Die Stimme des Elfen: Zähmung einer frechen Zwergin
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Über dieses E-Book
Lula Song Astaller
Ich liebe lesen, ich liebe schreiben. Mehr gibt es über mich fast nicht zu wissen. Das klingt langweilig? Nö! Bedenke man einmal, an wie viele wundersame Orte ich durch die Ideen anderer Autoren reisen darf und den Schabernack den ich anstellen kann, wenn ich selbst zur digitalen Feder greife.
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Die Stimme des Elfen - Lula Song Astaller
Waven
Kapitel 1
E
r war verrückt geworden. Das konnte gar nicht anders sein. Waven war überzeugt, dass jetzt die Welt untergehen würde. Denn Vater war mit Sicherheit das letzte Wesen auf dieser Erde, das es im Kopf kriegen würde. Waven rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und hielt dem Blick ihres alten Herrn stand, der sie mit seinen steingrauen Augen ernst ansah. Sie wünschte sich, er würde nun in gewohnter Manier auf seine Schenkel klopfen und ihr mit seinem grollenden Lachen erklären, dass er soeben einen derben Scherz gemacht hatte. Aber der sture Zwerg tat nichts dergleichen.
Er wartete.
Ließ sie seine Worte abwägen. Sein mächtiger Silberbart zuckte, wenn er den Mund in allen möglichen Varianten zusammenkniff. Ein Zeichen, dass Vater so schnell kein Wort mehr sagen würde. Waven war am Zug.
Sie sog ganz langsam die Luft durch die Nase ein, bis ihre Lunge nichts mehr davon aufnehmen konnte und drehte den Kopf zu ihrem Bruder Aguliv, der rechts von ihr saß und nicht minder verdrossen dreinschaute.
„Das war deine Idee gewesen, nicht wahr?" fragte sie ihn und bemühte sich ihre Worte nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen.
Aguliv zuckte mit der Schulter und Reue stand in seinen braunen Augen.
„Ich war einfach nur der erste, der diesen Gedanken ausgesprochen hat. Danach… kam eines zum anderen. Ich bin selbst überrascht, dass Vater mir keine reingeschlagen hat, als ich damit rausrückte."
„Darf ich dir eine reinschlagen?" seufzte Waven.
„Wenn du dich dadurch besser fühlst." Aguliv zog die Lippen auseinander, dass seine Grübchen zu sehen waren.
Normalerweise verleitete sie dieses Lächeln dazu es zu erwidern, doch heute knirschte sie lediglich mit den Zähnen.
„Waven. Die tiefe eindringliche Stimme ihres Vaters brachte sie dazu ihn wieder anzusehen. „Ich kann mich nur wiederholen: Die Front hat sich verschoben. Die Truppen werden sich nicht mehr lange halten. Karumbatukul war in seinem Schreiben ziemlich deutlich.
„Und du bist dir sicher, dass Onkel nicht wieder maßlos übertreibt? Woher wissen wir, dass er nicht die letzten Nächte durchgesoffen und dir im Delirium geschrieben hat?"
„Onkel Karumbatukul verträgt zu viel, als das ihm das jemals passieren würde wandte Aguliv spottend ein. Dann stand er auf und strich sich seine langen Zöpfe aus dem Gesicht. Telina musste sie ihm am Morgen neu geflochten haben, denn sie sahen tadellos aus. „Ich wünschte, ich könnte selbst gehen, Waven. Ich hasse es, dir das aufbürden zu müssen. Ich hasse es, so unnütz zu sein.
„Sag solche Sachen nicht! Waven sprang auf und legte ihrem Bruder die Hand auf die Wange. „Du beschämst mich damit mehr, als wenn du mich splitternackt an den Haaren zu den Roten Elfen schleifen würdest.
Sie boxte ihn gegen seinen linken Schulterstumpf, der mit einem Lederriemen fest umwunden war. Genau auf die Stelle, an der eigentlich ein Arm hätte sein sollen. „Du bist nicht unnütz. Schon gar nicht für mich." Wavens Unterlippe bebte während sie sprach und sie sah Aguliv an, dass er sich beherrschte sie wegen ihrer Tränen nicht anzublaffen. Er konnte sie nicht weinen sehen. Genauso wie sie es ganz krank machte, wenn er von sich wie von einem halben, unvollständigen Menschen sprach. Er ließ seine Stirn unsanft gegen ihre prallen und Waven schloss bei dem Schmerz die Augen.
„Der Krieg hat uns erreicht, Waven. Wir können das nicht mehr länger leugnen sagte er leise. „Die Truppen brauchen Verstärkung oder die Berge sind verloren. Das müssen selbst diese blasierten Elfen einsehen.
Waven zog so schnell ihren Kopf weg, dass Aguliv ins Wanken kam und fuhr zu ihrem Vater herum, der immer noch in stoischer Ruhe auf seinem Hocker thronte.
„Die werden mir nicht zuhören. Sie hören niemandem zu. Seit Jahrhunderten nicht. Warum sollte sich das ändern, nur weil ich auftauche?"
„Weil du eine Priesterin des Höchsten bist", antwortete der Zwerg.
„Ach, komm schon! Als ob nicht unzählige Priester an ihren Grenzen aufgetaucht sind und versucht haben, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie haben ihre Abschottung nicht einmal aufgehoben als die Territorien ihrer Brüder und Schwestern im Süden in Gefahr gerieten. Lubifayen ist so gut wie zerstört. Es hat diese roten Affen nicht gejuckt. Waven bemerkte, dass sie keifte und klappte den Mund zu. Sie fand es furchtbar wenn sie laut wurde. „Ich bin einfach nur irgendeine Priesterin
, fügte sie gemäßigter hinzu.
Der Mann ihr gegenüber erhob sich und schritt in seiner gewichtigen Weise auf sie zu.
„Du bist mehr als das, dröhnte er und Waven wusste, dass er versuchte sanft zu sprechen und es aufgrund seiner Beschaffenheit nicht vermochte. „Du bist meine Tochter. Du bist Waven Silberbart. Du kannst mehr vollbringen als andere.
Er streckte die Arme nach oben und legte sie auf ihre Schultern. Sein Kopf reichte ihr gerade einmal bis zur Brust und trotzdem kam er ihr in diesem Moment so viel größer vor. „Ich bin Xulumbur, einer der letzten grauen Zwerge. Meine Kinder sind keine gewöhnlichen Sterblichen. Das sage ich dir seit du eine Waffe tragen kannst. Ich dachte, dass hättest du mittlerweile verinnerlicht. Er klopfte Waven unsanft gegen das Kinn. „Und du…
Er wandte sich drohend an den noch größeren Aguliv, der sofort den Kopf einzog. „Ich bin mit deiner Schwester einer Meinung. Wenn du noch einmal von dir wie von einem unwürdigen Hänfling sprichst, werde ich dich wie einer zusammenfalten. Verstanden?"
Aguliv kratzte sich mit gesenktem Gesicht im Nacken und seine Zähne blitzten kurz auf, als er ein unangebrachtes Grinsen versteckte.
„Verstanden, Vater."
„Gut. Xulumbur wandte sich erneut an Waven. „Hilf Telina mit dem Mittagessen. Bis heute Abend solltest du eine Entscheidung getroffen haben.
Er wickelte sich gedankenverloren eine ihrer schwarzen Haarsträhnen um die kräftigen Finger. „Es gibt etwas, was die wenigsten über die Roten Elfen wissen. Wie alle ihrer Rasse haben sie ein starkes Ehrgefühl und sie können nicht lügen. Aber sie tragen gemischtes Blut in sich. Sie haben mehr mit den Normannenvölkern aus den Eiszeiten gemein, als mit den Hochelfen aus Lubifayen. Deswegen haben sie ihre Magie verloren. Sie sind Jäger. Kämpfer. Keine gedichtrezitierenden Schönlinge mit dem Hang alles kompliziert zu machen."
„Du meinst, sie sind mehr so wie du." Waven musste schmunzeln.
„Du wirst sie verstehen. Ihr Vater tätschelte ihre Wange ohne auf ihre Stichelei einzugehen. „Und sie werden dich verstehen.
Damit ließ er sie in Ruhe. Er hatte alles gesagt, was ihm auf dem Herzen lag. Das war für ihn vorerst genug.
Als sich die junge Frau umwandte, sah sie, dass sich ihr Bruder längst verkrümelt hatte, der schlaue Fuchs. Also ging sie ins Freie, um beim Essen mit anzupacken. Telina bemerkte sie sofort und wedelte mit ihrem selbstgeschnitzten Kochlöffel in ihre Richtung.
„Du wirst du den Roten Elfen gehen?" Ihre grauen Augen funkelten angriffslustig, dass es beinahe darüber hinweg täuschte, dass die Kleine erst zehn Jahre alt war. Doch genauso wie Waven, hatte das Mädchen nicht viel Zeit gehabt um ein Kind zu sein.
„Du hast gelauscht." Waven verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe einfach gute Ohren. Telina zuckte mit den Achseln. „Und schleichen kann ich besser als jeder andere.
Das war ihre Art, der Anschuldigung zuzustimmen.
Ihre schwarzen Zöpfe schwangen hin und her und kamen dem Feuer gefährlich nahe, als sie sich über den Topf beugte. Viele Leute hielten sie und Waven für leibliche Schwestern. Bis auf die Augenfarbe sahen sie sich wirklich sehr ähnlich.
„Schneide Gemüse. Ich habe den ganzen Morgen nicht umsonst Kartoffeln ausgebuddelt", kommandierte ihr kleiner Zwilling sie herum.
„Ja, oh, meine Gebieterin, sagte Waven im näselnden Ton. „Du hast übrigens eine Spinne im Haar.
„Wo?" kreischte Telina auf und drehte sich wie verrückt um die eigene Achse. Sie hatte nicht vor vielen Dingen Angst, aber die kleinen sechsbeinigen Krabbelviecher versetzten sie in Panik.
„Schon gut, war doch nur…", weiter kam Waven nicht, da ihr Telina den Kochlöffel an den Schädel knallte.
„Du wirst heute nur rohes Gemüse kauen, du Biest!" Telina war den Tränen nahe und Waven bereute ihre Fopperei sofort.
„Es tut mir leid. Ich werde das nie wieder tun. Ich weiß ja, wie sehr du Spinnen…"
„Sag mal, bist du total doof? Ich weine doch nicht wegen deinem blöden Streich!" Telina langte nach dem Hackmesser und Waven duckte sich weg. Die rabiate Köchin hatte eine Menge Arsenal an ihrer Feuerstelle. Doch sie warf nichts mehr nach ihr. Stattdessen wischte sie sich über die Augen und sah mit einem Mal nur noch müde und elend aus.
„Wenn du gehst und nicht mehr zurückkommst, werde ich unter den Jungs und Vater alleine bleiben. Niemand versteht mich so wie du."
Ihre Worte gaben Waven einen tiefen Stich ins Herz. Es kam äußerst selten vor, dass sich Telina so verletzlich gab. Sie machte einen Schritt auf ihre Schwester zu.
„Wenn ich nicht gehe, dann werden die Berge fallen. Das meint zumindest Onkel Karumbatukul." Waven erschrak. Jetzt hörte sie sich schon so an, als hätte sie längst eine Entscheidung getroffen.
„Aber wenn die Roten Elfen helfen wollten, hätten sie es dann nicht schon längst getan?" schniefte Telina und warf endlich das Hackmesser von sich.
„Womöglich gehen sie davon aus, dass ihnen, wo immer sie sich verbergen, nichts passieren kann", meinte Waven.
„Vielleicht ist das ja auch so." Die Kleine schob die Unterlippe vor. Eine Geste, die Waven selbst gerne machte, wenn sie unsicher war.
„Vielleicht ist das so", gab Waven zu und zupfte ein paar Perlen in Telinas Frisur zurecht. Genauso wie die Jungen trug sie unzählige, fingerdicke Zöpfe, die mit Goldfäden und kleinen runden Edelsteinen durchwoben waren. Vater Xulumbur war kein armer Mann und er hatte seinen Kindern beigebracht, den Reichtum stets am Körper zu tragen, um zu jeder Zeit zahlungskräftig zu sein. Nicht, dass es in der Abgeschiedenheit ihres Daseins nötig wäre. Was sie brauchten gab ihnen die Natur.
Telina zog nervös an ihrem Lederwams und wand sich unter Wavens Blick. Nun gab es keinen Zweifel darüber, dass sie im Grunde noch ein zartes Kind war.
„Die Räuber kommen. Hilf mir, dass sie mich nicht so verheult sehen", bat sie mit kratziger Stimme.
Keinen Moment später schlüpften zwei zerzauste Gestalten aus dem Unterholz. Telina hatte wirklich sehr gute Ohren, da sie die Jungen hören konnte, die sehr gut verstanden sich lautlos durch den Wald zu bewegen. Waven schob ihre kleine Schwester hinter ihren Rücken, damit diese sich das Gesicht abwischen konnte und winkte ihren Brüdern zu. Sie hatten Beute gemacht und schienen auf den ersten Blick unverletzt. Waven atmete erleichtert aus. Der größere von beiden, der hellblonde Simsin, nahm seinem Begleiter dessen Last ab und steuerte sofort auf das Haus zu. Rakas, ein zäher Bursche mit dunkelbrauner Mähne und schwarzen Augen schnappte sich die Jagdwaffen, um sie umgehend zu säubern. Die beiden waren ein eingespieltes Duo.
Waven setzte sich auf den kleinen Holzschemel neben dem Feuer und begann die Kartoffeln zu schälen. Weit kam sie allerdings nicht, denn ein Gepolter aus der Wohnstube ließ sie aufschrecken und keine drei Herzschläge später, stürmte Simsin heraus und auf sie zu. Er warf seine Fingerhandschuhe im Laufen von sich und sein jugendliches Gesicht war vor Zorn verzogen. Ohne abzubremsen rammte er Waven, sodass sie vom Schemel fiel und unsanft auf dem Rücken landete. Simsin stemmte sich auf ihren Bauch und hieb ihr mit der Faust gegen das Schlüsselbein. Dann fuchtelte er mit seiner rechten Hand vor ihrem Gesicht herum und formte mit seinen Lippen lautlose Worte.
„Du gehst nicht! Dass lasse ich nicht zu", vermittelte er Waven mit seinen Gebärden.
Waven ertrug die schmerzhafte Tortur regungslos und wartete, bis Simsin sich beruhigt hatte und sie anklagend niederstarrte.
„Aguliv ist eine Klatschbase", knurrte sie und schob das Knie ihres Bruders von ihrem Bauch, weil er ihr damit den Magen punktierte.
„Du bist nicht dafür verantwortlich die Fehler anderer auszubügeln. Wenn du gehst wird das rein gar nichts bewirken. Das beendet den Krieg auch nicht. Es wird nur eine Sache passieren: Du wirst hier fehlen. Uns wird dieser Verlust treffen. Uns allein. Und wieder wird es niemanden kümmern." Simsin fletschte die Zähne. In seinen himmelblauen Iriden tobte ein Sturm, den er immer entfesselte, wenn er sich in etwas hineinsteigerte. Da der Junge nicht sprechen konnte, kommunizierte er größtenteils mit den Augen. Die Hände nutzte er nur, wenn es nicht anders ging.
Ein starker Arm legte sich um den Hals des 14 Jährigen und zog ihn mühelos von Waven herunter. Aguliv fixierte ihn in seiner Armbeuge und ruckte lässig mit dem Kinn zu seiner älteren Schwester.
„Wenn du sie plattdrückst ist auch keinem geholfen."
Simsin rammte ihm den Stiefel gegen das Schienbein, aber Aguliv hatte damit gerechnet und wich geschickt aus. Während sich die Jungen in eine Keilerei verstrickten, half Telina Waven auf die Beine.
„Siehst du, was ich meine?", schnappte sie. „Die Hohlpfosten muss ich bändigen, wenn du nicht mehr da bist."
Waven warf einen kurzen Blick zu Rakas hinüber, der das blutige Raufen seiner Brüder verfolgte und dabei in beängstigender Schnelligkeit weiter die Klinge seiner Wurfaxt schärfte ohne hinzusehen. Sie fragte sich einmal mehr, ob Vater es nicht doch ein klein wenig bereute, dass er sie alle aufgenommen hatte. Mit Sicherheit konnte niemand im ganzen Land so eine wilde Brut vorweisen wie die Familie Silberbart.
Waven kickte gegen den Schemel damit er wieder auf seinen drei Beinchen stand und setzte sich erneut. Sie startete einen weiteren Versuch die Kartoffeln von den Schalen zu befreien während ein faustgroßer Stein an ihrem Kopf vorbei flog.
„Wenn ihr beide meinen Eintopf trefft, werdet ihr bis zum nächsten Morgen hungrig bleiben, das verspreche ich euch!" rief Telina zu den Streithammeln hinüber und langte wieder nach dem Hackbeil.
Das schwere Schnaufen in Wavens Rücken ging in ein empörtes Grunzen über und da Rakas endlich auf seine Finger schaute, während er den Schleifstein bediente, war der brüderliche Zwist wohl vorbei.
Waven verzog den Mund. Also wirklich! Sie alle hatten keinerlei Erziehung vorzuweisen. Keine, welche Elfen beeindrucken würde. In ihrem Gebaren erinnerten sie einfach zu sehr an die Tugenden der Zwerge. Lösten Konflikte mit den Fäusten, konnten saufen wie die Löcher und handelten erst, bevor sie Fragen stellten.
Nein, Vater bereute sicherlich nichts! Er hatte ganze Arbeit geleistet und er war stolz darauf.
Vorsichtig strich Waven über den purpurfarbenen Stoff ihrer Kutte. Sie hatte sie schon lange nicht mehr getragen. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wann das letzte Mal gewesen war. Die Kluft aus weicher Wolle befand sich wahrscheinlich deshalb in tadellosem Zustand. Trotzdem klopfte Waven das Kleidungsstück aus und zog prüfend an den Kordeln.
Man sollte meinen, dass in Kriegszeiten viel öfter nach einer Priesterin verlangt werden würde. Doch die Dörfer am Fuße der Berge waren verlassen. Es gab keinen Grund zum Feiern von Festen, um den Segen des Allmächtigen zu erbitten. Keine Taufen, keine Hochzeiten, keine Einweihungen. Beerdigungen, ja. Aber gestorben wurde dieser Tage auf dem Schlachtfeld oder irgendwo in der Einsamkeit während der Flucht vor den Taskjarn.
Es klopfte an der Zimmertür.
„Waven?" Rakas steckte den Kopf durch den Spalt.
„Ja?"
Der Junge huschte in ihre Kammer und schloss sofort die Tür. Er hatte sich die Haare gewaschen, denn sie hingen ihm patschnass bis über den unteren Rücken und tropften den Fußboden voll.
„Hast du kein Handtuch?" fragte Waven und brachte ihre Kutte vor dem triefenden Kerl in Sicherheit.
„Ich wollte schneller sein als die anderen und bin vom Fluss weg, ehe die ein Bein aus der Hose hatten."
Waven gluckste.
„Komm her!" Sie versuchte nach einem ihrer Handtücher greifen, doch ihr jüngster Bruder interpretierte die Aufforderung auf seine Art. Er trat auf Waven zu und schmiegte sich in ihre Arme. Sie ließ einen erstickten Laut hören und erzitterte kurz unter der nasskalten Berührung. Rakas dunkles Haar tränkte wunderbar ihre Leinenbluse und sie spürte wie Rinnsale in ihren Nacken liefen. Trotzdem erwiderte sie die Umarmung ohne Zurückhaltung.
Rakas mochte von all ihren Geschwistern am wildesten aussehen, schließlich hatte er diese kohlschwarzen Augen, die einem Angst einjagen konnten und viele Narben zeichneten sein Gesicht und die Unterarme. Doch er hatte mit Abstand das sanfteste Gemüt in der Familie. Waven küsste ihn auf den Scheitel. Bald würde sie das nicht mehr ohne weiteres tun können. Der Junge wuchs in einer Geschwindigkeit als wollte er einen Rekord aufstellen.
„Alles in Ordnung?"
„Sag du es mir", nuschelte Rakas und krallte sich fester in ihre Bluse.
„Wir haben beim Essen nicht darüber gesprochen, aber natürlich mache ich mir ununterbrochen Gedanken seit Vater mir von Karumbatukuls Brief erzählt hat."
„Und du hast deine Kutte herausgeholt, weil du jetzt weißt, was du tun willst?"
„Nein. Ich… hatte nur gehofft, sie zu betrachten würde irgendetwas in mir auslösen. Etwas bewirken. Waven linste zum Bett auf dem sie ihre traditionelle Kleidung abgelegt hatte. „Einen Tritt in den Arsch, oder so etwas.
„Den kann Vater dir auch geben."
„Wahrscheinlich wird er das sogar."
Rakas lachte und ließ sie los. Sein Blick flackerte ein wenig tiefer und er verzog den Mund.
„Wehe, du sagst den anderen, dass ich zwischen deinen Brüsten eingequetscht war."
Waven sah an sich herunter. Na wunderbar. Der Leinenstoff klebte feucht an ihren Rundungen und ihre Brustwarzen waren zu sehen. Sie schnippte Rakas mit den Fingern gegen die Stirn, was ihn aufjaulen ließ.
„Keiner hat dich darum gebeten. Am allerwenigsten ich. Dreh dich um!"
Der Junge gehorchte und Waven riss eilig ein neues Kleidungsstück aus ihrer Truhe. Dann warf sie ihrem Bruder ein Handtuch zu.
„Leg dich trocken, du erkältest dich sonst."
„Machst du mir die Zöpfe? Ich habe alles hier." Er fingerte in der hinteren Hosentasche herum und beförderte seine Perlen und die Goldbänder ans Licht.
Waven stopfte sich das neue Hemd in den Bund ihrer Hose und nickte ergeben. Die Jungen hielten während des Tages eigentlich nur still, wenn man ihnen in den Haaren herumfummelte. Zweifellos ein Gehabe, dass sie sich bei Vater abgeschaut haben mussten. Der schnurrte sogar noch dabei oder summte leise zwergische Lieder. Ihre Geschwister bei dieser Art Pflege zu beobachten erinnerte Waven immer an die Horden der hier heimischen Maringien. Sie waren flinke Tiere die in den Baumwipfeln lebten und sich stundenlang gegenseitig Ungeziefer aus dem fuchsfarbenen Fell puhlten. Sie stärkten damit ihre Bande.
Waven schnaubte leise. Vielleicht war es tatsächlich egal wie lächerlich ähnlich ihr Tun dem Gemeinschaftsritual der Maringien kam, solange es auch dafür stand, dass sie einander vertrauten. Sie waren keine natürliche Familie. Vater Xulumbur hatte nicht einmal ein Eheweib. Er war zu keinem Zeitpunkt seines Lebens verheiratet gewesen. Waven musste lächeln. Dabei wäre in seinem großen Herzen reichlich Platz für eine Frau gewesen.
„Was ist so lustig?" wollte Rakas wissen, der sich vor Waven auf dem Boden niederließ, damit sie ihm die Zöpfe flechten konnte.
„Ich musste nur gerade daran denken, was für ein sonderbarer Haufen wir Silberbarts sind."
„Uns gibt es kein zweites Mal", behauptete ihr Bruder stolz und hatte mehr als Recht damit.
Waven begann seine dunkelbraunen Wellen zu entwirren und in Sektionen abzuteilen. Rakas hatte sogar auf der Kopfhaut Narben. Sie waren Zeuge dessen, warum Xulumbur ihn als Kleinkind zu sich geholt hatte. Jede von ihnen erzählte die Leidensgeschichte eines verwahrlosten Jungen, der in einem Wanderzirkus nur als lästiges Anhängsel hatte existieren dürften und mit den Schautieren um Essensreste kämpfen musste. Alle ihre Geschwister hatten ähnliche Schicksale vorzuweisen. Aguliv war bis zu seinem siebten Lebensjahr Sklave eines Korallenhändlers an der Bucht von Ohrant gewesen. Er wurde wertlos für seinen Herrn nachdem er seinen linken Arm in einer Schleppwinde eingequetscht hatte. Simsin kam aus gutem Hause, doch er war als Erstgeborener eine Schande für die Familie, weil er es sich erdreistet hatte ohne Stimme aus dem Schoß seiner Mutter zu rutschen. Von Telina behauptete Xulumbur stets, er hätte sie aufgefangen als sie von einem schäbigen Fuhrwagen gekullert war und niemand sich nach dem schreienden kleinen Bündel umgedreht hatte. Mit dieser simplen Erklärung verheimlichte er mit Sicherheit eine Menge.
Waven bemerkt, dass Rakas ihr das Gesicht zugedreht hatte.
„Bramkhorkirbul! fluchte er auf alte Zwergenweise. „Du stehst heute wirklich neben dir, Schwester.
„Wenigstens heute solltest du mir zugestehen meinen Kopf verlieren zu dürfen", maulte sie und rückte sein Kinn wieder nach vorn, damit sie weiter seine Haare flechten konnte.
Eine Weile arbeitete sie schweigend und ließ sich von Rakas immer wieder Edelsteine oder Golddraht reichen. Irgendwann tastete der Junge nach ihrer Hand und drückte sie kurz.
„Für mich ist die Sache eigentlich klar. Natürlich wirst du dich zu den Roten Elfen aufmachen. Im Grunde weiß das längst jeder von uns. Es traut sich nur keiner es auszusprechen. Er lehnte sich zurück und sah Waven in die Augen. „Also tue ich es. Bin ich damit der Tapferste von uns allen?
Er zog frech die Lippen auseinander.
„Mit Abstand." Waven strich ihm sanft über die Stirn.
Rakas schloss die Augen und ein tiefer Seufzer hob seine Brust.
„Wir könnten dich bestimmt ein Stück des Wegs begleiten. Soweit es eben geht. Ich denke nicht, das Vater etwas dagegen hat."
„Das wäre mir lieb", gestand Waven leise und ihre Stimme hörte sich dünn an. Spiegelte ihre Unsicherheit wieder.
Bramkhorkirbul! Der Kleine lag richtig mit seiner Vermutung. Schon als Waven ihre Kutte aus der Versenkung geholt hatte, war ihre Entscheidung gefallen. Hoffentlich blieben ihre Gedankengänge nicht so dermaßen lahm, sollte es ihr gelingen einen der mysteriösen Roten Elfen aus seinem Versteck zu locken.
Waven bedauerte es, dass sie sich von der Müllerin und Herrn Phist nicht mehr hatte verabschieden können. Die beiden verkörperten wohl das, was der Bezeichnung Großeltern am nächsten kam. Die kleine Mühle am Ausläufer des Forks, jenes Bergabschnitts den Xulumbur als sein Gebiet bezeichnete, war ein Fleckchen auf dieser Erde, der