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Ohne Beweis: Zweiter Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe
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Ohne Beweis: Zweiter Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe
eBook301 Seiten4 Stunden

Ohne Beweis: Zweiter Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe

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Über dieses E-Book

Die Pflasterarbeiten rund ums neue Ottenbacher Rathaus gehen zügig voran, doch einer der polnischen Arbeiter ist noch aus einem anderen Grund im schönen „Tal der Liebe“. Um sein Ziel zu erreichen, freundet er sich mit Carmen an, die gerade gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester die ehrenamtliche Bibliothek im neuen Rathaus bezieht.
Die junge Messermacherin Nora hilft dort auch mit und wird durch ihre Neugier in einen neuen Fall verwickelt, der eigentlich gar keiner ist. Wieder mal ermittelt sie auf eigene Faust und begibt sich erneut in große Gefahr. Kann ihr Freund, der junge Kommissar Joska Kiss, ihr auch diesmal beistehen?
SpracheDeutsch
Herausgeberwinterwork
Erscheinungsdatum10. Sept. 2013
ISBN9783864685552
Ohne Beweis: Zweiter Regionalkrimi aus dem Tal der Liebe

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    Buchvorschau

    Ohne Beweis - Petra Mehnert

    Prolog: 

    Der kleine Junge mit den großen, fast schwarzen Augen, kauerte lautlos weinend in der Ecke des kleinen Wohnzimmers, das ihm und seiner Mutter auch als Schlafstätte diente. Sie hatte an diesem Abend Besuch von einem Mann gehabt – wie so oft – und es waren nur selten bekannte Gesichter darunter. Doch diesen einen hatte er schon oft gesehen und gespürt … 

    Doch heute würde er ihn nicht finden. Heute war der Junge schneller gewesen, als er den stinkenden Kerl laut nach seiner Mutter hatte rufen hören. Er hatte die Worte „Schlampe und „bin wieder da herausgehört, doch nur letzteres hatte das Kind auch sinngemäß erfassen können. Wenn doch nur sein Papa endlich wieder nach Hause kommen würde! Der würde ihn und auch seine arme Mutter vor den Schlägen dieses bösen Mannes beschützen. So schnell ihn seine kleinen dreijährigen Beinchen hatten tragen können, war der schwarzhaarige Junge hinter das Sofa geschlüpft und obwohl es dort sehr eng und staubig war, fühlte er sich hier einigermaßen sicher. Ob sie nach ihm suchen würden? Er wollte heute nicht wieder ins Gesicht geschlagen werden – er wusste sowieso nicht, warum er von diesem Mann jedes Mal verdroschen wurde. Er machte doch gar nichts! Nicht einen Mucks gab er von sich, wenn der Mann mit seiner Mutter „spielte", wie der das immer nannte. 

    Warum weinte seine Mutter dann jedes Mal, wenn der Mann, manchmal erst nach Stunden, wieder ging?  

    Machte ihr das Spielen so viel Spaß und sie wollte nicht, dass er wieder wegging? Aber trotz seiner jungen Jahre wusste der Kleine instinktiv, dass dieses Spielen seiner Mutter nicht, oder jedenfalls nicht immer, gefiel und dass sie oft laut aufschrie.  

    Weinte sie vielleicht manchmal, weil der Mann ihrem kleinen Jungen mal wieder wehgetan hatte? Aber warum hielt sie ihn dann nicht zurück? Warum half sie ihm nie, wenn der Mann auf ihn losging, wo er doch meist so brav in seinem Laufstall saß?  

    Nur heute war der Typ wohl früher als erwartet gekommen und seine Mutter hatte vergessen, ihn vorher in den Laufstall zu setzen. Diese Chance hatte das Kind ohne nachzudenken genutzt und sich versteckt. Ob sie ihn finden und dafür bestrafen würden?  

    Verträumt blickte Carolin Lechner hinunter ins ruhig daliegende Ottenbacher Tal. Sie saß etwas außerhalb vom kleinen Weiler Kitzen auf einer hochgelegenen Wiese, während nebenan friedlich braun-weiße Kühe grasten. Wenn man sich umschaute, konnte man meinen, man wäre hier ganz alleine auf der Welt. Von dort oben hatte man einen wunderbaren Blick geradeaus auf den Kaiserberg Hohenstaufen und rechterhand ragte die Burgruine Hohenrechberg zwischen den Bäumen hervor. Rings ums Ottenbacher Tal reihte sich Hügel an Hügel, was dem abgelegenen Tal den Namen „Göppinger Allgäu" eingebracht hatte.  

    Heiß war es heute – endlich Sommer! Darauf hatte man in diesem Jahr wirklich sehr lange warten müssen, doch nun bei über dreißig Grad im Schatten stöhnten die meisten schon wieder. Das Wetter konnte es vielen einfach nicht recht machen und die immensen Temperaturschwankungen von einem Tag zum anderen machten vor allem den älteren Menschen oft schwer zu schaffen.  

    Doch die trotz ihrer grau-melierten Haare noch jugendlich wirkende Frau genoss diesen herrlichen Sommertag. Sie gönnte sich gerade eine kleine Auszeit von der vielen Arbeit, die sie momentan mit dem Umzug ihrer Bücherei hatte. Wenn sie aber zurückdachte, war das Ausräumen im April noch viel anstrengender gewesen, denn da hatten sie ein ganzes Bauernhaus mit sieben Räumen voller Bücher ausräumen müssen! Nach zehn Jahren musste die Bücherei aus dem 1682 erbauten Fachwerkhaus wieder ausziehen, da es verkauft worden war. Da man in die zwei Räume des neuen Rathauses nur einen Bruchteil der Bücher hatte mitnehmen können, mussten sie sehr viele, die sie nicht anderweitig losgeworden waren, wegschmeißen! Beim Gedanken an den über halbvollen Heuwagen, den der Musikverein mit der Altpapiersammlung weggebracht hatte, blutete ihr heute noch das Herz. 

    An diesem Tage hatte sie aber nur am Vormittag, gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Carmen, den Männern vom Bauhof beim Aufstellen der Regale für die kleine Bücherstube im neuen Rathaus geholfen. Doch nachdem die Sonne stundenlang gnadenlos zum Fenster hereingeschienen hatte, genehmigten sich die Zwillinge nun eine nachmittägliche Pause. Carolins Schwester Carmen liebte das Wasser und so war sie wie so oft zum Plüderhausener Badesee gefahren, wohl wissend, dass sie höchstwahrscheinlich keinen Parkplatz mehr bekommen und dicht an dicht mit anderen Badegästen würde liegen müssen. Carolin liebte mehr die Einsamkeit und so war sie, was sie seit ein paar Wochen mehrmals in der Woche tat, zum Mühlenhof hinauf geradelt, um ihre neuen Freunde Johann und Maria zu besuchen. Der Bauer war für seine siebzig Jahre noch recht rüstig und mit seiner drahtigen Figur und dem Dreitagebart sah er deutlich jünger aus. Seine zehn Jahre ältere Frau dagegen war eine abgeschaffte Bäuerin und auch schon sehr kränklich. Besonders in der letzten Zeit hatte sie stark abgebaut und es ging ihr immer schlechter. Wahrscheinlich das Herz, obwohl sie regelmäßig ihre Herztabletten nahm.  

    „Schöner Blick von hier oben, nicht wahr?", hörte Carolin plötzlich die Stimme des Bauern hinter sich. Lächelnd drehte sie sich um.  

    „Ja, wirklich traumhaft schön. Ich liebe einfach den freien Blick auf den Hohenstaufen. Beim Blick von meiner Terrasse zu Hause aus steht mir immer so ein blöder Strommast im Weg. Wie geht es Maria? Sie verträgt die Hitze wohl nicht so gut?", fragte Carolin besorgt, denn heute Nachmittag war Maria sehr blass und ziemlich kurzatmig gewesen.  

    „Sie schläft jetzt. Wenn es kühler wird, geht es ihr meist wieder ein bisschen besser. Ihr Herz macht halt nicht mehr so mit, da helfen die Herztabletten auch nichts. Aber achtzig ist ja auch ein stolzes Alter und wenn man so viel geackert hat wie meine arme Maria, dann ist man irgendwann einfach kaputt und abgeschafft", meinte Johann nur und setzte sich neben seine hübsche Besucherin. Zu nah, wie Carolin fand und so rückte sie vorsichtig ein wenig von ihm ab.  

    „Puh! Ist das heiß hier in der Sonne", stöhnte Carolin, um das Abrücken damit zu erklären. Sie wollte Johann nicht kränken, denn eigentlich fand sie ihn sehr anziehend, aber er war schließlich verheiratet und seine Frau war zudem auch noch krank. Nein, sie würde nicht zulassen, dass Johann ihr zu nahe kam.  

    „In meinem Alter verträgt man die Sonne wirklich nicht mehr so gut", plapperte Carolin weiter, doch der Bauer fuhr sich kurz durch die halblangen grauen Haare und lehnte sich genüsslich nach hinten. 

    „Also mir macht die Hitze nichts aus – im Gegenteil. Je wärmer, desto besser." 

    Für deine alten Knochen, wahrscheinlich, dachte Carolin, doch laut meinte sie: „Du bist die Arbeit an der Sonne ja auch gewöhnt. Ich arbeite den ganzen Tag in einem Büro oder in der Bücherstube. Wenn ich dann mal draußen bin, gehe ich immer in den Schatten. Ist besser für die Haut – kriegt man weniger Falten", lächelte Carolin und hatte dabei tatsächlich nur kleine Lachfältchen um die Augen. Johanns Haut war sonnengebräunt und wesentlich faltiger, aber dennoch sah er sehr gut aus.  

    „Stimmt, du siehst für dein Alter wirklich noch sehr jugendlich aus", schnurrte Johann und rückte wieder näher.  

    „Danke für das Kompliment, das kann ich auch gerne zurückgeben. Aber ich muss jetzt los. Ich habe versprochen, heute Abend noch ein bisschen in der Bücherstube zu arbeiten. Wir sind doch in den letzten Zügen beim Aufbauen der Regale. Bald geht`s ans Einräumen. Das wird noch viel Tragearbeit, wenn wir die bei unseren Lesern ausgelagerten Bücher wieder zurückholen müssen", jammerte Carolin, die vom Ausräumen der Bücher im Frühjahr immer noch einen schmerzenden Ellenbogen hatte.  

    „Soll ich euch helfen? Ich hab immer noch viel Kraft und Ausdauer!, sagte der alte Mann und betonte vor allem das Wort „Ausdauer in zweideutiger Weise.  

    „Danke, das ist lieb gemeint, doch die Turner der Seniorengruppe vom Turnverein haben sich wieder bereit erklärt zu helfen. Sollten wir dennoch deine Hilfe benötigen, werde ich auf dein Angebot gerne zurückkommen. Kümmere du dich lieber um deine kranke Frau", konnte sich Carolin nicht verkneifen zu sagen.  

    „Ja, ja, das mach ich doch sowieso ständig. Keine Sorge", grummelte Johann und Carolin hörte deutlich, dass es ihm langsam zuwider war, sich um seine kränkliche Frau kümmern zu müssen. Aber da musste er durch. Wenn man eine zehn Jahre ältere Frau heiratet, kann man im Normalfall davon ausgehen, dass sie vor einem stirbt.  

    „Ich geh dann mal, Johann. Ich wünsch dir trotzdem noch einen schönen Abend und grüß mir die Maria von mir, ja?" 

    „Mach ich, liebe Carolin, mach ich. Dir auch noch einen schönen Abend und schaff nicht mehr so lange. Genieß lieber den lauen Abend auf deiner Terrasse bei einem schönen Glas Wein und denk an mich", sagte Johann und wollte Carolin zum Abschied umarmen. Das hatte er bisher noch nie getan und so wich Carolin geschickt aus, indem sie sich nach ihrer Tasche bückte.  

    „Tschüss, Johann", warf ihm Carolin über die Schulter zu und machte, dass sie fort kam. So langsam wurde der Bauer wirklich zu aufdringlich. Wo sie sich hier oben auf diesem tollen Außenhof doch so wohl fühlte. Sie hatte sich mit dem Ehepaar angefreundet und wollte dadurch ein bisschen mehr über das Landleben und das Leben eines Bauern im Besonderen erfahren. Schon seit einiger Zeit liebäugelte Carolin damit, selbst auf einen Hof zu ziehen und eine kleine Landwirtschaft aufzubauen. Zwar nicht wie Johann und Maria mit Milchwirtschaft, sondern eher mit den anderen beiden Zweigen, die es hier noch gab: Mit Eiern und Schafzucht. Das konnte sie sich auch ganz gut vorstellen. Ihre Schwester lachte sie zwar aus, denn Carmen hatte es nicht so sehr mit Landwirtschaft und Gartenarbeit, aber auf einem Hof mit tollem Ausblick zu wohnen, konnte sie sich schon vorstellen. Dass Johann ein Auge auf sie geworfen hatte, hatte sie Carmen gegenüber nur mal am Rande erwähnt und es als Schwärmerei eines alten Mannes abgetan. Dass mehr dahinter stecken könnte, konnte niemand ahnen.  

    Kaum war Carolin vom Hof, lief Johann eilig ins Haus. Magisch zog es ihn zu seinem Computer, den seine Frau langsam aber sicher zu verfluchen begann, denn jede freie Minute schien ihr Gemahl vor dieser blöden Kiste zu hocken. Wenn er im Internet surfte, vergaß er die Welt um sich herum und es passierte immer öfter, dass er die Rufe seiner Frau gar nicht mehr wahrnahm. Zurzeit fesselte ihn eine neue Facebook-Seite, über die er in einer Zeitschrift seiner Frau (war es die mit den unzähligen Diätvorschlägen, aber den tollen Rezepten?) zufällig gelesen hatte: Couch-Surfing. Das hörte sich total spannend an und konnte seinem eintönigen Leben neuen Aufwind verschaffen. Dazu hatte er sich zunächst bei Facebook unter einem erfundenen Namen und falschen Daten angemeldet, um mehr über diese Seite zu erfahren. Man konnte sich dort anmelden und eine Übernachtungsmöglichkeit für Touristen und sogar Stadtführungen anbieten. Johann war sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte sich dann doch mit seinem richtigen Namen dort registrieren lassen. Nun bot er über die Couch-Surfing-Seite eine Übernachtung nicht nur auf einem Sofa, sondern in einem eigenen Gästezimmer. Des Weiteren eine Führung durch Ottenbach, sowie auf dem Glaubens- und dem Franziskusweg, an. Nun musste er nur noch warten, ob sich irgendein Tourist für sein Angebot interessieren würde. Insgeheim hoffte er natürlich, dass es eine attraktive Frau wäre, damit er auf seine alten Tage hin noch ein wenig Spaß haben konnte.  

    Am nächsten Tag war es aber schon wieder vorbei mit den sommerlichen Temperaturen. Bereits den ganzen Juni hindurch herrschte im „Tal der Liebe" dieses unbeständige Aprilwetter, das den Menschen in dem kleinen Ort so langsam auf die Nerven ging. Nur den Pflasterern kam dieses für den Juni viel zu kühle Wetter sehr gelegen. Denn zum Verlegen der Grauwacke-Quader, die nun rund ums neue Ottenbacher Rathaus gelegt werden sollten, durfte es nicht wärmer als zwanzig Grad sein. Durch den meist heftigen Wind hielten sich auch die Regenwolken nie lange und so konnten die ausschließlich ausländischen Arbeiter, nur durch kurze Regenschauer unterbrochen, zügig in ihrer Arbeit vorankommen. Immer wieder blieben neugierige Passanten stehen, um den routiniert arbeitenden Männern zuzuschauen, wie sie Stein um Stein zuerst sorgfältig begutachteten, bevor sie dann die circa zehn mal zehn Zentimeter großen Quader mit der schönsten und ebensten Seite nach oben verlegten. Unermüdlich ließen sie dabei ihren Hammer niedersausen und man konnte förmlich zusehen, wie das bogenförmige Muster entstand und die Pflasterflächen größer und größer wurden.  

    Besonders oft sah man Carmen Lechner in der Nähe der Arbeiter. Die Fünfzigjährige war nun schon seit Wochen mit ihrer Zwillingsschwester Carolin mit dem Umzug der Bibliothek beschäftigt, doch Carmen konnte es jeden Tag kaum mehr erwarten, endlich wieder mit dieser Arbeit weiterzumachen. Denn immer wenn sie eine Pause brauchte, zog es sie hinaus zum Dorfplatz und sie setzte sich mit einem Kaffee gegenüber auf die gerade ebenfalls im Bau befindlichen neuen Stufen, die bald zur Raiffeisenbank hinaufführen sollten. Von hier aus beobachtete sie die braungebrannten Männer bei ihrer eintönigen Arbeit. Obwohl die Pflasterungen recht flott vorangingen, würde es wohl noch ein paar Wochen dauern, bis die Kunden über diese neue Treppe auch in die neu gestalteten Räume der nebenan liegenden Raiffeisenbank gehen konnten.  

    Einer dieser Männer schaute immer wieder zu ihr herüber. Obwohl die Frau bereits graue Haare hatte, die ihr bis über die Schultern hingen, sah sie noch sehr attraktiv aus. Trotz ihrer schlabberigen und angestaubten Arbeitskleidung und den etwas zerzausten Haaren konnte der polnische Arbeiter erkennen, dass sie durchtrainiert war. Während er weiter Stein um Stein aneinanderreihte, brachte ihn die Nähe dieser tollen Frau immer mehr aus dem Konzept. Er wurde abgelenkt und klopfte sich mit seinem Hammer auf die Finger. Ihm entfuhr dabei kein Schmerzensschrei, aber von der Frau hörte er ein entsetztes Zischen. Es hörte sich an, als hätte sie die Schmerzen. Er lächelte sie kurz achselzuckend an, bevor er hastig weiterarbeitete. Sein Vorgesetzter hatte ihm bereits einen tadelnden Blick zugeworfen und der Pole, der auf den Namen Kamil Rodzinsky hörte, durfte sich keine weiteren Fehler erlauben. Er brauchte diesen Job dringend und außerdem hatte er hier in Ottenbach noch etwas äußerst Wichtiges zu erledigen. So zwang er sich, nicht mehr zu der flotten Grauhaarigen hinüberzuschauen. 

    Was will diese Frau nur von mir? 

    Diese Frage stellte ich mir immer wieder, während ich versuchte, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Gerade heute hatte ich das Gefühl, dass ihre Blicke immer intensiver wurden, oder bildete ich mir das nur ein? In meinen Tagträumen begann ich mir vorzustellen, wie sie sich wohl anfühlte, wie sie roch und wie sie schmeckte. 

    Nein

    Ich durfte mich nicht weiter ablenken lassen! Mein Vorarbeiter hatte mich schon auf dem Kieker und ich musste höllisch aufpassen, dass ich mir nicht wieder auf die Finger schlug – zumal das wirklich nicht gerade angenehm war! Aber diese Frau machte mich echt nervös. Was konnte ich tun, damit sie nicht mehr jeden Tag hier in meiner Nähe herumlungerte? Mein Deutsch war beschissen und mein Englisch auch nicht besser. Wie konnte ich ihr klar machen, dass sie mich in Ruhe meine Arbeit machen lassen sollte?  

    Verdammt!  

    Jetzt kam sie auch noch näher! Wo war mein Chef? Hastig sah ich mich nach ihm um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Trotzdem gab ich vor, konzentriert zu arbeiten und sie gar nicht zu bemerken.  

    „Hallo", sagte sie mit dunkler Stimme, die irgendwie schüchtern klang.  

    „Hallo", gab ich zurück und riskierte nur einen kurzen Blick in große rehbraune Augen. Mist

    „Toll, wie akkurat sie alle hier arbeiten", sagte die Frau und kam noch ein Stückchen näher. Ich konnte den Sinn der Worte nicht ganz verstehen, aber ihr bewundernder Blick sollte wohl meiner Arbeit gelten. Zum Glück hatte sie nichts über mich gesagt. 

    „Ja – gute Arbeit", erwiderte ich nur und gab vor, konzentriert weiterzumachen, doch die nächsten Quader lagen plötzlich schief und krumm in ihrem Sandbett. Scheiße! Wenn das mein Boss sah, würde er durchdrehen. Schnell holte ich die Dinger wieder heraus und versuchte es erneut. Mein Gott! Wie sollte ich mich konzentrieren, wenn diese tolle Frau so dicht neben mir stand? Wie konnte ich sie wieder loswerden?  

    Doch diese Entscheidung wurde mir augenblicklich abgenommen, als der Vorarbeiter um die Ecke kam und sich drohend vor mir aufbaute: 

    „Was ist hier los, Kamil? Was macht diese Frau hier?" 

    „Entschuldigung! Diese Frau heißt Carmen Lechner und ich bin schon weg, stammelte sie. „Ich wollte wirklich nicht stören, aber ich bin so begeistert von Ihrer Arbeit. Wir konnten uns das vorher gar nicht so schön vorstellen. Wirklich erstklassige Arbeit, setzte sie noch schmeichelnd hinzu, was den Unmut meines Bosses etwas zügelte. Carmen hieß sie also … 

    „Danke, aber nun lassen Sie bitte den Mann weiterarbeiten, sonst werden wir nie fertig", gab mein Boss nun doch freundlicher zurück. Es war mir eine Genugtuung, dass auch er sich dem Charme dieser Frau nicht ganz entziehen konnte.  

    „Schon gut, schon gut. Ich geh ja schon und … einen schönen Abend noch!", rief Carmen über die Schulter und zwinkerte mir doch glatt verschwörerisch zu. Sie wusste, dass mein Chef dies aus seiner Position heraus nicht sehen konnte. Aber … was hatte das zu bedeuten? Was wollte sie von mir? 

    Carmen kam trotzdem fast jeden Tag bei uns vorbei. Geschickt wartete sie ab, bis mein Vorgesetzter außer Sichtweite war, bevor sie sich mir näherte. Langsam fing ich an, mich an sie zu gewöhnen und ertappte mich bald dabei, wie ich begann, auf sie zu warten. Wir redeten nicht viel und beschränkten uns darauf, uns gegenseitig anzuschauen und uns einfach am Anblick des anderen zu erfreuen. Was irgendwie seltsam war, denn was konnte sie schon an mir finden? Ich war verdreckt, verschwitzt, unrasiert und ungekämmt und ich konnte mich nicht mit ihr unterhalten! Sie jedoch war wirklich klasse und ihr Geruch war betörend … 

    „Wann hast du heute Feierabend, Kamil?", fragte sie plötzlich eines Abends und setzte sich neben mich auf die bereits fertigen Stufen am Rathaus.  

    „Feierabend?, fragte ich dümmlich. „Was bedeuten das? 

    „Wann du aufhörst zu arbeiten … äh … wann du frei hast?", versuchte sie zu erklären und lächelte mich dabei schüchtern an. 

    „Oh … ja … wir aufhören, wenn dunkel wird." 

    „Och, so spät erst? Wann fangt ihr morgens denn an?", fragte sie ein bisschen geschockt und ich fragte mich, warum. Ihre Nähe machte mich zusehends nervöser und ich musste höllisch auf meine Finger aufpassen.  

    „Wenn hell wird", sagte ich und das schien sie nun wirklich aus der Fassung zu bringen.  

    „Das ist ja Sklaventreiberei, was hier betrieben wird!", schimpfte sie und erschreckte mich mit ihrer plötzlich sehr lauten Stimme. Ich wusste nicht, was dieses komische Wort bedeuten sollte, doch ihr Ärger musste wohl mit unserer langen Arbeitszeit zusammenhängen.  

    „Pssst, zischte ich. „Meine Boss! 

    „Oh … sorry, aber da habt ihr ja einen Siebzehn-Stunden-Tag! Das kann man doch nicht machen!", entrüstete sie sich wieder und ich musste erst mal nachrechnen, ob das stimmte. Doch – das kam so ungefähr hin. Wie konnte ich ihr erklären, dass wir Saisonarbeiter waren und unser Geld in nur ein paar Monaten verdienen mussten? 

    „Echt schade, dann können wir uns ja gar nicht mal auf ein Bierchen treffen, oder?", fragte sie mit traurigem Blick und ließ den Kopf hängen. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um ihr nicht unters Kinn zu fassen und ihren Kopf wieder anzuheben.  

    Was? Sie wollte sich mit mir treffen? Aber warum denn nur? 

    „Sorry, aber ich abends immer sehr müde", murmelte ich und war erstaunt, dass auch meine Stimme einen bedauernden Unterton hatte. Wollte ich denn überhaupt mit ihr auf ein Bier gehen? 

    „Das verstehe ich … voll und ganz! Aber trotzdem ist es schade, finden Sie nicht?", fragte sie mit einem koketten Augenaufschlag, der mich etwas aus der Fassung brachte. Oder sollte ich doch mal mitgehen? Schlafen konnte man, wenn man tot war. Und ich war noch nicht tot – im Gegenteil! Ich hatte mich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt. Warum also nicht? Mit neuem Mut suchte ich nach den richtigen Worten.  

    „Morgen Boss ist nicht da. Mache früher Ende", fing ich zaghaft an, doch Carmen strahlte bereits übers ganze Gesicht.  

    „Super! Ich hole Sie ab und dann machen wir einen Spaziergang zum Buchs!", rief sie begeistert, doch als sie mein verständnisloses Gesicht sah, lachte sie und erklärte: 

    „Der Buchs ist ein Landgasthof … also … äh … ich meine, ein Restaurant, wo man was trinken und essen kann. Sie verstehen?" 

    „Ja, ich verstehe. Dann morgen Abend – ich warten, aber ich haben keine gute Anzug, warf ich verlegen ein, doch Carmen winkte nur ab: „Brauchen Sie auch nicht. Geht auch in der Jogginghose … Bis morgen dann – ich freu mich!, rief sie noch und war vor dem Erscheinen meines Chefs um die Ecke verschwunden.

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