Kursbuch 217: Was wäre, wenn?
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Über dieses E-Book
So zeigt Alexandra Schauer, wie eine Analyse des Möglichkeitsinns, also des Denkens in anderen Möglichkeiten, zwischen einem "Alles-könnte-anders-Sein" und einem "Nichts-tun-Können" oszilliert. Sibylle Anderl zeigt an der Quantenphysik oder Stringtheorie, wie sehr die physikalische Beobachtung zunächst sich selbst im Blick hat, um überhaupt reflektieren zu können, worauf sich der Blick richtet und richten kann. Armin Nassehi wiederum diskutiert die Frage, welche unprüfbaren Kausalannahmen in allen Behauptungen beziehungsweise Diagnosen enthalten sind, die meinen, etwas über historische Verläufe sagen zu können, hätte sich ein bestimmtes Ereignis anders zugetragen.
In den Intermezzi fragen dann Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit, was auf dem afrikanischen Kontinent anders sein könnte, wenn ... . Auch die Bilder von Michel Kreuz haben eine afrikanische Perspektive und rufen nach Alternativen. Judith Kohlenberger stellt sich eine humane Flüchtlingspolitik vor, Andreas Knie verweist auf ein für die autogerechte Stadt wegweisendes Urteil von 1966, Simon Strauss plädiert für eine optimistische, oder besser: weniger pessimistische Form der Beobachtung möglicher Alternativen, und Olaf Unverzart stellt "Was wäre, wenn ..."-Fragen mit je einem Bild. Peter Felixberger hat schließlich in seinem FLXX acht Begriffe erschaffen, gewissermaßen alternative Begriffe, alles Komposita mit ungewöhnlichen Wortkombinationen, etwa Lernbesinger, Kannprophet, Mehrverorter oder Überunser.
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Buchvorschau
Kursbuch 217 - Armin Nassehi
Armin Nassehi
Editorial
Dies ist ein Kursbuch über alternative Fakten – aber nicht, was Sie denken. Es geht nicht darum, das Geschäft der Schwurbler zu übernehmen und sich die Dinge so zurechtzulegen, wie man es gerne hätte, nicht um fake news. Es geht nicht um den strategischen Einsatz der Unwahrheit, sondern um die Frage danach, ob die Dinge auch anders denkbar, und nicht nur anders denkbar, sondern auch anders sein können.
Es geht darum, ob es alternative Varianten der bekannten Wirklichkeit hätte geben können, wenn … Dieses »wenn« zielt auf die entscheidende Frage, die sich schon im Alltag oft stellt. Wer hat sich nicht schon gefragt, was gewesen wäre, hätte man diese Idee schon früher gehabt, hätte man jene Entscheidung anders getroffen oder wäre irgendein Zufall nicht eingetreten? Im Guten wie im Schlechten. Gerade im Schlechten neigt man dazu, zu glauben, dass alles gut geworden wäre, wären die Weichen anders gestellt worden.
Aber die Schwierigkeit fängt nicht erst bei den Alternativen an, sondern schon bei dem, was ist. Alles, was ist, kennen wir nur aus unserer eigenen Auffassung dessen, was ist. Anders gesagt: Unsere Wirklichkeitsauffassung ist vor allem eine Auffassung, ein Bild, eine Vorstellung. Schon sich selbst zu beschreiben, ist eine sehr selektive Form – die je nach Kontext oder Adressat sehr unterschiedlich, bisweilen sogar widersprüchlich ausfallen kann. Schon das, was ist, wäre anders möglich – in dem Sinne, dass es sich auch anders beschreiben und auffassen ließe.
Die Frage »Was wäre, wenn …?« lässt sich natürlich nicht eindeutig beantworten, denn sie enthält immer schon eine sehr begrenzte Perspektive auf die Wirklichkeit. Sie suggeriert, dass man über die Wirklichkeit genau weiß, warum sie so geworden ist, wie sie gerade erscheint. Die Frage »Was wäre, wenn …?« stellt auch die Frage, was überhaupt ist, oder besser, wie wir uns einen Reim darauf machen.
Die Frage führt letztlich den Beobachter in das Spiel ein: Sie verweist darauf, wie sehr unser Bild der Wirklichkeit nur ein Bild ist, das mit guten Gründen auch anders aussehen könnte. Gerne streiten wir uns darüber, was überhaupt der Fall ist – umso interessanter ist die Frage, wie die Dinge anders hätten sein können und ob es Alternativen zur bestehenden Welt gibt.
Die Beiträge dieses Kursbuchs kreisen alle um die Beobachtbarkeit der Welt und alternative Möglichkeiten. Keiner der Beiträge behauptet, zu wissen, was gewesen wäre, wenn … In allen Texten geht es vielmehr darum, was die Frage eigentlich bedeutet und wie sehr die Beobachtung von Alternativen von der Beobachtung von Alternativen abhängig ist.
So zeigt Alexandra Schauer, wie eine Analyse des Möglichkeitssinns, also des Denkens in anderen Möglichkeiten, zwischen einem »Alles-könnte-anders-Sein« und einem »Nichts-tun-Können« oszilliert – beide Seiten übrigens ihrerseits Möglichkeiten eines Beobachters. Auch Christian Kirchmeier arbeitet sich – am Beispiel von KI-Narrativen – an der Verbindung von Kontingenz und Realismus ab und fügt sie in einem »Kontingenzrealismus« zusammen, der die utopische Möglichkeit an ihrer realistischen Ermöglichung misst. Dass er von Narrativen spricht, verweist wiederum auf den Beobachter, der erst recht im Beitrag von Sibylle Anderl eine zentrale Rolle einnimmt. Sie zeigt an den Grenzbereichen der Beschreibbarkeit der Welt in der Physik – etwa an der Quantenphysik oder Stringtheorie –, wie sehr die physikalische Beobachtung zunächst sich selbst im Blick hat, um überhaupt reflektieren zu können, worauf sich der Blick richtet und richten kann. Mein eigener Beitrag diskutiert die Frage, welche unprüfbaren Kausalannahmen in allen Behauptungen beziehungsweise Diagnosen enthalten sind, die meinen, etwas über historische Verläufe sagen zu können, hätte sich ein bestimmtes Ereignis anders zugetragen. Auch hier geht es um nichts anderes als den Beobachter.
Mit Robert Jungks Bericht aus »Zukunftswerkstätten« – ein Kursbuch-Clässix-Beitrag aus dem Kursbuch 53 aus dem Jahre 1978, ein Text übrigens, den ich in meinem ersten Studiensemester im Wintersemester 1979/80 in einer erziehungswissenschaftlichen Veranstaltung gelesen habe – dokumentieren wir eine interessante Kontinuität. Seine Zukunftswerkstätten sollten alternative Entwicklungswege beschreiten – und haben auf einen besonderen Beobachter gesetzt, auf Betroffene nämlich, die eine »Befreiung von der ›Expertokratie‹« ermöglichen sollten, um damit zu besseren Alternativen zu kommen. Der Versuch und seine Begrenzung dauern an.
Für die Intermezzi haben wir unseren Autorinnen und Autoren die Grundfrage des Heftes gestellt. Sie sollten die Frage an einem Beispiel durchspielen. So fragen Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie, was auf dem afrikanischen Kontinent anders sein könnte, wenn … Auch die Bilder von Michel Kreuz haben eine afrikanische Perspektive – die Bilder rufen geradezu nach Alternativen. Sebastian Klein und Kai Viehof fordern zu einem neuen Wohlstandsbegriff auf. Judith Kohlenberger stellt sich eine humane Flüchtlingspolitik vor, Andreas Knie verweist auf ein für die autogerechte Stadt wegweisendes Urteil von 1966, Simon Strauß plädiert für eine optimistische, oder besser weniger pessimistische Form der Beobachtung möglicher Alternativen, und Olaf Unverzart stellt »Was wäre, wenn«-Fragen mit je einem Bild – und beginnt übrigens auch in Afrika.
Jan Schwochows Grafiken beschäftigen sich diesmal mit der Frage, unter welchen Bedingungen die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland unter Einhaltung ihrer demokratischen Verfahren nach der Wahl von autoritären Parteien nachhaltig Schaden nehmen kann. Die Grafiken zeigen das System der politischen Institutionen in Deutschland sowie ein Schema von Gesetzgebungsverfahren. Als neuralgischen Punkt identifiziert er die Änderungen der gesetzlichen Grundlagen des Bundesverfassungsgerichtes und empfiehlt hier Sicherungen durch die Einführung von Zweidrittelmehrheiten.
Berit Glanz legt in diesem Kursbuch ihr zehntes Islandtief vor, diesmal eine Reportage über die isländische Fischereiindustrie und über maritime Aquakulturen. Sie weist auf die schwierigen Zielkonflikte zwischen arbeitsplatzrelevanten ökonomischen Belangen, Fragen des Tier- und Artenschutzes und politischer Durchsetzbarkeit hin. Die Reportage beginnt mit einer Reise an die Westfjorde des Inselstaates.
Schließlich Peter Felixbergers FLXX Schlussleuchten. Peter hat acht Begriffe erschaffen, gewissermaßen alternative Begriffe, die auch möglich gewesen wären, alles Komposita mit ungewöhnlichen Wortkombinationen, etwa Lernbesinger, Kannprophet oder Überunser. Mein liebster davon ist der erste, Mehrverorter. Das sind Leute, die dasselbe je nach Kontext unterschiedlich bezeichnen und damit alternative Fakten schaffen, nicht in dem Sinne, dass sie lügen, sondern in dem Sinne, dass man auch ohne Lüge die Unwahrheit sagen kann – so würde ich es jedenfalls verstehen. Angekündigt hat Peter weitere Folgen – wir dürfen gespannt sein.
Jan Schwochow
Eine Quelle, zwei Grafiken
Was wäre, wenn zwei Drittel eine Diktatur zurückwollen?
Die politischen Entwicklungen bei unserem Nachbarn Polen oder auch die Lage in Ungarn zeigen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verwundbar sind. Was wäre, wenn es auch bei uns eine Mehrheit für Parteien gäbe, die unsere Demokratie in ein autoritäres Regime umbilden wollen? Dazu habe ich mir unser politisches System näher angesehen und zwei Grafiken erstellt, die das Problem näher erläutern. Das Organigramm auf der linken Seite stellt vereinfacht unser politisches System in Deutschland dar. Auf so kleinem Raum bin ich gezwungen, nur die wirklich relevanten Dinge unterzubringen. Gleichzeitig profitiert der Leser, weil er die Zusammenhänge so einfacher und schneller verstehen kann. In der Grafik auf der rechten Seite setze ich den Fokus auf die aktuellen Ereignisse und die Gesetzgebung. Unsere Demokratie ist so konstruiert, dass Gesetze mit einfachen Mehrheiten beschlossen werden. Änderungen an wichtigen Gesetzgebungen, wie dem Grundgesetz, benötigen eine Zweidrittelmehrheit. Die sogenannte Ewigkeitsklausel (Artikel 79) schützt uns vor einer Wiederholung der Geschichte. Mit dieser Regelung wollte man den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus (Ermächtigungsgesetz) begegnen und naturrechtliche Grundsätze in Form der Menschenwürde sowie der Strukturprinzipien in Artikel 20 (Republik, Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat) mit einer zusätzlichen Sicherung versehen. Dennoch ist gerade das Verfassungsgericht eine unserer Schwachstellen. Was wäre, wenn hier Richter von einer autoritären Regierung eingesetzt werden? Aufgrund des Erstarkens extremer Parteien prüft unsere Regierung gerade, inwieweit man mithilfe der CDU (Zweidrittelmehrheit!) das Bundesverfassungsgericht noch besser vor möglicher Einflussnahme schützen kann. Änderungen des Gesetzes zum Schutz des Verfassungsgerichts benötigen derzeit nur eine einfache Mehrheit. Wie krisenfest unser Rechtsstaat ist, hängt erheblich vom Grad der Unabhängigkeit der Justiz ab – denn sie sichert die Gewaltenteilung. Die rechte Grafik zeigt eindrucksvoll, dass die AfD bei den in diesem Jahr bevorstehenden Wahlen bereits in einigen Bundesländern die Macht übernehmen könnte. Natürlich reicht es noch nicht für Mehrheiten, die unsere Demokratie und Justiz gefährden können. Trotzdem sollten wir achtsam sein und auch die Meinungs- und Pressefreiheit noch besser schützen.
Olaf Unverzart
WasWäreWenn
die neue Welt Africa First wäre?
wir aus der Geschichte lernen?
jeder Glaube richtig sein darf?
der letzte Baum gerodet ist?
es mehr zählt zu sein als zu haben?
man Glück findet, indem man es nur aufheben muss?
Sibylle Anderl
Ist das wirklich möglich?
Eine Erkenntnisreise in fremde Welten
Bei allem Kummer, den uns alternative Fakten bereiten, bei aller Begeisterung für die nackten Tatsachen und all das, was uns konkret und unzweifelhaft vorliegt: Was wären wir und was wäre die Welt ohne unsere Fähigkeit zum kontrafaktischen Denken? Die Frage ist natürlich rhetorisch. Alles wäre arm, trist und unmenschlich. Wir hätten keine Vorstellungen, keine Imagination, keine Intuition, selbst unsere Wahrnehmungen könnten wir kaum organisieren ohne das Mögliche im Unterschied zum Tatsächlichen und Notwendigen. Die Frage »Was wäre, wenn …?« steht im Zentrum unserer Identität – so radikal kann man das formulieren.
Dass wir trotzdem Grenzen des Vorstellbaren begegnen, ist philosophisch eine anregende Beobachtung. Der weite Raum des Möglichen ist mit gewissen Randbedingungen konfrontiert, die in ihm verschiedene Bereiche unterscheiden. Als Erstes wäre da die Physik: Der Raum dessen, was physikalisch möglich