören und wusste längst nicht mehr, wie lange er schon so dasaß. Seine langen pechschwarzen Haare hingen genauso schlaff herab, wie er sich fühlte. Er war heute noch nicht einmal dazu gekommen, seinen obligatorischen Zopf zu flechten. Hätte er in diesem Augenblick in den Spiegel geschaut – ihm hätten zwei stahlblaue Augen entgegengeblickt, aus denen jede Lebensfreude gewichen war. Sein sonst vor Energie strotzender Körper war nur noch eine kraftlose Masse, als hätte man aus ihm den Stecker gezogen. Nun war er nur noch eine leblose Marionette. Es schien ihm, als sei es schon Jahre her, dass er sich mit seinem Freund gestritten hatte. Worum war es eigentlich gegangen bei diesem ersten handfesten Streit? Nur ein einziger Moment in einem Leben konnte alles verändern. 

    Im abgelegenen Örtchen Ottenbach, im „Tal der Liebe am Fuße des Kaiserberges Hohenstaufen, schien die Welt an diesem sommerlichen Junitag noch in Ordnung. Doch war dieser Schein der „heilen Welt nicht allzu trügerisch? 

    „Oma! Opa! Nun macht doch endlich auf!", jammerte Nora, denn die zierliche Achtzehnjährige hatte wie üblich ihren Werkstattschlüssel nicht dabei. Sie war zwar als quirlige Frühaufsteherin stets die Erste, die im großelterlichen Messermacher-Betrieb an der Werkbank oder am Computer saß, doch ihre Großeltern waren immer schon wach und schlossen jeden Tag die Wohnungstüre auf, denn die Werkstatt befand sich in einem Anbau gleich neben dem Wohnzimmer. Normalerweise trudelten dann nacheinander Noras sechsundfünfzigjähriger Vater Jakob, dessen zehn Jahre jüngerer Bruder Tobias und schließlich, meist erst gegen zehn Uhr, die gemeinsame Schwester Marianne ein. Mit ihren vierzig Jahren war Marianne immer noch überzeugter Single und kostete das mit einem ausschweifenden Lebensstil auch weidlich aus. Als Nachtmensch schaffte sie es einfach nicht, wie die anderen Familienmitglieder um sieben Uhr in der Firma anzutanzen. Seit ein paar Monaten hatte die Familie nun für das jüngste Mitglied, Noras sechzehnjährigen Bruder Felix, auch einen Ausbildungsplatz eingerichtet, was in der doch recht kleinen Werkstatt zu einigen Umräum- und Erweiterungsaktionen geführt hatte. Delfina, Jakobs Frau und die Mutter von Nora und Felix, kümmerte sich stundenweise um das Büro und so war das Familienunternehmen komplett. Die gute Auftragslage ermöglichte es, allen Angehörigen der Familie Angerer ein Auskommen zu sichern. Die Großeltern Reno und Adele, beide vierundsiebzig, führten die Firma immer noch mit strenger Hand und waren bisher nicht dazu bereit, dies in die Hände ihrer Kinder zu legen. Was zumindest einem Familienmitglied immer weniger behagte. 

    An diesem Montagmorgen wunderte sich Nora sehr, dass die Wohnungstüre verschlossen blieb. Ob Opa mal wieder eine anstrengende Nacht hinter sich hatte? Seit seine Frau an Lungenkrebs erkrankt war (Nora hatte auf so was nur gewartet, denn ihre Oma rauchte schon immer sehr viel), musste Reno des Öfteren nachts aufstehen und seiner Frau auf die Toilette helfen. Adele war schon seit Wochen zu schwach, um dies alleine zu tun. Das Atmen fiel ihr zusehends schwerer und ihr Kreislauf spielte oft verrückt, da sie meist den ganzen Tag nur noch im Bett lag. 

    „Wahrscheinlich schnarcht Opa noch und Oma schläft ja morgens immer so fest, dass sie kaum wach zu kriegen ist. Jetzt muss ich halt warten, bis Papa kommt", murmelte Nora und setzte sich in den Pavillon des großen Gartens. Wer wohl in diesem Jahr die Pflege des Grundstücks übernehmen würde, wo die Oma doch so krank war? Nora erinnerte sich noch gut an den letzten Frühling, als ihre Großmutter wieder viele herrliche Blumenbeete und große steinerne Blumentröge mit den schönsten Blumen arrangiert hatte. Seit die hohe Hecke entfernt werden musste, weil sie total morsch geworden war, konnten auch die vorbeigehenden Spaziergänger den tollen Garten der Angerers bewundern. Einerseits hatte sich Adele geschmeichelt gefühlt, wenn die Leute staunend stehen geblieben waren, aber andererseits hätte sie nun gerne wieder mehr Privatsphäre gehabt, so wie früher, als die hohe Hecke ihr Anwesen vor neugierigen Blicken bewahrt hatte. Es würde noch sehr lange dauern, bis die neu gesetzten Pflanzen wieder als Sichtschutz fungieren konnten. 

    Ausgerechnet heute verspätete sich Noras Vater und er kam gemeinsam mit seinem Bruder und Felix mit den Mofas angeknattert. Seit sie auf einen außerhalb des Ortes gelegenen Bauernhof gezogen waren, konnten sie aus Zeit- und Fitnessgründen nicht mehr mit den Fahrrädern zur Arbeit fahren. Die Nachbarn waren zwar über den frühmorgendlichen Lärm nicht erfreut, mussten das aber hinnehmen – es blieb ihnen nichts anderes übrig. 

    „Was ist denn mit dir los, Nora? Warum gehst du nicht rein? Hast du mal wieder Streit mit Oma?", fragte ihr Vater mitfühlend, denn seine Mutter konnte manchmal sehr ungemütlich werden. 

    „Die Tür ist noch zu und Oma und Opa hören mich nicht. 

    Du weißt doch, dass ich nie einen Schlüssel dabei hab – bisher brauchte ich ihn ja auch nicht", rechtfertigte sich Nora und stapfte dann hinter ihrem Vater her. Eigentlich wäre sie bei diesem herrlichen Sommerwetter lieber draußen im Garten geblieben, aber leider kannte ihre Familie, was die Arbeitszeiten anging, kein Pardon. Nur in ganz seltenen Ausnahmefällen durfte jemand mal später kommen oder früher gehen. Allein ihre Tante Marianne hatte es durchgesetzt, dass sie erst um zehn Uhr anfangen durfte. Sonst hätte sie gekündigt und das wollte die Familie dann doch nicht, denn Marianne war eine hervorragende Designerin von Messerformen und –griffen, die keiner missen wollte. Und Marianne wusste das. 

    Nachdem Jakob aufgesperrt hatte, drängte sich Nora an ihm vorbei, und während sie die Treppe nach oben zu den Schlafzimmern hinaufstürmte, rief sie: 

    „Oma! Opa! Was ist los, ihr Schlafmützen?" 

    Sie erhielt keine Antwort und so blieb sie vor dem Schlafzimmer ihres Großvaters ratlos stehen. Da ihr Opa so schrecklich schnarchte und seit Oma so krank war, schliefen sie in getrennten Zimmern. Einfach reinplatzen wollte das Mädchen aber doch nicht und so klopfte sie energisch an die Türe. Es kam aber immer noch keinerlei Reaktion. Kopfschüttelnd stand sie nun da, als ihr Vater ihr zurief: 

    „Lass sie doch schlafen, Nora. Wahrscheinlich hatten sie wieder eine anstrengende Nacht. Reno wird schon runter kommen, wenn ihn der Hunger plagt. Du weißt doch, wie ihm morgens immer der Magen knurrt." 

    „O.k., wenn du meinst …", murrte Nora, denn das bedeutete, dass sie nun an die Arbeit musste. Gerne hätte sie ihren geliebten Opa geweckt und dann mit ihm gefrühstückt. Enttäuscht drehte sich Nora um und schlich nun die Stufen vorsichtig hinunter, denn jetzt wollte sie doch, dass sich ihr Opa mal so richtig ausschlafen konnte. Seine Frau hielt ihn seit ihrer Krankheit ganz schön auf Trab, manchmal tat Nora ihr ruhiger und sensibler Opa richtig leid. Er war so ein lieber Mensch und er versuchte alles, um seiner armen Frau in ihrer schweren Krankheit beizustehen. Nora tat sich da schon etwas schwerer, denn ihre Oma war eine sehr herrschsüchtige Frau und vor allem in Firmendingen war nicht mit ihr zu spaßen. 

    Wie jeden Tag war es zunächst still in der Werkstatt – jeder hatte seinen eigenen Arbeitsplatz mit Blick auf den schönen Hohenstaufen. Wegen dieses Ausblicks wurden sie oft beneidet, denn wer nach Ottenbach zog, wollte, wenn möglich, diese wunderschöne Aussicht genießen können. Der kegelförmige Berg, um dessen grüne Haube sich eine kleine Ortschaft wie ein Kranz wand, sah zu jeder Jahreszeit sehr schön aus. Täglich zeigte er sich in anderen Farben und Schattierungen. 

    Trotz des wunderbaren Ausblicks, den sich die Handwerker zur Erholung ihrer angestrengten Augen immer wieder gönnten, konzentrierten sich die Angerers voll auf ihre Werkstücke. Jeder hatte ein Spezialgebiet, um das er sich vermehrt kümmerte, doch bei manchen Arbeitsschritten arbeiteten sie auch Hand in Hand. Es dauerte aber meist nicht lange, bis einer von ihnen irgendein Thema aufgriff, das ihn gerade besonders interessierte oder das momentan im Radio zu hören war. Solange die Seniorchefs nicht in der Werkstatt waren, wurde ein Sender eingeschaltet, auf dem viele Oldies liefen. Die Älteren liebten die alten Songs und so wurden auch die Jüngeren in diese Musik eingeführt und ständig nach den Interpreten ausgefragt. Inzwischen kannten sich Nora und Felix bestens mit den Hits ab den 50er Jahren aus. Wenn die Großeltern in der Firma waren, musste sofort auf den Klassiksender umgeschaltet werden, was der Rest der Familie zwar schon oft zu verhindern versucht hatte, aber immer an der Macht Adeles gescheitert war. Seit ihrer Krankheit war sie allerdings nicht mehr so oft in der Werkstatt und mit Reno konnte man reden. Dem hatten sie inzwischen ihren Lieblingssender auch schmackhaft gemacht. 

    Momentan beschäftigte sich Nora mit dem Thema Umweltschutz. Eigentlich wissen die Menschen doch, dass es höchste Zeit ist, etwas Gravierendes zu unternehmen, doch keiner will damit anfangen. Wer möchte schon von sich aus auf die liebgewonnenen Annehmlichkeiten verzichten, wenn es der Nachbar auch nicht tut? Wer lässt freiwillig sein Auto stehen, spart Strom oder vermeidet unnötige Verpackungen? Wer denkt schon genauer darüber nach? 

    Auch hier in der modern mit Holz und Edelstahl eingerichteten Messerwerkstatt wurde nun heftig über dieses Thema diskutiert und darüber verging die Zeit des eintönigen Arbeitens wie im Flug. Nebenbei hatte Nora noch eine Kanne Kaffee gekocht und jedem in seiner Lieblingstasse den dampfenden Muntermacher auf den Arbeitsplatz gestellt. Das mit den Tassen war eine Marotte der Angerers – aus jedem Urlaub brachten sie als Andenken welche mit und Nora kaufte immer wieder besonders schöne oder ausgefallene Tee- oder Kaffeetassen. Inzwischen war dafür sogar eine eigene Vitrine angeschafft worden. Eine weitere Eigenart Noras, die ihren Vater jeden Tag aufs Neue den Kopf schütteln ließ, war, dass sie in ihren Kaffee stets fünf Stück Würfelzucker warf – allerdings ohne umzurühren. Auf die Frage hin, warum sie nicht umrühre, antwortete sie, das wäre ihr dann zu süß. Was sollte man dazu noch sagen? 

    Es dauerte an diesem Tage noch über eine Stunde, bis Felix endlich auffiel, dass es im oberen Stockwerk immer noch so ruhig war. 

    „Immer noch nichts zu hören, da oben. Sogar unser Firmenwachhund Moritz hat noch keinen Mucks von sich gegeben", stellte Felix fest, doch seine Schwester konterte sofort: 

    „Der Moritz ist doch stocktaub. Wenn die Schlafzimmertür von Opa geschlossen ist, hört der uns hier unten garantiert nicht." 

    „Ich glaub, der will nur nicht hören und stellt sich taub. Aber komisch ist das schon", meinte Felix dann mit einem seltsamen Gefühl im Bauch. Irgendwas stimmte hier nicht – ganz und gar nicht. Er stand auf und mit einem Kopfnicken gab ihm sein Vater zu verstehen, dass es nun in Ordnung war, wenn er nach seinen Großeltern sah. Doch Nora sprang ebenfalls auf und rief ihrem Bruder zu: 

    „Ich weck Opa!", und schon war sie zur Tür hinaus und bereits auf der Treppe, als Felix sie einholte. Er hatte mal wieder zuerst seine fast in den Kniekehlen sitzende Jeans hochziehen müssen, die ihm trotz Gürtel immer wieder über seine mageren Hüften rutschte. Jedes Mal, wenn er das tat, schüttelten die erwachsenen Mitglieder seiner Familie über diese unmögliche neue Mode verständnislos die Köpfe. Die Jungs sollten sich mal von hinten sehen – sie sahen aus, als hätten sie die Hosen voll! Und das Treppensteigen ging auch nicht so einfach, sodass Felix hinter seiner Schwester herstolperte. 

    „Das ist unfair, Nora! Warum muss ich nach Oma gucken? 

    Seit sie krank ist, ist sie mir noch unheimlicher", raunte Felix seiner Schwester zu, doch ihr Blick duldete keinen Widerspruch. Wenn es um ihren Opa ging, war sie gnadenlos und außerdem mochte Oma ihren kleinen Felix wesentlich lieber als ihre Enkelin. Also war es nur gerecht, dass Felix nun nach ihr schauen musste. Wieder klopfte Nora zuerst vorsichtig, und als keine Antwort kam, etwas energischer an die Schlafzimmertüre ihres Großvaters. Felix war an ihr vorbei und den Gang hinunter gegangen, um an der letzten Türe zu klopfen. Auch er bekam keine Antwort und die Geschwister sahen sich fragend an. Sollten sie einfach so hineingehen? Würde das im Falle der Großmutter nicht ein mächtiges Donnerwetter geben? Die beiden jungen Leute nickten sich zu und gemeinsam drückten sie die jeweilige Türe auf. Da die Großeltern die Angewohnheit hatten, in völliger Dunkelheit zu schlafen, sahen die Geschwister zunächst nichts. Erst als sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse des einfallenden Flurlichtes gewöhnt hatten, konnten sie die Umrisse der Zimmer und schließlich auch die Betten erkennen. Fast gleichzeitig stießen sie einen lauten Entsetzensschrei aus, wobei der von Felix wegen seines Stimmbruchs sofort überschlug und nur noch ein heißeres Krächzen übrig blieb. Während Nora unmittelbar darauf zurück auf den Flur gelaufen kam und dabei rief: 

    „Opa ist weg!", rührte sich Felix nicht von der Stelle. Wie erstarrt hielt er immer noch die eiskalte und steife Hand seiner Oma fest, als wäre er an ihr festgefroren. 

    „Was ist mit Oma?", fragte Nora, während sie durch den Flur schlitterte. Beinahe wäre sie auf einem der vielen kleinen Teppichläufer ausgerutscht, die ihre Oma im ganzen Haus liegen hatte. 

    „Ist Oma da?", wollte Nora wissen, bevor sie überhaupt ganz im Zimmer war. Als sie dann ihre Oma schemenhaft im Bett liegen sah, raunzte sie ihren Bruder an: 

    „Warum schreist du denn so? Oma ist doch da, nur der Opa ist weg!" Mit diesen Worten schubste sie ihren Bruder unsanft zur Seite, wobei der die Hand seiner Oma loslassen musste und diese dann kraftlos aus dem Bett rutschte. Nora achtete gar nicht darauf, sondern umrundete das Bett und schaute nach, ob ihr Opa neben seiner Frau kuschelte. Sie machte das ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken, dass das Krankenbett doch viel zu schmal war, um zu zweit darin liegen zu können. Erst als sie sich davon überzeugt hatte, dass ihre Oma alleine in ihrem Bett lag und anscheinend immer noch schlief, flüsterte sie ihrem Bruder zu: 

    „Lass Oma schlafen und hilf mir lieber, Opa zu suchen. 

    Vielleicht musste er kurz weg oder er hat bei dem tollen Wetter einen ausgedehnten Gassigang mit Moritz gemacht." 

    „Er würde Oma doch nie alleine lassen, bevor wir in die Werkstatt kommen und für einen längeren Spaziergang ist der arme Moritz doch schon zu alt. Immerhin muss Opa seit über einer Stunde weg sein, stellte Felix klar und ergänzte noch murmelnd: „Da stimmt was nicht und außerdem ist Oma tot, glaub ich. 

    „WAS!, schrie Nora auf. „Was redest du da für einen Blödsinn? Doch nach einem Blick in Felix entsetztes Gesicht drehte sie sich zu ihrer Oma um und sah einen Arm leblos von der Bettkante hängen. 

    „Oh, mein Gott", flüsterte sie und ging ganz langsam näher heran. Sie war blass geworden und ihre Sommersprossen traten noch kräftiger hervor. Um sich davon zu überzeugen, dass ihr Bruder Unrecht hatte, musste sie ihre Großmutter anfassen. Zögernd näherte sie ihre Hand dem Arm von Adele, doch kurz vor einer Berührung zog sie sie wieder zurück. 

    Nein! Sie konnte das nicht! 

    Brüsk drehte sie sich um, rannte im Hinausstürmen ihren Bruder beinahe um und stürmte hinunter in die Werkstatt. 

    „Papa! Tobias! Opa ist weg und mit Oma stimmt was nicht! Felix sagt, sie ist tot!", kreischte Nora hysterisch und zog ihren Vater vom Stuhl hoch. Der kapierte zunächst gar nichts, ließ sich aber mit nach oben ziehen, gefolgt von seinem ratlos dreinblickenden Bruder. Felix hatte es inzwischen über sich gebracht und das Licht im Schlafzimmer seiner Großmutter eingeschaltet. Nach einem Blick in das bleiche Gesicht und die ausdruckslosen Augen war er sich sicher, dass seine arme, kranke Großmutter in dieser Nacht gestorben sein musste. Nacheinander betraten nun die anderen den kleinen Raum, der trotz der morgendlichen Kühle recht stickig war. Auch Jakob und Tobias brauchten ihre Mutter nicht anzufassen, um zu wissen, dass sie nicht mehr lebte. Nun hatte es der Krebs also doch schneller geschafft, die kranke Lunge dieser Frau zu zerstören, als es die Ärzte vorhergesagt hatten. Vielleicht war es besser so, nun würde ihre Mutter nicht mehr leiden müssen, und hatte hoffentlich friedlich einschlafen dürfen. 

    „Sie ist wirklich tot, oder Papa?", fragte Felix leise und sein Vater nickte nur. Er ging auf seine Mutter zu, schloss mit einer sanften Bewegung ihre Augen und legte die Hände gefaltet auf ihren Bauch. Dann nahm er seine Kinder in den Arm, während sein Bruder ihm von hinten die Hand auf die Schulter legte. Traurig schauten sie in das etwas verzerrte Gesicht der Frau, die zeit ihres Lebens für die Familie und die Firma da gewesen war. Was würde nun werden, ohne das eigentliche Familienoberhaupt? Denn dass Reno der Chef war, wurde nur nach außen hin so dargestellt, die wirkliche Chefin war Adele. Geschäftstüchtig, herrisch, aber auch fürsorglich war sie gewesen. Aufgeopfert hatte sie sich für ihre Familie und nun war sie tot. 

    „Warum hat sie auch immer so viel gequalmt?", entfuhr es nun Nora, denn irgendwie brauchte sie einen Schuldigen für den tragischen Tod ihrer Großmutter. 

    „Es bekommen auch Menschen, die nie geraucht haben, Lungenkrebs. Es muss nicht unbedingt nur am Rauchen gelegen haben. Aber die wichtigere Frage ist doch nun: Wo ist Reno?", fragte Jakob in die Runde und sah dabei nur in ratlose Gesichter. 

    „Vielleicht hat ihn der Tod von Oma so erschüttert, dass er einfach erst mal allein sein musste, und er ist ohne Nachricht zu hinterlassen, aus dem Haus gestürmt, mutmaßte Tobias und kramte dabei sein Handy aus der Tasche. „Vielleicht hat er sein neues Smartphone mitgenommen? 

    Ich kauerte immer noch zitternd neben ihm, als es in seiner Hosentasche klingelte. Der laute Klingelton erschreckte mich so sehr, dass ich panisch aufsprang und dabei in seiner Blutlache ausrutschte. Ich konnte es nicht verhindern und knallte mit meinem ganzen Gewicht auf seinen Arm, der auf einem Stapel Bücher gelegen hatte. Es gab ein fürchterliches, knackendes Geräusch, als ich ihm den Arm brach. Das blöde Handy bimmelte immer noch mit diesem altmodischen Klingelton und mir wurde schlecht. Bevor ich mich aufrappeln konnte, übergab ich mich neben den Toten. Meine langen Haare, die ich heute noch nicht zusammengebunden hatte, hingen mir ins Gesicht und in die eklige Pfütze, ich strich sie nur angewidert zurück. Benommen und mit immer noch zitternden Fingern fischte ich nach dem Telefon und schaute auf das Display. „Anruf von Tobias" stand da und ich warf es in hohem Bogen weg, als wäre es giftig. Leider machte das diesem modernen und anscheinend recht robusten Ding nichts aus, denn es klingelte munter weiter. Wütend warf ich ein Buch danach und als es nicht aufhören wollte, noch eins und noch eins … bis es endlich still war und ich mich wieder darauf konzentrieren konnte nachzudenken, was ich jetzt tun sollte! Ich musste den Leichnam irgendwie loswerden, aber wie, wann und wo? Wie lange es wohl dauern würde, bis der tote Körper steif wurde? Dann würde es sicher noch viel schwerer werden, ihn zu entsorgen. Ob ich ihn wohl schon mal irgendwie zusammenfalten sollte? Allein schon der Gedanke daran ließ mir die Knie weich werden und mein Magen rebellierte schon wieder. Wie sollte ich das nur alles durchstehen? Aber ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Keinem stand ich so nahe, dass ich ihm in einer solchen Situation vertrauen konnte. Wenn man es genau nahm, lag der einzige Mensch, mit dem ich befreundet war, nun tot vor mir! Ich war jetzt wirklich ganz alleine mit mir und meiner schrecklichen und sinnlosen Tat! 

    Warum hatte das nur alles so kommen müssen? Wir waren doch bis vor kurzem noch so glücklich gewesen. Reno kam mindestens einmal im Monat unter einem geschäftlichen Vorwand zu mir in meine kleine Werkstatt. Früher hatten wir uns jeden Tag sehen können, als Reno noch hier im Osten wohnte und bei seinem Vater arbeitete. In der Berufsschule, in der Reno und mein Vater das Messermacher-Handwerk lernten, freundeten sich die beiden an und Reno kannte mich schon als Baby, denn mein Vater war erst achtzehn, als seine damalige Freundin mit mir schwanger war. Doch gleich nach meiner Geburt hatte sie uns verlassen und mein Vater musste mich alleine aufziehen. Reno spielte oft den Babysitter und wurde mit den Jahren mein bester Freund. Wann wir uns ineinander verliebt hatten, weiß ich nicht mehr. Es ist einfach passiert. Ich lernte das Messermacher-Handwerk auch bei meinem Vater, machte aber auch ein Praktikum bei Renos Firma. Reno arbeitete damals ja noch bei seinem alten Vater in der Firma mit, doch ich, Rüdiger Haupt, wusste schon sehr früh, dass ich mich selbstständig machen wollte. Dass ich was drauf hatte, bestätigten mir meine Lehrer immer wieder und als Messermacher braucht man ja auch nicht allzu viele teure Maschinen. So konnte ich meinen Traum nach der Schule rasch in die Tat umsetzen und Renos Firma verschaffte mir auch gleich ein paar lukrative Aufträge. Leider wollte Renos Alter die Firma einfach nicht in die Hände seines Sohnes geben und so überwarf sich der bereits Fünfzigjährige Reno mit seinem alten Vater und fing mit nur ein paar Werkzeugen und einer Holzkiste in einem kleinen Zimmer in Stuttgart ganz von vorne an. Ich flehte Reno an, doch hier zu bleiben und die Sache vollends auszusitzen. Sein Vater war ja schon über achtzig, aber mein sensibler Reno verkraftete es einfach nicht mehr, sich ständig von seinem immer seniler werdenden Vater in die Firmenangelegenheiten reinreden zu lassen und dessen Fehler ausbügeln zu müssen. Mit der Kundschaft ging der Alte auch mehr als ruppig um und so manchen hatte er schon zur Werkstatt hinausgejagt. So konnte man heutzutage nicht mit seinen wertvollen Kunden umgehen, aber sag das

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