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Tochter des Metalls
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eBook277 Seiten3 Stunden

Tochter des Metalls

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Über dieses E-Book

Die Töchter der Elemente - Die große Serie von A. L. Knorr 

Ibby arbeitet als Archäologin in einem Museumsarchiv in London. Ihre Arbeit wirkt recht monoton. Nur ihr fürchterlicher Boss sorgt gelegentlich für Aufregung. Darum kann Ibby es kaum glauben, als sie im Museum ein nirgendwo registriertes Artefakt entdeckt. Ein Artefakt, das sich nicht nur nirgendwo einordnen lässt, sondern das Ibby auch seltsame Kräfte verleiht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. März 2024
ISBN9786192691486
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    Buchvorschau

    Tochter des Metalls - A.L. Knorr

    1

    Ich überprüfte das Statussymbol neben Onkel Irshads lächelndem Gesicht.

    Grau: inaktiv.

    Ich stieß einen lang gezogenen Seufzer aus und sank zurück in meinen Lieblingssessel, wobei sich meine Finger um eine Tasse mit Tee schlossen.

    Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten, sagte ich mir, aber ich hasste diese Worte, sobald ich sie ausgesprochen hatte.

    Für Onkel Irshad Bashir - wie für so viele andere im Sudan - konnte keine Nachricht genauso gut etwas wirklich Schreckliches bedeuten. Milizen, Hungersnöte und Seuchen hatten so vielen Menschen in der Heimat meiner Eltern mehr genommen, als man sich vorstellen konnte. Obwohl Onkel Iry bei unseren Gesprächen immer lächelte, konnte auch er nicht so tun, als ob die Dinge nicht schlimm wären. Das war schließlich der Grund, warum meine Eltern weggegangen waren.

    Je älter ich wurde, desto mehr bewunderte ich die Tapferkeit meiner Eltern. Den Sudan und alles, was sie kannten, zu verlassen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihr ungeborenes Kind (meine Wenigkeit), erforderte eine Menge Glauben und Mut.

    Ich starrte das Symbol an, kniff die Augen zusammen und forderte ihn telepathisch auf, online zu gehen. Das graue Symbol blieb unverändert und rebellierte. Genervt gab ich auf. Ich sah auf die Uhr - 01:20 Uhr - und stöhnte.

    Der morgige Tag wird die reinste Hölle werden.

    Ich hätte schon vor Stunden ins Bett gehen sollen, aber ich wusste, ich würde nicht gut schlafen, solange nicht klar war, dass es Onkel Iry gut ging. Ich wagte nicht zu hoffen, dass er den Job bekommen hatte, aber vielleicht lag das daran, dass ich versuchte, nicht an die Arbeit zu denken. Mein Blick wanderte durch meine winzige Wohnung zu der Stelle, an der meine Arbeitsjacke an einem Haken neben meinem Bett hing. Mein lächelndes Gesicht grinste von dem Ausweis, der am Revers befestigt war.

    Bashir, Ibukun

    Katalogisierung

    Britisches Museum

    Ein besseres Leben für dich, Ibby, hatte meine Mutter eines Abends gesagt. "Ein besseres Leben, in dem du ohne Angst vor bösen Männern mit Gewehren aufwachsen kannst."

    "Du kennst Adrian Shelton nicht, Umm, murmelte ich, wobei ich das arabische Wort für Mama verwendete. Es gibt Zeiten, in denen ich lieber bösen Männern mit Pistolen gegenüberstehen würde."

    Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber mit meinem Vorgesetzten war nicht zu spaßen. Adrian Shelton war ein furchtbar anspruchsvoller und kritischer Mann. Es schien ihm eine besondere Freude zu sein, alles, was ich tat, genau unter die Lupe zu nehmen. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Ich brauchte das mickrige Gehalt, außerdem war das Praktikum meine beste Chance, nach dem Studium einen richtigen Job zu bekommen. Meine ganze Zukunft hing davon ab, Dr. Shelton glücklich zu machen. Dabei bezweifelte ich, dass der Mann überhaupt wusste, wie man glücklich war.

    Noch wichtiger als meine Zukunft war das Leben meines Onkels, das von meinem Erfolg abhing. Jeder Tag, den er im Sudan blieb, war ein weiterer Tag, an dem sein Leben in Gefahr war. Ich brauchte Geld, um diesem Risiko ein Ende zu setzen. Geld, das ich verdienen könnte, wenn ich endlich einen gut bezahlten Job bekäme, idealerweise (wenn ich zu träumen wagte) beim Museum für Naturgeschichte.

    Ich unterdrückte einen weiteren traurigen Seufzer und stand mit meiner inzwischen kalten Tasse Tee auf. Ich hüpfte über einen Stapel gefalteter Wäsche zur Arbeitsplatte, die meine gesamte Küchenzeile ausmachte, schaltete den Wasserkocher ein und starrte auf das blaue Licht, als das Gerät zu rumpeln und zu zischen begann.

    Wie Reifen auf nassen Straßen. Wie in jener Nacht.

    Der Gedanke traf mich bis ins Mark, sodass ich reflexartig die Arme um meine Brust schlang. Es war fast neun Monate her, dass ein Lastwagen an einer nassen Straßenecke zu schnell gefahren war und meine Eltern in ein frühes Grab geschickt hatte.

    Sie waren ausgegangen, um den neuen Job meiner Mutter als Krankenschwester zu feiern, genau den Beruf, den sie jahrelang im Sudan ausgeübt hatte, bevor sie nach London kam. Es hatte fast zwei Jahrzehnte gedauert, aber jetzt hätte sie endlich wieder den Beruf ausüben können, für den sie geboren war.

    Mein Vater hatte gewusst, dass meine Mutter mir die Nachricht selbst überbringen wollte, aber als ich an diesem Abend anrief, konnte er nicht anders.

    Es war aus ihm herausgeplatzt: Sie hat es geschafft, Ibby! Sie hat den Job!, rief er, bevor ich überhaupt ein Wort gesagt hatte.

    Er hatte sich sofort danach bei meiner Mutter entschuldigt und ihr das Handy übergeben, aber sie war zu glücklich, um sich von seinem Ausbruch die Stimmung verderben zu lassen. Mein Vater war wie mein Onkel, der immer lächelte und viel lachte, ein Mann, der sein großes Herz auf der Zunge trug. Mutter war sanfter, ruhiger, aber irgendwie auch stärker als er gewesen. Ja, Ibby, hatte sie mit ihrer tiefen, sanften Stimme gesagt. Ich bin wieder eine Krankenschwester.

    Das war eines der letzten Dinge, die meine Mutter je zu mir sagte. Das und ihre Pläne, meinen Onkel Iry mit dem Geld aus dem neuen Job nach Großbritannien zu holen.

    Jetzt war ich Onkel Irys einzige Hoffnung.

    Ich umklammerte meinen Oberkörper noch immer und warf einen Blick auf den Laptop-Bildschirm. Meine müden Augen glitten über das Statussymbol, aber als es aufblinkte, wurde ich munter.

    Grün: aktiv.

    Den Tee und den Wasserkocher vergessend, sprang ich über die Wäsche und wich einem abgelegten Paar Schuhe aus, während ich mich auf den Laptop stürzte. Mit der einen Hand klemmte ich das Headset ein, während ich mit der anderen die Maus bediente. Onkel Iry musste für jede Minute, die er in einem kleinen Internetcafé online war, bezahlen, also war jede Sekunde kostbar.

    Die Statusleiste zeigte an, dass eine Verbindung hergestellt wurde, und ich führte einen kleinen Freudentanz auf.

    Ein paar Sekunden später öffnete sich ein Fenster. Alles, was ich sah, war seine dunkle, kahle Kopfhaut unter einer Zimmerdecke mit abblätterndem Putz und grellen Leuchtstoffröhren.

    Ibby? Bist du da? Die tiefe Stimme meines Onkels drang durch das Headset.

    "Versuch, die Kamera nach unten zu richten, A'am", schlug ich vor. Mein Onkel hatte darum gebeten, dass wir uns immer auf Englisch unterhielten, damit er üben konnte, aber ich konnte mir nicht verkneifen, hier und da ein wenig Arabisch einzuschmuggeln.

    Die Ansicht im Chat-Fenster verschob sich, verpixelte sich und nun sah ich Irshads gut aussehendes Gesicht mit dem gepflegten Bart und den bronzenen Augen unserer Familie. Als der Bildschirm schärfer wurde, runzelte er konzentriert die Stirn. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie hohl seine Wangen waren und wie sich die Falten um seinen Mund und seine Augen vertieften. Das alles verschwand, als er dieses riesige Grinsen aufsetzte. Mein Herz schmerzte. Er erinnerte mich so sehr an meinen Vater.

    Jeder Tag mehr fordert seinen Preis.

    Was macht ein braves Mädchen wie du zu einer Zeit wie dieser? Er klang ernst, aber er konnte sein Lächeln nicht unterdrücken.

    Ich konnte nicht schlafen, log ich und versuchte, mir nicht die brennenden Augen zu reiben. "Ich hatte gehofft, du würdest auftauchen. Es ist schon fast eine Woche her, A'am-mi."

    Die Miene meines Onkels wurde zerknirscht, und er nickte. Es tut mir leid, Ibby, ich hätte mich früher melden sollen. Die Dinge waren ... schwierig.

    Ich ballte meine Faust und schlug mir die Knöchel auf den Oberschenkel, weil ich mich schämte, ihm Vorwürfe zu machen. Onkel Iry lebte nicht nur in einer der unruhigsten Regionen des Sudan, sondern musste auch viele Kilometer laufen, um ins Internetcafé zu kommen. Er hatte nur am späten Abend Zeit, weil er entweder auf der Suche nach Arbeit war oder die Arbeit erledigte, die er finden konnte. Auch wenn er es nicht sagte, wusste ich, dass er erschöpft war.

    Nein, es tut mir leid, es ist nur ... Ich biss mir auf die Lippe, kämpfte um Worte und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Das Letzte, was mein Onkel gebrauchen konnte, war, seine kostbaren Minuten damit zu verbringen, mir beim Weinen zuzusehen. Davon hatte er schon genug ertragen müssen, als meine Eltern gestorben waren.

    Aber ich habe gute Nachrichten, Ibby! Sehr gute Nachrichten!

    Onkel Iry, der mich sogar aus einer Entfernung von Tausenden von Kilometern tröstete.

    Ich zwang mich, meine Stimme zu beruhigen. Wirklich? Spuck schon aus. Weißt du nicht, wie spät es schon ist?

    Er gluckste, sein Lächeln wurde wieder breiter. Ein Unternehmen expandiert und braucht Bauarbeiter. Ihr Vorarbeiter suchte nach Männern mit Schweißerfahrung, also habe ich Arbeit für die nächsten paar Monate. Möglicherweise auch länger!

    Das war keine gute, sondern eine großartige Nachricht. Mein Onkel und mein Vater hatten früher als Automechaniker in einer Werkstatt in Nyala gearbeitet. Als mein Vater den Wunsch äußerte, mit seiner hochschwangeren Frau nach Großbritannien zu gehen, hatte mein Onkel die wenigen Ersparnisse, die er besaß, dazu verwendet, dies zu ermöglichen. Kurz darauf hatten ihn die Gewalt und die anschwellende Flut von Vertriebenen aus Nyala zurück in ihr Heimatdorf im Buschland getrieben. Es hatte Jahre gedauert, bis die Brüder nach dem Chaos wieder zueinanderfanden, und beide hatten kaum genug zum Leben zusammenkratzen können. Seit Jahren schlug sich Onkel Iry mit jeder Arbeit durch, die er annehmen konnte. Eine Arbeit wie diese, qualifiziert und mit der Aussicht auf eine längere Tätigkeit, war sehr selten.

    Aber irgendetwas erregte meine Aufmerksamkeit, und ich spürte, wie sich in meinem Bauch ein Gefühl des Misstrauens regte.

    A'am, du sagtest Unternehmen. Aber welche Firma? Was produzieren die?

    Onkel Irys Lächeln wurde ein wenig schwächer, und er wedelte mit einem Finger über den Bildschirm. Also, Ibby, denk dran, nur Englisch.

    Er hielt mich hin. Mein Magen verknotete sich. Onkel ...

    Das Lächeln verwandelte sich in ein verlegenes Grinsen, das mich vielleicht überzeugt hätte, wenn ich nicht geahnt hätte, was jetzt kam.

    Greater Nile Petrol. Wir erweitern einige der Ölfelder.

    Der Knoten wurde zu einem Gewicht, das mir den Boden unter dem Bauch wegzog. Greater Nile ...! Oh, Iry, nein. Ich sank tief in meinen Stuhl.

    Ibby, das ist immer noch eine gute Nachricht. Es wird sicher sein, das verspreche ich.

    Iry war immer ein ehrlicher Mann, aber in diesem Moment log er. Die GNP war nicht nur für ihre erbarmungslosen Arbeitsbedingungen berüchtigt, sondern auch ein beliebtes Ziel für jede bewaffnete Gangsterbande, die sich in der Gegend herumtrieb. Er konnte mir nicht versprechen, dass er sicher sein würde, denn die Ölfelder im Sudan gehörten zu den gefährlichsten Orten, an denen er sich aufhalten konnte.

    Diesmal konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, die mir in die Augen stiegen.

    Ich weiß, dass es beängstigend ist, Ibby, aber wenn ich weitermache, bin ich meiner Familie bald ein großes Stück näher.

    Er meinte mich. Das brutale Leben im Sudan hatte uns alles genommen. Auch unsere Verwandten.

    Ich versuchte, die Gedanken, die Schuldgefühle und die Wünsche zu verdrängen, aber sie kamen wie eine Flut über mich. Es war ungerecht. Es war grausam, und ich war machtlos.

    Nichts, was ich sagen konnte, nichts, was ich tun konnte, würde ihn von diesen Ölfeldern fernhalten, denn nichts war für uns beide so wichtig wie unser Zusammensein.

    Weinen würde nicht helfen. Ich musste stark sein, egal was passierte. Ich wischte meine Tränen weg und versuchte, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. Und schon bald wirst du eine kostenlose Führung durch das Naturkundemuseum von deiner Nichte, die bald dort arbeiten wird, bekommen.

    Die letzten Worte blieben mir fast im Hals stecken, aber ich zwang sie heraus, ein leuchtendes Versprechen, für dessen Einhaltung ich alles tun würde.

    Das strahlende Lächeln von Onkel Iry war es wert. Ich kann diesen Tag kaum erwarten, Ibby. Sag mal, wie läuft denn das Praktikum?

    2

    Das Wecksignal surrte wütend neben meinem Ohr. Ich schlug unbeholfen nach meinem Handy und warf es dabei auf den Boden, wo das Summen zu einem Rauschen wurde.

    Halb stöhnend, halb knurrend warf ich mich über den Rand meiner Matratze, um das fiese Ding zu greifen. Meine schlaftrunkenen Finger fummelten an der Schlummertaste herum, während ich mit einem trüben Auge auf den Bildschirm starrte. Das Wecksignal verstummte, als das Display mein träges Hirn auf Trab brachte.

    7:30 Uhr.

    Ich war spät dran. Viel zu spät.

    Ich hatte nicht darauf geachtet, wann ich das Gespräch mit Onkel Iry beendet hatte, aber es war viel später als sonst gewesen. Wegen seines neuen Jobs bei Greater Nile saß das Geld etwas lockerer bei ihm, und wie hätte ich ihn da abwimmeln können? Als wir uns schließlich verabschiedeten, hatte ich es gerade noch geschafft, das Headset abzunehmen, bevor ich auf meiner Matratze zusammensackte.

    Ich setzte mich auf, rieb mir das Gesicht und zwang mein schlaftrunkenes Gehirn, zu arbeiten. Gab es noch eine Möglichkeit, pünktlich zur Arbeit zu kommen?

    An einem guten Tag war ich um 6:40 Uhr vor der Tür und erreichte Mile End um 7, wo ich die Linie bis Tottenham Court Road nehmen konnte. Damit war ich um 7:40 Uhr im Museum. Früh genug, selbst für einen elenden Wichtigtuer wie Shelton.

    An einem Tag, an dem ich etwas knapper dran war, würde ich nach Stepney Green laufen, mit der Hammersmith & City Line zur Liverpool Street fahren, die Central nach Holborn nehmen und dann wie verrückt rennen. So hatte ich die Chance, durch die Hintertüren zu kommen, wo Eddy, der Portier, mich heimlich hineinließ. Ich schlich mich rein und ging in die Katalogisierung, bevor Shelton kam und mich ausschimpfte. Wenn er seine Schnabelnase in den Sortierraum steckte, begrüßte ich ihn mit einem fröhlichen Guten Morgen, und er schlich davon, um jemand anderen zu kritisieren.

    Doch heute war ich viel zu spät dran.

    Meine Hände glitten von meinem Gesicht zu meinen Schläfen, wo ein fieser Schmerz pochte, der von meiner Kopfhaut bis irgendwo hinter meine Augen lief.

    Ich würde zu spät kommen. Shelton würde mit mir meckern, die ganze Zeit mit diesem Schimmer abscheulicher Freude in seinen Augen. Es gab keinen Ausweg.

    Nach einem weiteren Stöhnen machte ich mich fertig und war froh, dass ich meine Haare am Vorabend bereits zu Zöpfen geflochten hatte. Ich brachte den Wasserkocher zum Kochen und nahm eine Dusche, die zu schnell war, um warm oder entspannend zu sein, bevor ich meinen Kaffee aufbrühte. Das Gute an der Arbeit in der Katalogisierung war, dass die Wahl meiner Garderobe einfach war. Eine dunkle Hose, ein dezentes Oberteil und eine schlichte Uniformjacke, an deren Revers ein Ausweis hing.

    Ich schnappte mir meine Tasche und meinen Kaffee und machte mir nicht die Mühe, mich im Spiegel zu betrachten. Shelton würde meinen Anblick einfach ertragen müssen.

    Auf dem Weg nach Mile End tauchte ich in die unaufhörlich laute und geschäftige Welt der Londoner U-Bahn ein. Die Geräuschkulisse des ärmeren Viertels im Osten Londons bestand aus einem Mischmasch aus jahrhundertealter Cockney-Mundart, Hindi-Dialekten und einer Vielzahl anderer Sprachen. Es war die Hintergrundmusik meines gesamten Lebens. Meine Eltern hatten sich nie daran gewöhnen können, aber ich war eine geborene Londonerin. Das Summen der U-Bahn war wie eine alte Wolldecke. An manchen Stellen kratzig, aber doch vertraut.

    Ich ließ mich in diese Decke fallen, als ich ein Lehrbuch aus meiner Tasche holte. Die Pendler um mich herum schrieben SMS, lasen, hörten Musik. Ich blätterte in meinem Buch und las einen Bericht darüber, wie Metallgegenstände einem aufmerksamen Archäologen nicht nur verraten konnten, wann etwas hergestellt wurde, sondern auch wo, bis hin zu dem Hügel oder Felsen, aus dem es abgebaut wurde. Dies wiederum verriet viel über die Menschen, die es hergestellt hatten, ihre Vorgehensweise und ihren Platz in der Geschichte der Menschheit. Ein paar Spurenelemente hier, ein paar Untersuchungen dort, und ein einziger Gegenstand konnte unser Wissen über die Menschen, die vor Hunderten oder Tausenden von Jahren lebten, neu gestalten.

    Es war wie Magie, und ich liebte es.

    Das war der Grund, warum ich ein Praktikum im Museum machte, aber auch, warum ich frustriert war, dass man mich in die Katalogisierung versetzt hatte. Ich wollte Artefakte untersuchen, ihre Eigenschaften beurteilen, ihre Herkunft prüfen. Besonders Felsbrocken, Metalle und Steine faszinierten mich und je älter sie waren, desto besser.

    In der Katalogisierung sortierte ich Kartons und gab Zahlen in einen Computer ein. Das war eine staubtrockene Arbeit. Das Museum verfügte über eine riesige Auswahl an Antiquitäten, und die Exponate wurden ständig aus den Archiven auf den Boden und wieder zurückgebracht. Meine Abteilung hatte die Aufgabe, den Papierkram zu erledigen und dafür zu sorgen, dass nichts falsch abgelegt wurde oder verloren ging. Es war nicht so, dass die Arbeit keine Relevanz hatte. Schließlich wäre es tragisch, eine Kiste mit antiken Artefakten zu verlegen, aber es war die Art von Arbeit, die ein trainierter Affe erledigen konnte. Überprüfen Sie die Nummer auf Ihrem Bildschirm, überprüfen Sie die Nummer auf der Schachtel, überprüfen Sie das Siegel, stempeln Sie es ab. Wiederholen Sie diesen Vorgang.

    Ich hatte mich fast ein Jahr lang damit herumgeplagt, ohne die Artefakte jemals wirklich in die Hand nehmen zu können.

    Ich blickte von meinem Buch auf, verdrängte die düsteren Gedanken und sah, dass meine Haltestelle die nächste war. Ich schaute auf meinem Handy nach der Uhrzeit.

    8:22 Uhr

    Ich packte meine Sachen, straffte die Schultern und stieg in der Tottenham Court Road aus. Ich wollte Adrian Shelton mit erhobenem Haupt gegenübertreten.

    Diese Einstellung hielt an, bis ich den Sicherheitsschalter am Personaleingang erreichte. Tariq, einer der beiden dort stationierten Pförtner, warf mir einen mitleidigen Blick zu.

    Vorsichtig, Miss Ibby. Dr. Shelton ist auf der Jagd, und er ist hungrig.

    Meine Schultern sackten herab. Ich hielt mich nicht für einen Schwächling. Schließlich war ich im East End aufgewachsen, aber die Erschöpfung, gepaart mit der latenten Angst um Onkel Iry, forderten ihren Tribut. Shelton erschien mir plötzlich wie Goliath, und ich war beileibe kein David.

    Ein Hauch von Angst machte sich in mir breit, als ich mich in der Lobby umsah und mich Tariq zuwandte. Er fing meinen Blick auf und beugte sich vor.

    Weißt du vielleicht, wo er sich gerade herumtreibt?, murmelte ich.

    Tariq warf einen Seitenblick auf seinen Kollegen, einen Mann, den wir nur als McPhee kannten, der mit den Schultern zuckte und wieder auf seinen Monitor starrte. Tariq rückte etwas näher heran.

    Ich fragte mich unwillkürlich: Ist mein Kaffee-Atem so schlimm wie der des Pförtners?

    Er hat uns gebeten, ihn zu informieren, sobald du auftauchst, und ist dann in die Verwaltung gegangen, flüsterte er mir zu. Wahrscheinlich schärft er seine Eckzähne. Du weißt ja, wie sehr er Blut liebt, frisch aus der Halsschlagader.

    Ich kämpfte gegen den Drang an, in banger Erwartung in Richtung des linken Korridors zu starren. Meine Stimme erhob sich um eine Oktave. Wann war das?

    Tariq sah zu McPhee hinüber, der den Blick nicht von seinem Bildschirm abwandte, sondern hilfsbereit vier Finger hochhielt. Tariq nickte und verstand die Geste des schweigsamen Pförtners.

    Vor zwanzig Minuten.

    Ich zuckte zusammen. Er konnte inzwischen überall sein. Er könnte gleich um die Ecke kommen, neben dem Aufzug auf der Lauer liegen, in meiner Ecke kauern und zum Angriff übergehen. Ich begann, die Paranoia von Bürgern aus diktatorischen Ländern besser zu verstehen. In Momenten wie diesen war mein Leben voller Angst und Unsicherheit. Zum Glück musste ich nicht lange warten, bis der Stein ins Rollen geriet.

    McPhee stieß ein warnendes Grunzen aus. Er ist im Anflug.

    Tariq drehte

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