Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Frei wie der Wind
Frei wie der Wind
Frei wie der Wind
eBook251 Seiten3 Stunden

Frei wie der Wind

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die 17-jährige Renate wächst in ländlicher Idylle auf. Ab einem gewissen Alter ist das nicht mehr das, was sich ein junges Mädchen wünscht. Der Besuch des Gymnasiums in der nächsten Kleinstadt bietet auch nicht viel Abwechslung. Renate fühlt sich daher zunehmend eingeengt und möchte den elterlichen Zwängen entfliehen. Eine Möglichkeit zeichnet sich ab, sie kann in die Großstadt München wechseln, dort die Schule besuchen und bei ihrer Großmutter wohnen. Doch die tyrannische alte Dame erstickt all ihre Bestrebungen nach Freiheit und Selbstständigkeit im Keim, womit Renate vom Regen in die Traufe gekommen zu sein scheint. Also setzt Renate alles in Bewegung, um sich ihren Traum "frei wie der Wind" zu sein zu erfüllen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum20. Apr. 2017
ISBN9788711718780
Frei wie der Wind

Mehr von Marie Louise Fischer lesen

Ähnlich wie Frei wie der Wind

Ähnliche E-Books

Kinder für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Frei wie der Wind

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Frei wie der Wind - Marie Louise Fischer

    www.egmont.com

    »Es gefällt mir gar nicht, dass du über Nacht fortbleiben willst«, sagte Frau Möller.

    »Aber, Mutti! Was ist denn schon dabei?« Renate schrie es fast heraus. »Du weißt doch, ich bleibe bei Iris, und Iris ist so ungefähr das bravste Mädchen, das du in ganz Traunstadt finden kannst!«

    Frau Möller und ihre siebzehnjährige Tochter waren mitten in einer nie enden wollenden Auseinandersetzung, in denen die Mutter meist Siegerin blieb.

    »Ich begreife nicht, warum du überhaupt wegfahren willst. Wir haben es doch so schön gemütlich zu Hause. Im Fernsehen gibt’s einen Spielfilm mit Humphrey Bogart …«

    »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich mich fürs Fernsehen überhaupt nicht interessiere!«

    »Ich will aber Bogart sehen«, ließ sich Renates kleiner Stiefbruder vernehmen; er saß, das Kinn auf die Fäuste gestützt, am Tisch und buchstabierte an einem Comic.

    »Verdammt noch mal, darum geht’s doch gar nicht!« protestierte Renate.

    »Brüll nicht so!« fuhr ihre Mutter sie an. »Wir sind hier doch nicht unter den Hottentotten.«

    »Mutti, liebe, beste Mutti!« Renate hatte die Stimme mühsam gedämpft und kämpfte gegen Tränen der Verzweiflung. »Verstehst du denn nicht, dass ich nicht immer abseits stehen will …«

    Frau Möller fiel ihr ins Wort. »Seit wann stehst du denn abseits? Das ist das Neueste, was ich höre! Du hast eine Menge Freundinnen, die uns jederzeit willkommen sind … auch übers Wochenende. Du hast deine Familie …«

    »Aber sie hat keinen Freund!« krähte Rolf dazwischen.

    Renate hatte ihren kleinen Bruder sehr lieb, aber in diesem Augenblick hätte sie ihn schlagen mögen; das Blut schoss ihr in den Kopf. »Halt du dich bloß raus, du Kaffer!« schrie sie. »Was verstehst du schon von meinen Problemen?«

    Ihr Bruder grinste.

    »Also darin muss ich Renate Recht geben, Rolf«, sagte Frau Möller, »das war eine sehr unpassende Bemerkung.«

    »Darf ich jetzt mal einen Vorschlag zur Güte machen?« meldete sich Axel Möller, Renates Stiefvater, zu Wort; er hatte sich bisher hinter seiner Zeitung verschanzt. »Wie wäre es, Renate, wenn ich dich gegen zehn Uhr in Traunstadt abholen würde?«

    Renate und ihre Mutter antworteten gleichzeitig.

    »Aber dann kannst du doch den ganzen Abend nichts trinken«, sagte Frau Möller.

    »Um zehn Uhr geht die Party erst richtig los!« rief Renate.

    »Dann hole ich dich eben erst um elf«, entgegnete Herr Möller und, zu seiner Frau gewandt: »Ein Abend Abstinenz schadet mir bestimmt nichts, eher im Gegenteil.«

    »Aber ausgerechnet heute, wo wir es uns gemütlich machen wollten! Die ganze Woche habe ich nichts von dir und …«

    Ihr Mann unterbrach sie. »Meine liebe Sabine, jetzt schweifst du aber gewaltig vom Thema ab. Du hast die ganze Woche nichts von mir, weil man hier in Steindorf bekanntlich kein Geld verdienen kann. Da du aber das Landleben liebst …«

    »Ich scheiße auf euer Landleben!« platzte Renate heraus.

    Beide, ihre Mutter und ihr Stiefvater, wandten sich ihr zu und sahen sie mit großen Augen an.

    »So was sagt man nicht!« rief Rolf, aber es war ihm anzumerken, dass er sich köstlich amüsierte.

    Herr Möller verbiss sich einen Tadel, da er das Verhältnis zu seiner Stieftochter, das jahrelang sehr gespannt gewesen war, nicht belasten wollte.

    Aber seine Frau, der es für Sekunden die Sprache verschlagen hatte, legte los: »Was für ein Ausdruck! Renate, schämst du dich denn nicht? Ich weiß, dass unsere Sprache immer mehr verludert. Aber hier in unserem Haus hast du so etwas jedenfalls noch nie zu hören bekommen!«

    »Stimmt! Weil ihr dauernd heile Welt spielt und euch selbst was vormacht! Gerade das nervt mich ja so! Das wirkliche Leben ist ganz anders!«

    Herr Möller räusperte sich.

    »Was weißt du denn schon vom wirklichen Leben?« fragte seine Frau.

    »Dass es anders ist! Aber ihr sperrt mich ja in einen Käfig.«

    »Aus dem du jeden Morgen ausfliegen darfst«, konnte sich Herr Möller nicht verkneifen zu sagen.

    »Ja, nach Traunstadt, ins Gymnasium! Und spätestens mit dem Sechs-Uhr-Bus muss ich zurück. Wenn ich wenigstens ein Mofa hätte!«

    »Darüber haben wir schon hundertmal gesprochen!« erinnerte ihre Mutter. »Das wäre viel zu gefährlich. Was man so täglich in den Zeitungen liest.«

    »Ich würde vorsichtig sein, Mutti, wirklich!«

    »Das glaube ich dir sogar. Aber meine Nerven würden es einfach nicht aushalten, wenn ich dich auf so einem windigen Fahrzeug unterwegs wüsste.«

    »Nun sei mal friedlich, Renate«, sagte Herr Möller. »Wenn du achtzehn bist, machst du deinen Führerschein, und dann werden wir schon eine Nuckelpinne für dich auftreiben. Na, ist das nicht ein Vorschlag?«

    »Und was mache ich bis dahin?« schrie Renate.

    »Ich bin es müde«, sagte Frau Möller, »alles könnte so friedlich sein.« Sie begann den Kaffeetisch abzudecken.

    Der Streit fand in der guten Stube des Bauernhauses statt, in das die Möllers kurz nach ihrer Hochzeit gezogen waren. Renate vermutete, dass sie es von der Versicherungssumme gekauft hatten, die nach dem tödlichen Verkehrsunfalls ihres Vaters angefallen war. Es war ein gemütliches Haus, ein schönes Heim für Menschen, die das einfache Leben liebten. Renate hasste es.

    Sie konnte die Begeisterung ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders über die frischen Beeren im Garten, die selbst geernteten Boskopäpfel und Walnüsse, über die Eichhörnchen, die durch die Bäume hüpften, und den Igel, der nachts ums Haus schlich, nicht teilen. Für sie bedeutete das Landleben Gefangenschaft und Isolation. Seit sie in Traunstadt aufs Gymnasium ging, hatte sie sich ihren Freundinnen von früher entfremdet. Immer schon hatte sie etwas abseits gestanden, denn die anderen waren vorwiegend Bauernkinder gewesen, und die Möllers galten, auch nach neun Jahren, noch als »Städtische«. Seit sie die höhere Schule besuchte, war sie für die anderen jemand geworden, der etwas »Besseres« war – oder jedenfalls sein wollte. Die Kontakte waren auf ein Minimum geschrumpft.

    In der Stadt hatte sie sich schwer getan, Anschluss an eine Clique zu finden. Für die Kleinstädterinnen war sie ein »Mädchen vom Lande«, und die Schülerinnen, die aus anderen Dörfern rings um Traunstadt kamen, fuhren nicht im selben Bus wie sie nach Hause und waren an den Wochenenden noch schwerer zu erreichen. Die wenigen Gymnasiastinnen aus Steindorf waren älter oder jünger als sie selber.

    Selbst wenn Renate für Vogelgezwitscher am frühen Morgen und Rehe nachts im Mondschein auf der Wiese geschwärmt hätte – die Freuden der Natur hätten ihre unglückliche menschliche Lage nicht verbessert. Zudem fühlte sie sich in der Familie völlig unverstanden. Die Mutter war jeden Tag aufs Neue glücklich, dass sie dem Leben in einem Wohnsilo in der Stadt entronnen war. Rolf, der die erste Klasse der Hauptschule besuchte, war in Steindorf zur Welt gekommen, hatte Freunde gefunden und begriff nicht, wie man überhaupt freiwillig in der Stadt leben konnte. Herr Möller war während der Woche als Mitarbeiter im Außendienst einer pharmazeutischen Firma unterwegs und behauptete, er genieße die Wochenenden auf dem Land. Das konnte er auch leicht, hatte Renate mehr als einmal ketzerisch gedacht, denn was er unter der Woche tat, war ja völlig unkontrollierbar.

    Anfangs hatte sie ihren Stiefvater aus vollem Herzen gehasst. Kaum ein halbes Jahr nach dem Tod ihres wunderbaren, strahlenden, lustigen Vaters hatte die Mutter sie mit ihm bekannt gemacht. Renate hatte nicht begriffen, wie sie sich diesen so viel älteren, bedächtigen, manchmal ironischen Mann, wie sie sich überhaupt einen anderen Mann hatte nehmen können. Und das so schnell nach Vaters Tod.

    Später hatte sie Axel Möller nur noch abgelehnt. Es war nicht seine Schuld, dass Mutter sich für ihn entschieden hatte. Er hatte Vater ja nicht gekannt und nicht gewusst, wie vermessen es war, seinen Platz einnehmen zu wollen. Sie hatte sich nicht um ihn gekümmert, und er hatte sich nicht als ihr Vater aufgespielt. Beide hatten dem Drängen der Mutter, die sich so sehr ein herzliches Verhältnis zwischen ihnen gewünscht hätte, Widerstand geleistet. Es hatte ihnen genügt, nur gerade so miteinander auszukommen, kühl, höflich, distanziert.

    Aber gerade aus dieser Haltung hatte sich eine gewisse Komplizenschaft zwischen ihnen gebildet; allmählich war es zu einem Lächeln hinter dem Rücken der Mutter gekommen, einem Augenzwinkern, hie und da einem zärtlichen Knuff oder Klaps.

    Inzwischen mochte Renate ihren Stiefvater ganz gern; sie fand, dass er immerhin längst nicht so antiquierte Vorstellungen hatte wie ihre Mutter.

    Jetzt wartete sie, bis die Mutter mit dem Tablett in der Küche verschwunden war, dann rief sie: »So, jetzt packe ich meine Klamotten, sonst versäum’ ich noch den Bus!« Sie wusste, der Vater würde sich nicht einmischen; ihm war es nur um den Frieden in der Familie zu tun, und zwar um jeden Preis.

    »Na dann, viel Spaß!« sagte Rolf gutmütig.

    Renate stürzte auf den Gang hinaus und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die hölzerne Treppe hinauf. Oben, in ihrem eigenen großen Zimmer, war es kalt. Das war auch so etwas, was sie an diesem Haus hasste. In der Wohnstube war es stets gemütlich warm. Sie wurde zusammen mit der Küche von einem riesigen grünen Kachelofen beheizt. Die Wärme stieg in das darüber liegende Elternschlafzimmer und in Rolfs Reich. Aber ihr Zimmer bekam nichts davon ab. In der kalten Jahreszeit musste sie ihre Schulaufgaben unten machen und sich eine Wärmflasche ins Bett legen, um überhaupt schlafen zu können. Hundertmal hatte sie die Eltern gebeten, wenigstens eine richtige Heizung legen zu lassen. Aber mit diesem Wunsch war sie auf Granit gestoßen. Ihre Mutter fand die Ofenheizung stilvoll für das alte Haus, und es wäre ihr nahezu als Blasphemie erschienen, Heizkörper installieren zu lassen. Öl war teuer und würde möglicherweise in ein paar Jahren gar nicht mehr erhältlich sein – Renate glaubte zwar nicht daran, aber das war eines der Argumente ihrer Mutter. Holz dagegen gab es reichlich in den umliegenden Wäldern und wurde von dem Jocklbauern ans Haus geliefert. Man würde dem Vater eine gesunde und erholsame Beschäftigung fortnehmen, wenn man ihn um sein Holzhacken am Wochenende brachte. Innerlich bezweifelte Renate zwar, dass er es tatsächlich so gern tat. Aber immerhin behauptete er es, und so war wenig dagegen zu sagen.

    Der Ärger über ihr kaltes Zimmer ließ die Erinnerung an die oft wiederholten Auseinandersetzungen darüber in Renate wieder aufblitzen. Aber tatsächlich war ihr die mangelnde Beheizung des Hauses seltener gleichgültig gewesen als heute. Ein Wunsch beherrschte sie völlig: ungeschoren von hier fortzukommen, an der Party Dieter Löwensteins, eines Jungen aus ihrer Klasse, teilzunehmen, mit den anderen laut und fröhlich zu sein.

    Dieter war durchaus kein Beau, aber er war schon neunzehn. Er hatte sich Zeit mit der Schule gelassen und zeigte auch in allem anderen eine gewisse Überlegenheit. Seine Eltern hatten eine Möbelfabrik und waren wohlhabend. Dieter war sich dessen in jeder Minute bewusst. Nichts konnte ihn erschüttern. Er wusste, dass er eines Tages die Firma seines Vaters übernehmen und damit aus dem Schneider sein würde. Ob er dann auch die Kenntnisse haben und die Fähigkeiten entwickeln würde, ein so großes Unternehmen zu leiten, darüber machten sich weder er noch seine Bewunderer Gedanken. Dieter war in Ordnung, das war gar keine Frage, und seine Art, die Lehrer in Wut zu bringen, war ganz große Klasse.

    Renate raffte ihr Nachthemd und ihr Waschzeug zusammen und stopfte es in eine Plastiktüte. Mehr brauchte sie nicht. Zwar hätte sie sich gern für die Party etwas Besonderes angezogen, aber sie fürchtete, dass die anderen das zickig finden könnten. Nichts war ihr unangenehmer, als aufzufallen oder aus der Reihe zu tanzen. Mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel nahm sie ihr Bild wahr. Sie wusste, wie sie aussah: blond und nichtssagend. Nicht dass sie hässlich gewesen wäre. Ihre Figur war wohl proportioniert; sie besaß eine schmale Taille, gerade Beine, einen festen, nicht eben üppigen Busen. Auch an ihrem Gesicht war nichts auszusetzen, nur war es eben farblos. Es war kein Gesicht, das jemanden veranlassen konnte, ihm einen zweiten Blick zu schenken. Jedenfalls hatte das bisher noch niemand getan. Renate hatte eine gerade Nase, einen hübschen Mund und weit auseinander stehende Augen, deren Blau ihrer Meinung nach viel zu hell war. Sie wusste nicht, dass zuweilen in ihnen ein faszinierendes Feuer aufflammen konnte, denn in solchen Momenten hatte sie sich noch nie im Spiegel betrachtet.

    Renate war durchaus der Meinung, dass sie mit Make-up, Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche etwas aus sich machen könnte. Aber auch das war nicht leicht für sie, denn ihre Mutter war der Ansicht, dass ein junges Mädchen natürlich wirken sollte. Sie durfte ihrem Aussehen nur gerade so viel nachhelfen, dass es noch wie echt aussah – und gerade das hasste Renate. Sie wollte nicht vortäuschen, hübscher zu sein, als sie war, sondern sie wollte – aber darüber war sie sich selber nicht klar – eine Maske aufsetzen.

    Eines stand fest: Heute Abend bei Iris würde sie endlich einmal ungehindert in die Farbtöpfe steigen können.

    Renate schlüpfte in ihr heiß geliebtes Kaninchenjäckchen und rannte die Treppe hinunter – im Flur vor der Haustür genau in die Arme ihrer Mutter. Renate konnte nicht mehr stoppen; sie prallte förmlich gegen Frau Möller und hätte sie, wäre sie nicht eine standfeste Person gewesen, umgeworfen.

    »Entschuldige«, stammelte sie verwirrt und wollte weiter.

    Aber Frau Möller hielt sie bei der Schulter fest. »Was fällt dir ein?«

    »Tut mir Leid, Mutti, ich wollte wirklich nicht …«

    »Habe ich dir nicht verboten fortzugehen?«

    »Nein, das hast du nicht!«

    »Dann möchte ich wirklich wissen, worum es eben bei unserem Streit gegangen ist!«

    »Du hast gesagt, dass du es nicht gern siehst, wenn ich nach Traunstadt fahre … aber verboten hast du es mir nicht!«

    »Und dich einfach mal nach meinen Wünschen zu richten, dazu siehst du keinen Anlass?«

    Renate blickte der Mutter fest in die Augen. »Nein.«

    »Was bist du für ein schreckliches Kind! Womit habe ich eine Tochter wie dich verdient?«

    »Das kannst du dir selber sicher besser beantworten als ich.«

    Frau Möller war gegen körperliche Züchtigung; sie hatte Renate und Rolf nie geschlagen, aber jetzt rutschte ihr die Hand aus. Eine kräftige Ohrfeige landete auf der Wange des Mädchens.

    »Aua!« schrie Renate. »Du bist gmein!« Tränen schossen ihr in die Augen.

    »Ich wollte das nicht«, sagte Frau Möller, selber ganz erschrocken, »aber du bringst mich einfach zur Weißglut!«

    »Also … jetzt bin ich auch noch schuld, dass du mich schlägst!« Renate rieb sich die schmerzende Wange, auf der sich ein roter Fleck ausbreitete.

    »Na sicher. Ohne Grund würde ich doch so etwas nicht tun.«

    »Also, ich finde, Mutti …« Renate unterbrach sich. »Hör mal, Mutti, lass uns morgen darüber reden. Ich muss jetzt los.«

    »Keinesfalls. Du bleibst!«

    »Aber du kannst mir doch nicht verbieten …«

    »Und ob ich das kann.« Frau Möller packte Renate beim Handgelenk und zog sie in die Küche, die bis auf das noch ungespülte Kaffeegeschirr peinlich aufgeräumt war. »Renate, mein Liebling, verstehst du denn nicht, dass ich mir Sorgen um dich mache?«

    Frau Möller ließ sich auf einen der schön gedrechselten Holzstühle sinken und zog das widerstrebende Mädchen auf ihren Schoß, wie sie es früher, als Renate noch klein gewesen war, oft gemacht hatte.

    »Sorgen? Worüber?«

    »Du willst auf eine Party. Da kann allerhand passieren.«

    »Was sollte auf einer Party schon passieren?«

    »Nun stell dich nicht dümmer, als du bist. Du weißt genau, was ich meine. Dieters Eltern leben doch in einer regelrechten Villa. Ich meine nicht, dass ihr Orgien feiert. Aber da könnte es doch vorkommen, dass jemand mit jemandem verschwindet. Ich weiß ja nicht einmal, ob Dieters Eltern euch beaufsichtigen werden.«

    »Beaufsichtigen?« Renate riss sich los und stand auf. »Das bestimmt nicht. Aus dem Kindergartenalter sind wir schließlich raus. Nein, Mutti, ich verstehe dich nicht. Ich verstehe dich wirklich nicht. Ich weiß nicht, warum ich nicht das Gleiche tun darf wie alle anderen.«

    »Weil alle anderen nach der Party nach Hause kommen. Bestimmt darf jede nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt bleiben. Sie werden zu Hause erwartet, wissen, dass sie dem prüfenden Blick ihrer Mutter standhalten müssen …«

    »Ach, du lieber Himmel!«

    »Ich bin bestimmt nicht die einzige Mutter, die besorgt um ihre Tochter ist.«

    »Also, dann werde ich eben dem prüfenden Blick von Iris’ Mutter standhalten, wenn dich das beruhigt.«

    »Nein. Denn wer sagt mir denn, dass du tatsächlich bei Iris übernachtest und nicht gleich bei Dieter bleibst?«

    Diese Frage verschlug Renate die Sprache; sie konnte ihre Mutter nur aus weit aufgerissenen Augen anstarren.

    »Diese Möglichkeit ist doch nicht von der Hand zu weisen«, fuhr Frau Möller fort, »nach allem, was du so erzählst … leider erzählst du ja wenig genug … scheint dir dieser Dieter doch mächtig zu imponieren.«

    »Aber ich würde doch nicht …«

    »Und warum nicht?«

    »Dieter geht in meine Klasse, er ist ein Freund, ein Kumpel … und überhaupt, wenn ich mit ihm ins Bett gehen wollte, brauchte ich doch dazu nicht die Party!«

    »Aber es könnte doch sein, dass du auf der Party jemanden kennen lernst, der dir mehr imponiert als Dieter … in den du dich verliebst …«

    »Du hast vielleicht eine Fantasie, Mutti! Ich wusste gar nicht, dass du eine so dreckige Fantasie hast!«

    »Vorsicht, Renate, du hast heute schon mal eine gefangen!«

    »Aber ist doch wirklich wahr! Ich will auf eine harmlose Party, und du tust so, als ob …«

    »Die Kombination von Party und Übernachtung bei der Freundin gefällt mir eben nicht. Ich sehe in ihr eine Gefahr.«

    »Du tust, als könnte einem Mädchen nichts Schlimmeres passieren als seine Unschuld zu verlieren!«

    »Renate, bitte, willst du mich denn nicht verstehen?« Ohne es selber zu merken, rang Frau Möller die Hände. »Es geht mir doch nicht um deine Unschuld … so ein Quatsch! Ich möchte dich nur beschützen. Ich weiß, wie verletzlich du bist, und das Gefühl, von einem Mann nur ausgenutzt worden zu sein, ist schrecklich demütigend.«

    »Ich ahne nicht einmal, wovon du sprichst. Ich will lediglich auf eine Party, und du …«

    »Schluss jetzt!« erklärte Herr Möller mit fester Stimme.

    Völlig überraschend für Mutter und Tochter hatte er die Küchentür aufgerissen.

    »Aber, Axel, seit wann mischst du dich ein,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1