Der Weg nach Solareii: Edition Ovidia
Von Ana Bilic
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Über dieses E-Book
Arder, der in der Schokoladenfabrik "Budokai" in Wien als Prokurist angestellt ist, wird eines Tages zufällig gezwungen, sein Zuhause zu verlassen und sich auf eine ungewisse Reise zu begeben.
Alles gerät nämlich aus den Fugen, als Lisa, Arders Schwester, neugierig in Arders Zimmer herumschnüffelt und es schafft, sich in Herr Budokais Büro zu transportieren. Im Büro werden Herr Budokai und Arder gemeinsam mit Lisa – wegen eines Streites – weiter hinauskatapultiert: Arder und Lisa landen im Wald und Herr Budokai in der Wüste.
Währenddessen, im anderen Stadtteil von Wien, erlebt Matilo, der Barbesitzer, seinen eigenen klinischen Tod, verliert sein Gedächtnis und verlässt daraufhin sein Zuhause und seine Frau für immer. Bald findet sich Matilo in einer sonnigen aber hitzelosen Wüste wieder, wo er zum Wüstenstamm Zososa weitergeführt wird.
Alle – Arder, Lisa, Herr Budokai und Matilo – wollen ihren Weg nach Hause finden, aber der Weg führt sie ins Land namens Solareii. Unterwegs lernen sie ihre Vergangenheit kennen, die sie zu vergessen versuchen: Sie werden mit ihren Mordtaten, ihrer falschen Moral, ihrer Ignoranz gegenüber Mitmenschen und ihren tiefsitzenden Ängsten konfrontiert. Sie treffen sich zum Schluss am Ufer eines Sees mit grauer Spiegeloberfläche. Dort wird entschieden, wer und wie ein neues Leben anfangen kann. - Der Roman wird in der atemberaubenden Tradition der phantastischen Literatur von Boris Vian und Daniil Harms mitreißend erzählt.
Ana Bilic
ANA BILIC - I am a literary and theater writer, filmmaker and theater director, linguist. Born in Zagreb, Croatia, since 1995 I live and work in Vienna, Austria. My literary work includes novels, short stories and poems and my texts are also represented in numerous literary anthologies. I started writing literature in Croatian in the 1990s, but for more than twenty years I have been writing only in German. My books have been published by such publishing houses as Hoffmann und Campe Verlag Hamburg, Konzor Verlag Zagreb and Hollitzer Verlag Vienna. As a linguist, I am the author of works for learning Croatian as a foreign language: CROATIAN MADE EASY - https://www.kroatisch-leicht.com/croatian/ - as well as KROATISCH LEICHT - https://www.kroatisch-leicht.com. On these websites you can learn more about my published textbooks and reading books, mini-novels, e-books, audiobooks, interactive e-books and other media. More information about all my work - not only about literature and linguistics, but also about film and theater - can be found on https://www.ana-bilic.at
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Buchvorschau
Der Weg nach Solareii - Ana Bilic
DER ALLTAG
Arder war groß und hatte eine dünne, lange Nase. Auf seine Nase konnte er sich immer verlassen, wenn er betrunken war: Seine Nase erschnüffelte problemlos den Weg nach Hause. Und das war eine große Hilfe für ihn. Denn Arder verbrachte viel Zeit trinkend auswärts, allein, ohne Freunde.
Arder hatte auch eine Familie und einen Job, aber man kann Arbeitskollegen oder die Familie nicht als Freunde bezeichnen. Er konnte keine geistige Zufriedenheit und kein befriedigendes Verständnis bei Arbeitskollegen oder bei seiner Familie spüren. Und darin lag für ihn die betrunkene Freiheit: Hopp-hopp!, sagte er manchmal durch die Nase, wenn er betrunken war. Damit meinte er: Ich kann springen, wenn ich will – aber das tue ich nicht, weil ich frei bin, das nicht zu tun.
Gelegentlich sprach Arder mit einer Ameise, die ihm Gesellschaft leistete. Die Ameise war aus Glas und unheimlich groß – doppelt so groß wie Arder – und sie redete mit Arder ohne Worte zu benutzen. Arder trank gern mit der Ameise zusammen. Der Anblick einer großen, ruhigen und zerbrechlichen Ameise, die noch dazu trinkt, beruhigte Arder. Er war sonst nie aufgeregt oder gewalttätig – vielmehr ging es darum, dass Arder jemanden hatte, der von ihm nichts verlangte. Die alte Mutter zu Hause und seine kleine Schwester mit Linguine-Haaren waren für Arder so inhaltslos als Gesellschaft, dass er lieber in der Bar war als Zuhause. Das zuzugeben, war natürlich inakzeptabel.
Arders Schwester war sehr empfindsam und die Mutter anstrengend. Die kleine Schwester unterhielt sich noch dazu gern mit der Hauskatze. Offiziell war die kleine Schwester geistig zurückgeblieben, aber Arder glaubte so einer Diagnose nicht. Sie wollte immer etwas von ihm: Sie bat ihn, ihre Schnürsenkel für sie zu binden, ihre Suppe zu salzen, ihr Lächeln zu erwidern, ihren Schrank neu zu ordnen und Ähnliches. Und die Mutter leistete ihr immer Beistand: „Hilf deiner Schwester, dem armen Ding…"
Aber die kleine Schwester war unverschämt – sie wollte auch, dass Arder ihr die Bücher über Vulkane vorliest. Es lag eine Reihe über Vulkane im Haus herum und Arder hasste diese Bücher. Sie gehörten ihrem Vater, er war Geologe und beschäftigte sich mit Vulkanen. Die Bücher waren so fachlich geschrieben und in einer so kleinen Schrift, dass Arder es als eine Strafe betrachtete, wenn er sie lesen musste. Er konnte und wollte kein Wort verstehen und die kleine Schwester hatte immer Fragen. Am Anfang fand Arder immer eine Antwort auf ihre Fragen, aber später gingen ihm die Ideen aus. Bei jedem „Ich weiß nicht. begann die kleine Schwester mit ihren Zähnen zu knirschen, was Arder besonders auf die Nerven ging. Um dem entgegenzuwirken, sagte er ihr dann „Ich weiß nicht
in einer Fantasiesprache, und damit gab die kleine Schwester eine Zeit lang Ruhe.
Arder bemerkte später, dass die Wörter dieser Fantasiesprache für ihn sehr einfach auszudenken waren, weil ihm die Wörter wie „Sarda, „Ontra
, „Til-A" und Ähnliches so auf der Zunge lagen, dass er sich schließlich fragte, ob er die Sprache schon von früher kannte und irgendwann verlernt hatte. Nach einer Zeit begann die kleine Schwester auch darüber Fragen zu stellen. Diese konnte Arder nicht beantworten. Und so dachte sich Arder eine Lösung aus: Er stellte sich vor, dass es neben seiner Schwester beim Vorlesen auch andere Zuhörer gibt, die – im Gegensatz zu seiner Schwester – seinen Schmerz einsehen konnten.
Und tatsächlich: Mit der Zeit sah Arder im Zimmer der kleinen Schwester mollige Ungeziefer, durchsichtige Wolken, Menschen mit kleinen Köpfen, ein paar Planeten, seine Mutter als Kind und junge Schwimmerinnen in altmodischen Badeanzügen. Weder die kleine Schwester noch die alte Mutter konnten diese Erscheinungen sehen und womöglich darüber Fragen stellen.
DER FALL
Hinter der Theke stand ein dicker glatzköpfiger Mann und kratzte sich am Kopf: Er hatte drei Flaschen auf den Schank gestellt, und jetzt, sie waren nicht mehr da. Er kratzte sich tüchtig am Kopf. Er hatte nur den Staub von den teuren Cognacsorten abwischen wollen, er war der Theke nur eine Sekunde lang mit dem Rücken zugewandt, aber danach waren die Flaschen weg. Verschwunden. Ganz plötzlich.
Wie ist das möglich?
Der dicke glatzköpfige Mann hatte zwar im Augenwinkel bemerkt, eine Zehntelsekunde bevor er der Theke den Rücken gedreht hatte, dass die linke Seite der Bar keine Bar mehr war, sondern plötzlich eine Treppe auf einem Berghang – die Treppe aus Stein gebaut, primitiv, so wie sie ein Bauer früher machen würde, nützlich halt. Die Impression dauerte so kurz, dass er sich nicht mehr sicher war, ob er das Bild tatsächlich gesehen oder ob er es sich eingebildet hatte. Später fiel ihm ein, dass das Bild auch aus seinem Traum gewesen sein könnte.
Der dicke glatzköpfige Mann träumte nämlich viel. Manchmal hatte er vor dem Schlafengehen das klare Gefühl, als würde er wie ein Wandler in eine andere Welt gehen, um sie zu erforschen. Etwa so wie eine Aufgabe. Den möglichen versteckten Symbolismus der Träume gab er längst auf – die Traumdeutung war für ihn kompliziert und half ihm nicht weiter. Seine Natur war die Natur eines Sammlers – keine Natur eines Analytikers –, und irgendwie glaubte er, dass die Traumwelt die echte Welt war und als solche zu komplex zu verstehen. Die Welt seiner Bar und die Welt seiner Stammgäste, sein großes, langes und dunkles Haus im Anbau, welches mit Straßenlampen beleuchtet wurde, den Geruch der Teppiche, die er monatlich kaufte – all das war für ihn eher eine schlafende Welt als eine überzeugende Realität. Drinnen war er ein Schlafender, und wenn er ins Bett ging und schlief, wurde er in der Traumwelt der Erwachte. Aber jetzt – so in einer schlafenden Welt ein Bild aus vielleicht einem Traum zu sehen, das war verblüffend. Er konnte darüber nicht klar nachdenken.
Jetzt erschien die große Ameise aus Glas am Ende der Theke. Sie erschien immer, wenn Arder da war, aber jetzt war Arder nicht da, das Lokal war leer. Der dicke glatzköpfige Mann begrüßte die Ameise höflich, sagte ihr „Danke.", obschon er nicht wusste, wofür er sich bei ihr bedanken sollte. Er machte die Augen kurz zu. Warum – wusste er auch nicht. Als er die Augen aufmachte, war die ganze Bar weg. Die Ameise stand neben der Treppe, die auf den Berg hinaufführte, sie glänzte, als wäre sie aus Diamantenglas und der Berg sah wie ein Haufen Erde aus. Er machte die Augen zu und – die Theke war wieder da.
DIE SELTSAMEN
Arder ging manchmal in den Park. Für gewöhnlich nachts. Er konnte oft nicht schlafen und so müde und mit einer unergründlichen Schwere, die er in seinem Inneren schleppte, schritt er langsam Richtung Park. Diese Schwere war für seine Schlaflosigkeit verantwortlich. Sie lag in ihm wie ein ungeheurer Fisch, der dahinvegetierte. Wenn Arder Richtung Park ging, konnte er die Schwere in Form eines Riesenfisches im Inneren mit sich etwas leidlicher tragen.
Im Park genoss Arder Jahreszeiten. Das heißt: Er bemerkte nie, was für eine Jahreszeit zurzeit war – er wählte sich eine Jahreszeit aus und malte sich den Park in dieser Jahreszeit aus. Arder beschäftigte sich generell mit Informationen über die Welt und über seinen Job, nie über die Natur. Und im Park gab es keine Informationen. Nur die Ruhe. Er konnte machen, was er wollte. So wählte er sich eine Jahreszeit aus. Den Herbst mochte er besonders. Er stand in der Mitte des Parks, streckte die Handinnenfläche nach oben und wartete, dass das Laub von den Bäumen darauf fällt. Er roch den Duft der faulen Erde. So tankte er seine Lungen und fühlte sich lebendig.
Gelegentlich kam ein Viraviyan auf Arder zu. Die Viraviyans waren Burschen mit lockigem blondem Haar, mit dem Körper eines Adonis aber ohne Beine. Sie bewegten sich schwebend und leicht wie eine Brise.
Mit den Viraviyans war es eine seltsame Sache: Immer, wenn sie erschienen, erschienen zuerst die römischen Säulen, hinter denen sie sich versteckt hielten. Dann kamen Viraviyans zum Vorschein. Sie redeten nicht. Was Arder auch gefiel. Sie – er und die Viraviyans – spazierten durch den Park, nickten sich zu, hatten aber keine Lust sich besser kennen zu lernen. Das bizarre Loch im Boden vermieden aber sowohl Arder als auch die Viraviyans.
Ja, das Loch im Park ist immer für eine Überraschung gut, wenn man nächtliche Spaziergänge macht. Denn das Loch positioniert sich jede Nacht an einem anderen Ort im Park. Es ist nicht groß, aber groß genug, dass, wenn man hineinfällt, man ins Innere der Erde verschwindet