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Das Römerreich und seine Germanen: Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft
Das Römerreich und seine Germanen: Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft
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eBook978 Seiten11 Stunden

Das Römerreich und seine Germanen: Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft

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Über dieses E-Book

Wer waren die Germanen? Was war die Völkerwanderung? Was ist die europäische Kontinuität?
Die Geschichte des Römerreichs und seiner Germanen beendete die Völkerwanderung. Der römische Staat gab das Gewaltmonopol auf. Die Steuereinhebung wurde privatisiert. Das allgemeine justinianische Kaiserrecht galt zwar im byzantinischen Rom und Ravenna, aber nicht mehr im langobardischen Pavia und Mailand, noch weniger an Rhein und Donau und auf den britischen Inseln. Die Städte schrumpften, die Provinzialisierung nahm zu. Herwig Wolfram beschreibt in diesem Buch die Entstehung, die Dauer und die Wirkungsgeschichte der germanischen Königreiche, die das Erbe Roms antraten. Die Geschichte dieser Herrschaftsbildungen, ihr vermeintlicher Glanz und ihr tragischer Untergang, den bloß das Frankenreich vermeiden konnte, erregen bis heute unser Interesse.
Der Autor führt in Herkunft und Mythen, Leben und Wirken der Germanen ein, porträtiert ihre Stämme und erzählt die Geschichte der "Völkerwanderung". Eine grundlegende und kenntnisreiche Darstellung der Welt der Germanen, die zu einem tieferen Verständnis dieser Welt beiträgt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum14. Mai 2018
ISBN9783412511913
Das Römerreich und seine Germanen: Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft
Autor

Herwig Wolfram

Herwig Wolfram, geb. 1934, em. o. Professor der Geschichte des Mittelalters und der Historischen Hilfswissenschaften, Universität Wien, Direktor a. D. des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und korrespondierendes Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften, Träger des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst.

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    Buchvorschau

    Das Römerreich und seine Germanen - Herwig Wolfram

    I. Die Sprache der Erzählung

    1.

    Wie schreibt man heute ein Germanenbuch und warum immer noch eins ?

    Wer bei Google das Schlagwort »Germanen« eingibt, landet fast 3 Millionen Treffer; bei den »Goten« sind es gar über 7 Millionen. Ein zusätzliches Germanenbuch scheint daher nicht gerade ein besonders brennendes Desideratum zu sein. Außerdem gibt es die ausgezeichnete, keinen Wunsch offenlassende Darstellung des Gegenstands, die Walter Pohl im Rahmen der »Enzyklopädie Deutscher Geschichte« verfasste, »um die Voraussetzungen und Ansätze aufzusuchen, die in die im späteren, in engerem Sinn ›deutsche‹ Geschichte führen«.¹ Aber die Fülle der Neuerscheinungen gibt doch zu denken; offenkundig besteht eine große Nachfrage. Das gilt zwar nicht für Österreich, wo Bruno Kreisky im Jahre 1976 autoritativ die Kelten anstelle der Germanen als Vorfahren seiner Mitbürger bestimmte. Allerdings hätte es dafür nicht erst des Wortes des damaligen Bundeskanzlers bedurft, weil man in Österreich seit 1945 kaum noch Germanenbücher verkauft.² Aber auch in der Schweiz, wo das Keltische im Nationalzeichen CH = Confoederatio Helvetica bis heute offiziell fortlebt, dürfte man auf den »Germanen« eher sitzen bleiben. In Deutschland besteht jedoch unvermindert großer Bedarf, und man fragt sich warum. Die Antwort darauf könnte vielleicht lauten : Viele derjenigen Völker, die wir heute als Germanen bezeichnen, lebten auf dem Territorium der heutigen Bundesrepublik und bilden damit verbunden den Gegenstand von Meistererzählungen,³ von »alten herrlichen Geschichten«, deren Ursprünge in der Völkerwanderungszeit liegen.⁴ Antike Schriftsteller haben den Stoff aufbereitet, der von christlichen Autoren um die Völkergeschichten der Bibel angereichert und der Nachwelt weitergegeben wurde. Diese schuf aus der überkommenen und doch stets neu zu entdeckenden schriftlichen Tradition und den wenigen Trümmern der je eigenen mündlichen Überlieferung neue Identitäten abbildende und erhaltende »Mären«, wie es im Nibelungenlied heißt.⁵ Ein unbekannter Dichter der Stauferzeit sang das Lied als letzter einer langen Reihe, verrät aber auch die Kenntnis anderer Heldensagen und Heldendichtungen. Mitten im heutigen Niederösterreich betritt Kriemhild nach Überschreiten des Traisenflusses, eines rechten Zubringers der Donau unterhalb von Krems, das Hunnenreich. Nach einigen Tagen geleiten sie Etzels Krieger weiter nach Tulln. Im alten babenbergischen Zentralort am rechten Donauufer begrüßen die burgundische Königin nicht bloß Etzel (Attila), sein Bruder Bleda und sein treuester Dienstmann Dietrich von Bern,⁶ sondern auch viele genannte wie ungenannte Helden der germanischen wie der gesamten europäischen Sagen-Überlieferung : Griechen, Walachen, Krieger von der Kiever Rus’, Dänen, Sachsen, Thüringer und Isländer treten auf. So bezeugen die 21. und 22. aventiure des Nibelungenlieds, dass die »alten herrlichen Geschichten« noch um 1200 Teil einer internationalen adeligen Vorstellungswelt waren. Einzelne Sagenstoffe kannte schon die ausgehende Antike : Etwa das Motiv, das in der Geschichte von Wieland dem Schmied vorkommt und an Daedalus erinnert.⁷ Oder die Erzählungen von Ermanerich und den Harlungen. Die ältesten überlieferten Harlungenorte befinden sich bei Pöchlarn an der Donau,⁸ wo das Nibelungenlied einen bayerischen Vasallen Etzels als Markgrafen walten lässt. Aber auch die fatalen Folgen eines Streits der Königinnen sind bereits im 6. Jahrhundert bezeugt.⁹ Große Bedeutung gewannen auf dem Kontinent die Gotensage, die Burgundersage und die fränkische Nibelungensage. Angelsachsen und Skandinavier reicherten diese Sagenstoffe an und erweiterten sie um eigene Überlieferungen, wie um die gautische Beowulfsage.¹⁰ Zu Beginn des 11. Jahrhunderts haben gelehrte adelige Damen einige dieser Geschichten in die Annalen ihres Klosters Quedlinburg eingetragen.¹¹ Im 12. Jahrhundert lasen deutsche Historiographen klassische Schriften, wie Caesars »Gallischen Krieg«, und schufen aufgrund der antik-literarischen Überlieferung neue »alte« Geschichten, die Bestandteil der deutschen Germanenrezeption wurden.¹² Die Wiederentdeckung der taciteischen »Germania« verstärkte bei den deutschen Humanisten die Wirkung der Erzählung von den »alten« Germanen. Aber erst die deutsche Romantik verfestigte deren Geschichten so sehr in der kollektiven Erinnerung der Deutschen, dass sie trotz allem schrecklichen Missbrauch und aller krimineller Entstellungen während der letzten eineinhalb Jahrhunderte noch heute aktuell, ja produktiv geblieben sind.¹³ So erregte der Untergang der drei Legionen und ihrer Hilfstruppen im Teutoburger Wald 9 n. Chr. auch 2000 Jahre später weite Aufmerksamkeit, weil die Wirkungsgeschichte der Varus-Schlacht spätestens seit dem 19. Jahrhundert alle deutschen Lande und darüber hinaus erfasste. Dazu kommt, dass eigentlich niemand so recht weiß, wo die Niederlage der Römer »wirklich« stattgefunden hat. Schon bei der Lokalisierung der Schlacht werden sich die Geister nicht zuletzt der für den Tourismus Verantwortlichen scheiden.¹⁴ Nun haben aber die über die Römer siegreichen Völker ihren Sieg nicht als Deutsche, ja nicht einmal als Germanen errungen noch sind sie solche, was möglich gewesen wäre,¹⁵ durch die Niederlage der Römer geworden. Den Sieg im Teutoburger Wald als Sieg der »alten Teutschen über die Welschen« musste daher erst eine verhältnismäßig junge Meistererzählung schaffen, ein Narrativ, das sich unter den deutschen Humanisten zu entwickeln begann und das im späten 18. und im 19. Jahrhundert die Germanische (Deutsche) Altertumskunde konstituierte, ihr vornehmster Gegenstand wurde und sie zugleich ideologisch belastete.¹⁶ Das davon bestimmte und bis heute anhaltende Interesse nicht bloß der deutschen Öffentlichkeit kritisch und glaubwürdig zu bedienen, ist der Hauptgrund, warum von den Germanenbüchern immer noch eins zu schreiben ist und sein wird.

    Seit einiger Zeit fordert Jörg Jarnut, die Historiker sollten auf den Germanennamen völlig verzichten und ihn den Philologen und Archäologen überlassen.¹⁷ Was fangen aber die Nachbardisziplinen mit den Germanen an, wenn sich die Historiker vornehm aus ihrer Erforschung zurückziehen und sie gleichsam als lebendigen Leichnam zurücklassen ? Gerade diejenigen, die den Germanen-Begriff für erschöpft halten, wären wohl über einen solchen revenant am wenigstens erfreut. Die Archäologen waren lange Zeit gewohnt, bestimmte Kulturen mit den Germanen allgemein oder mit einzelnen germanischen Völkern zu identifizieren. So galt die Jastorf-Kultur lange Zeit als Gebiet des germanischen Ursprungs,¹⁸ wurde die Przeworsk-Kultur den mitteleuropäischen Vandalen zugeschrieben,¹⁹ betrachtete man diejenigen Kulturen alle als gotisch, die in zeitlicher Abfolge nach Wielbark im ehemaligen Westpreußen, nach dem ukrainischen Černjachov und dem siebenbürgischen Sîntana-de-Mureş benannt wurden.²⁰ Jede ethnische Interpretation archäologischer Kulturen, so unsicher und umstritten sie auch sein mag,²¹ beruht aber auf historischen Voraussetzungen. Das Gleiche gilt für die Philologen, wie die lange Reihe der RGA Ergänzungsbände beweist, in denen ihre Fragestellungen dominieren. Die Germanisten erforschen die von ihnen als germanisch bezeichneten Sprachen und meinen daher folgerichtig, alle seien Germanen gewesen, die germanisch sprachen. Nun ist die Sprache der gallischen Germani cisrhenani, um es gelinde auszudrücken, zumindest für den Zeitpunkt umstritten, als sie die Römer »entdeckten«.²² Dieselben Römer haben jedoch Kimbern und Teutonen, die wohl mehrheitlich germanisch sprachen, zu ihrer Zeit als Kelten bezeichnet.²³ Die historisch-archäologische Beschäftigung mit den Germanen wurde im 19. Jahrhundert vom philologischen Interesse am Gegenstand noch übertroffen. So ging die Einteilung in Westgermanen, Ostgermanen und Nordgermanen von der Sprachwissenschaft aus.²⁴ Wenn man als Historiker diese Begrifflichkeit mit allen ihren linguistischen Voraussetzungen unbedenklich übernimmt, gerät man in eine selbst gestellte Falle. Man sieht, Jörg Jarnut dürfte mit seiner Forderung so unrecht nicht haben. Doch ihm und uns zum teilweisen Trost, diese Gliederung, die in der Historie viel Unheil angerichtet hat, wird heute von den Philologen mehr und mehr aufgegeben. Die Historiker und Archäologen dürfen daher ab sofort wenigstens diese terminologische Trias aus ihrem Vokabular verbannen. Hingegen wirkt eine rein geographische Einteilung der Germanenvölker durchaus möglich und sinnvoll. So kann man von Skandinaviern, von Elb-, Rhein- und Donaugermanen sprechen. Wo dies der Anschaulichkeit dient, wäre der Kunstausdruck »Ostgermanen« durch die quellengetreue Bezeichnung »gotische Völker« zu ersetzen. Fazit : Die Verwendung des Germanenbegriffs ist mit Vorsicht, aber auch mit Nutzen zu gebrauchen.²⁵

    Bevor man zu schreiben beginnt, wäre der Zeitrahmen einer Germanengeschichte abzustecken. Dafür gibt es keine allgemein gültigen Anweisungen. Walter Pohl hat mit den Kimbern und Teutonen begonnen und sehr einleuchtend mit der merowingisch-fränkischen Germania geendet. Das vorliegende Germanenbuch verkürzt diesen Zeitraum und beschränkt sich mit Grenzüberschreitungen auf die Integration wichtiger Germanenvölker in die Römische Welt und die Folgen für Spätantike und Frühmittelalter. Diese Fragestellungen wurden seit 1961, als Reinhard Wenskus sein bahnbrechendes Werk »Stammesbildung und Verfassung« erstmals veröffentlichte, vielfach differenziert und verfeinert. Auszugehen ist nach wie vor von zwei Rezensionen des Wenskus-Buches, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben, und zwar die von František Graus von 1963 und die von J. M. Wallace-Hadrill von 1964.²⁶ Letzterer kritisierte, Wenskus habe die Bedeutung Roms für die Geschichte der germanischen Völker unterschätzt. Tatsächlich hat Reinhard Wenskus, wie seine Tochter Otta Wenskus, Universität Innsbruck, dem Verfasser am 4. November 2004 mündlich mitteilte, diese Kritik voll und ganz akzeptiert. Vieles, was früher als »uralte« germanische Einrichtung gelten mochte, ist wie das Tafelgeschirr germanischer Fürsten samt dem dazu gelieferten Wein römischer Import gewesen. So verband zum Beispiel die Waffensohnschaft die Ehre der Waffengabe, die Tacitus bei den Germanen erwähnte,²⁷ mit der römischen Institution der Adoption, die den Germanen in dieser Form fremd war. Die so geschaffene neue Einrichtung bildete ein um 500 verhältnismäßig kurzfristig eingesetztes Werkzeug der oströmischen und der sie nachahmenden ostgotischen Diplomatie. Damit konnte die Mentalität der »äußeren Völker« berücksichtigt und auf neue Situationen flexibel reagiert werden, ohne den kaiserlichen oder großköniglichen Rechtsstandpunkt aufzugeben. Das Ergebnis war : Die aktuell überlieferten Fälle von Waffensohnschaft standen in der Spannung zwischen behauptetem allgemeinen gentilen Brauch und bezeugter Beschränkung auf die diplomatische Praxis von Konstantinopel und Ravenna, zwischen hohen politischen Erwartungen und tatsächlicher Bedeutungslosigkeit.²⁸

    Ganz anders das von Walter Schlesinger und Reinhard Wenskus diskutierte Heerkönigtum, dessen praktische Bedeutung nicht überschätzt werden kann und das es selbstverständlich nicht bloß bei den Germanen gab. So hat eine der ausführlichsten Darstellungen, wie ein Heerkönigtum entsteht und aus welchen Elementen es sich zusammensetzt, den keltischen Helvetier Orgetorix zum Gegenstand. Genannt werden von Caesar hohes gentiles und intergentiles Ansehen aufgrund von wirtschaftlichem Reichtum und einer dadurch ermöglichten großen und hierarchisch differenzierten Gefolgschaft, Vereinigung mehrerer Völker, deren Anführer miteinander verschwägert sind und die entweder an ein »altes« Königtum oder an einen »neuen« Prinzipat anknüpfen können. Orgetorix scheiterte, weil sein Königsplan den Interessen der römischen Politik zuwiderlief. Daher konnte Wallace-Hadrill mit Recht betonen, dass ein barbarisches Heerkönigtum nur dann Erfolg hatte, wenn es der römischen Reichsregierung dienlich war.²⁹ Dazu passt der Satz von Patrick Geary : »Die germanische Welt war vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des politischen und militärischen Genius der Römer.«³⁰ Eine Folge war, dass die Germanen nach einem Wort des Geschichtsschreibers Orosius zugleich Gegner und Diener des Römerreichs wurden.³¹ Diesem verdankten sie im Grunde alles, was eine dauerhafte, zukunftsweisende Verfassung, ihren Namen, ihre Identität und Geschichte ebenso wie ihre geistige und materielle Kultur betraf. Folglich erzählen die antiken Quellen nur von denjenigen Germanen eine Geschichte, die sich einen Namen gemacht hatten, die »mehr ihrer Herkunft, als ihrer (römischen) Vernunft nach« als Barbaren gelten mochten.³² Diese waren in den meisten Fällen – von Ariovist bis Theoderich dem Großen, dem Frankenkönig Chlodwig und darüber hinaus – Heerführer, die Rom als Könige einsetzte, einzusetzen plante oder zumindest als solche anerkannte. Nicht in dieses Schema passte nur ein »skythischer« Großkönig wie der Ostrogothe Ermanerich, das heißt ein Monarch, der sich nach den Konkurrenten Roms, dem persischen Sassanidenreich und den davon bestimmten Steppenvölkern, orientierte.³³

    Wo aber benannte, meist königliche Germanen fehlen, berichten die Quellen in ermüdender Eintönigkeit von den häufigen, nicht selten alljährlichen Kämpfen mit germanischen Barbaren, von den Verwüstungen ihrer Ländereien, der Versklavung ihrer Kinder und Frauen und nicht zuletzt von den Triumphen über sie, ohne dass sie jemals endgültig besiegt worden wären. Eine Feststellung, die Tacitus voller Resignation und Sarkasmus traf.³⁴ Gesichtslose Germanen waren geschichtslose Barbaren, von denen man keine Geschichte erzählen konnte noch heute kann, denn Barbaren sind alle gleich – nur ganz wenige sind gleicher. Dazu müssten sie aber zumindest von Königen regiert werden,³⁵ und diese wurden zumeist – so schließt sich der Kreis – von den Römern eingesetzt.

    Mit dem Wort »Barbar« hatten die Griechen den lallenden Nichtgriechen bezeichnet. Die Römer, die ursprünglich noch selbst unter diesen Begriff fielen, übertrugen ihn später auf die Nichtrömer, betonten aber zusätzlich die barbarische Vernunft- und Gesetzlosigkeit. Und dies galt besonders für die Germanen. Die langen kalten Nächte vergangener Winter bewirkten, dass sie zusammenrückten und einander wärmten, weshalb sie sich in so großer Zahl vermehrten, dass viele von ihnen auswandern mussten, um die Übervölkerung ihrer Wohnsitze zu vermeiden. Stimmt nicht, sagt die Archäologie, die Bevölkerung Germaniens und Skandinaviens hat sich lange Zeit – selbst nach noch so kalten Wintern – kaum vermehrt, dafür war die Sterblichkeit der Kinder und Mütter zu groß.³⁶ Schon in der Antike wussten freilich einzelne kritische Geister, dass es nicht die kalten Winternächte, aber auch nicht Sturmfluten und andere Naturkatastrophen waren, die diese Nordbarbaren zur Aufgabe ihrer Wohngebiete zwangen, sondern ihre Friedlosigkeit und den Tod verachtende Kampfeslust.³⁷ Letztere zeigte sich auch daran, dass sie mit nacktem Oberkörper kämpften,³⁸ während selbst der einfache römische Soldat Schutzwaffen anlegte. Aber als Inbegriff der Barbarei galt es, wenn die Frauen der Barbaren gemeinsam mit ihren Männern in den Krieg zogen. Ja, sie konnten sogar den kriegerischsten Völkern als Herrscherinnen gebieten. Liest man die antiken Autoren, die darüber berichten, kann man sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit den barbarischen Königinnen nicht selten die wenig geliebten Frauen der römischen Kaiserhäuser gemeint waren – und kritisiert wurden.³⁹ Ähnliches gilt vielleicht auch für die Amazonen. Sie gehörten jedenfalls zur Vorgeschichte der »äußeren« Völker und bekämpften jede Art von Zivilisation. Eine von ihnen hat sogar Camilla geheißen.⁴⁰

    Es ist aber nicht bloß die barbarische Raserei, der furor teutonicus,⁴¹ der so fremdartig ist wie die Art ihres täglichen Lebens und ihre physische Erscheinung. Wie archäologische und anthropologische Untersuchungen zeigen, waren die Germanen zwar nicht nach unseren Vorstellungen, aber gegenüber ihren mediterranen Zeitgenossen tatsächlich hochwüchsig. Die Männer maßen 170 bis 180, die Frauen 160 bis 165 cm, obwohl der anthropologische Befund selbstverständlich starke Abweichungen ergibt. Das Gleiche gilt für die Robustheit der Germanen und ihre überwiegend schmalen Schädelformen. Nicht bestätigen kann man – insbesondere nach dem Zeugnis der Moorleichen – die weit verbreitete Überzeugung antiker Schriftsteller, die Germanen seien alle langbärtig gewesen. Damit wollten die Autoren den Germanen wohl eher als Barbaren kennzeichnen, als dass sie eine allgemeine Wirklichkeit wiedergeben konnten. Auch würde der Stammesname »Langobarden« (Langbärte) keinen Sinn ergeben und kein Unterscheidungsmerkmal bezeichnet haben, wenn alle Germanen die gleichen germanistischen Rauschebärte getragen hätten. Wodan-Odin wird allerdings als langbärtiger Gott beschrieben, und so könnte die Zuordnung zu seiner Gefolgschaft, wie sie für die Langobarden überliefert wird,⁴² zur Verallgemeinerung der Langbärtigkeit geführt haben. Jedenfalls galten die Nordbarbaren, insbesondere Germanen und Kelten, bei den Römern trotz der fremdartigen Körpergröße als schön. Sie sind blond und blauäugig, groß und schlank,⁴³ nur die Sarmaten,⁴⁴ vor allem aber die Hunnen sind hässlich, sind doch letztere die Söhne von bösen Geistern und gotischen Hexen.⁴⁵ Bei aller Schönheit sind die Nordbarbaren furchtbar schmutzig gewesen.⁴⁶ Während sie Caesar nur in kalten Flüssen baden lässt, meint Tacitus, sie wuschen sich beim Aufstehen meistens mit warmem Wasser.⁴⁷ Sie tragen Felle, Pelze und lange Hosen und cremen ihre Haare mit ranziger Butter ein, so dass sie schrecklich riechen.⁴⁸ Unerschöpflich ist ihre Manneskraft, weil sie nicht vor dem 20. Lebensjahr Geschlechtsverkehr haben.⁴⁹ Daher bekommen sie viele gesunde Kinder. Der zivilisierte Mensch der Antike übt dagegen Familienplanung, trägt am ganzen Körper Woll- und Leinenkleider, verwendet duftende Öle zur Körperpflege und rasiert sich täglich. Sprichwörtlich ist die barbarische Trunksucht; biberunt ut Gothi steht in den Dialogi Gregors des Großen.⁵⁰ Allerdings hat der heilige Papst noch nichts von so manchen unheiligen akademischen Postcolloquia im anscheinend eigens dafür erfundenen germanischen Kontinuum gewusst. Damals wie heute wurde und wird jedenfalls ungemischter Wein, ákraton, getrunken.⁵¹ Noch das moderne Griechische erinnert an diesen Barbarismus, wenn man sogar den besten, selbstverständlich ungepantschten Wein unserer Tage verschämt tò krasì, das Gemischte, nennt.⁵²

    Aussagen dieser und ähnlicher Art wurden von der antiken Klimazonen-Theorie bestimmt, die antike Autoren für die Ethnographie der Nordbarbaren verwendeten.⁵³ Was Tacitus über das Aussehen der Germanen berichtet, haben Polybios und Livius über die Kelten gesagt.⁵⁴ Was Caesar vom höchsten Gott der Gallier schrieb, übertrug Tacitus auf die Germanen, hat aber schon Herodot von den Thrakern geschrieben.⁵⁵ Dass die Germanen Halbnomaden seien, die von Viehzucht und Jagd leben⁵⁶ und nur Gerste und Hafer als Getreide kennen,⁵⁷ ist ebenfalls Teil der Klimalehre. Vor vielen dieser ethnographischen Gemeinplätze wird der Historiker daher kapitulieren und darauf verzichten müssen, zu sagen oder zu schreiben : »Die Germanen waren, die Germanen taten.« Manches kann man freilich mit Hilfe der Archäologie, aber auch der Philologien oder beider korrigieren.

    Ein gutes Beispiel bieten dafür die Vindolanda Tablets. Archäologen entdeckten sie in den 1970er Jahren am Hadrianswall im Kastell Vindolanda. Die rund 1000 mit Tinte beschriebenen Holztäfelchen, deren philologische Auswertung unschätzbare Ergebnisse erbrachte, bezeugen für die Zeit um 100 n. Chr. eine selbstverständliche lateinische Schriftlichkeit der Angehörigen der dort stationierten IX. Bataverkohorte. Dabei geht es auch um die Dinge des täglichen Lebens, etwa um die Sendung von warmen Socken und Unterhosen. Aber in einem der Briefe steht, dass die batavischen Truppen ihren keineswegs stammesfremden Präfekten rex, König, nannten. Möglich, dass diese Nachricht vor einer vorschnellen Emendation einer Stelle bei Ammianus Marcellinus bewahrt, wo es dem Text nach heißt, die Bataver hätten 357 cum regibus,»mit ihren Königen=Präfekten (?)«, entscheidend in die Schlacht von Straßburg eingegriffen.⁵⁸

    Die berühmte Passio s. Sabae Gothi stimmt mit der gotischen Bibelübersetzung überein, was die Lebensweise der donaugotischen Völker beiderseits des Stroms um 350 betrifft.⁵⁹ Das Bibelgotische benötigte für die Beschreibung des Alltags einer sesshaften bäuerlichen Bevölkerung so gut wie keine nichtgotischen Wörter.⁶⁰ Nicht zu vergessen die Brotbitte des gotischen Vaterunsers : hlaif unsarana … gif uns himma daga bittet wörtlich um den (Brot)laib, hlaif, und nicht um die tägliche Brotflade und bezeugt damit eine Errungenschaft, die im gemeinslawischen Wort chleb bis heute fortlebt.⁶¹

    Große hermeneutische Probleme bereitet die kulturkritische Tendenz gerade der beliebtesten Autoren, die unseren Gegenstand behandeln. So stellten Tacitus und seinesgleichen ihrer eigenen zivilisierten (dekadenten) Welt die reine Lebensart der angeblich unverdorbenen Germanen gegenüber, um den Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten und sie zugleich an die verklärten Anfänge Roms zu erinnern.⁶² Auch das freundlichste Barbarenbild darf daher nicht mit Barbarenliebe verwechselt werden, da man als selbstbewusster Römer die Barbaren meidet, auch wenn sie gut sind.⁶³ Aber »gib diesen Körpern, diesen Gemütern, die Genüsse, Luxus und Wohlstand nicht kennen, Vernunft, gib ihnen Disziplin, und wir (Römer) werden uns gewiss, um nicht mehr zu sagen, auf die (alten) römischen Sitten besinnen müssen«, meinte Seneca sorgenvoll.⁶⁴

    Als sich aber Senecas Prophezeiungen allmählich zu erfüllen begannen und man über die Germanen auch weiterhin nur triumphierte, sie aber niemals endgültig besiegte, waren es die antiken Literaten, Ethnographen, Kosmographen und Geographen, die zwar keine germanische Identität an sich schufen, dafür aber einzelnen Völkern neue Identitäten gaben und mit ihren Denkschulen auch das Mittelalter beeinflussten. Es begann damit, dass Caesar den Rhein als Grenze zwischen Gallien und Germanien definierte. In seiner Nachfolge bezeichneten die Literaten den Großraum zwischen Rhein und Weichsel, beiden Meeren im Norden und der Donau im Süden als Germania magna und unterschieden sie so von den linksrheinischen römischen Provinzen Germania inferior und Germania superior.⁶⁵ Erst im 19. Jahrhundert erfand man dafür den Namen Germania libera.⁶⁶ Damals kam auch der Begriff Germania maritima auf, womit sich die norddeutschen Professoren gegen die Unterstellung ihrer süddeutschen Kollegen wehrten, die Römer hätten sich bei der Benennung des nordwestlichen Deutschlands als Germania inferior etwas anderes als Geographisches gedacht. Am Ende des 2. und vor allem im Laufe des 3. nachchristlichen Jahrhunderts ereignete sich in der rechtsrheinischen Germania, ja über die Weichselgrenze nach Osten hinaus ein gentiler Konzentrationsprozess. Hatte es in der kaiserzeitlichen Germania magna mehr als 40 Völker gegeben, entstanden nun diejenigen wenigen »neuen« Völker, die zu den Trägern der Großen Wanderungen wurden und nach ihrer Bekehrung zum Christentum die Umgestaltung der Römischen Welt bewirkten. Mit diesen Veränderungen verschwand auch der aktuelle Gebrauch des Germanen-Namens. Die spätantiken Autoren begannen, ihn entweder auf die Alemannen, auf die aus dem Gebiet rechts des Rheins kommenden Burgunder, vor allem aber auf die Franken, die siegreichen Herren aus der und über die Germania, zu beschränken.⁶⁷ Anders als Tacitus subsumierte man auch die gotischen Völker und die Skandinavier nicht mehr unter die Germanen. Als die Goten keine Wilden mehr waren, sondern die menschliche Zeit strukturierende Könige besaßen⁶⁸ und auf römischem Boden Reiche errichteten, setzte man sie »etymologisch« dem alten Volk der Geten gleich.⁶⁹ Dieses Beispiel machte Schule : die Franken wurden Trojaner, Dänen und Normannen Daker, die Sachsen Makedonen,⁷⁰ die Awaren und Ungarn Hunnen,⁷¹ die Slawen Goten und Vandalen, und noch heute gibt es Slowenen, die Veneter sein wollen, jedoch hoffentlich keine kroatischen Goten mehr.⁷² Mit Recht erkannte Walter Pohl, dass die Betroffenen die »etymologischen« Herkunftsgeschichten und die scheinbar »echten« barbarischen Überlieferungen nicht voneinander unterschieden. Beide Traditionsstränge waren überdies, und zwar samt ihren mündlichen Vorstufen, in gleicher Weise selektiv wie konstruiert.⁷³ Gute Beispiele liefern dafür die von innen wie außen bestimmte Entstehung von »deutsch« als ethnische Selbstbezeichnung,⁷⁴ aber auch das Werden der »hunnischen« Identität der Ungarn. Die Magyaren wurden bereits bei ihrem ersten Auftreten in westlichen lateinischen Quellen als ein »Volk der Hunnen« bezeichnet.⁷⁵ Nicht viel später erfolgte ihre Gleichsetzung mit den Awaren.⁷⁶ Diese aber galten ebenfalls als Hunnen, und zwar in der gelehrten wie in der volkssprachlichen Überlieferung, wobei noch zu fragen wäre, wie und ob letztere von der schriftlichen Tradition bestimmt wurde.⁷⁷ Andererseits war es die westliche Fremdbezeichnung, mit der die Steppenvölker traditionell benannt wurden, die – beginnend mit dem 13. Jahrhundert – die »hunnische« Identität der Ungarn konstruierte und konstituierte. Dieser Prozess hinkte allerdings deutlich hinter Attilas Adoption als Stammvater der Árpáden hinterher.⁷⁸

    Das ungarische Beispiel leitet zwanglos über zur Frage, wie sich in polyethnischen »Frühen Völkern« eine gemeinsame Identität entwickeln konnte. Ein modernes Germanenbuch hat sich ganz besonders auch damit zu beschäftigen. Allerdings ist dies leichter gesagt als getan. Schon Wallace-Hadrill mokierte sich über das wenig überraschende Ergebnis, das Reinhard Wenskus präsentierte, es sei eben das Zusammengehörigkeitsgefühl, das eine gentile Identität ausmache. Schon gut, aber wie ist das Wir-Gefühl entstanden und wie hat es sich auf die einzelnen Teile eines exercitus ausgewirkt, der im Begriffe war, eine einzige gens, ein Volk, zu werden ? Über die Rugier, die mit den Ostgoten nach Italien zogen, wird berichtet, sie seien Angehörige des Heeres der Goten gewesen, hätten aber mit diesen keine Ehegemeinschaft gehabt.⁷⁹ Ein solches Verhalten spricht gegen ein gemeinsames gotisch-rugisches Wir-Gefühl, obwohl beide Gentes neben vielen anderen im Gotenheer dienten und ihre Repräsentanten miteinander verwandt waren. Theoderich hat die Tötung des Rugierkönigs und seiner Königin durch die Truppen Odoakers zum Anlass genommen, den Rivalen vertragsbrüchig aus Blutrache zu ermorden.⁸⁰ Die Sachsen, die König Alboin für den Einmarsch in Italien um Hilfe bat und die sich darauf den Langobarden angeschlossen hatten, trennten sich wieder von diesen, weil sie ihre Eigenständigkeit bewahren wollten, und versuchten, in die Heimat zurückzukehren. Solche Entscheidungen zeigen, dass ethnogenetischen Veränderungen, die das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls begleiteten, Widerstand geleistet wurde. Aber mit welchem Erfolg ? Obwohl sie kurzfristig sogar einen Gotenkönig stellten, hört man nach der Mitte des 6. Jahrhunderts nichts mehr von italischen Rugiern.⁸¹ Ebenso wenig Glück hatten die sächsischen Rückwanderer; sie verließen Italien, fanden aber die Heimat von Nordschwaben besetzt und wurden aufgerieben.⁸² Offener als die Rugier waren jedenfalls die Vidivarier, die Waldleute im Mündungsgebiet der Weichsel; sie seien aus Goten, Gepiden und Balten zusammengewachsen und ein neues Volk geworden. Es heißt, der weitgereiste Skop Widsith sei der letzte gewesen, der mit dem Landschaftsnamen Wistlawudu den Wald der (gotischen) Weichselbewohner erwähnte.⁸³ Aber ihre Geschichte erzählt er nicht, und ohne Geschichte gibt es auch keine Gens. Jedenfalls stützt keine der zitierten Stellen die Auffassung der leider gar nicht so alten »älteren Forschung«, die germanischen »Völker seien organische, altertümliche, ja urtümliche Gebilde« gewesen.⁸⁴ Noch in Ludwig Schmidts »Ostgermanen« ist auf Seite 85 der 2. Auflage von 1941 zu lesen : »Die Stämme, die uns jetzt (in der Völkerwanderung), vielfach unter neuen Namen, entgegentreten, knüpfen trotz gegenteiliger Behauptung an die Verhältnisse der Urzeit an. Die Struktur der ostgermanischen Einzelvölker (besonders Goten und Vandalen) hat sich überhaupt nicht wesentlich geändert.« Dies gelte auch für westgermanische Völker, darunter die Markomannen, aus denen ohne Umschweife die Bayern hervorgegangen seien. Ein derartiges Urteil ist geradezu grotesk unrichtig. Die Goten in Spanien und in Italien bestanden jeweils aus zehn verschiedenen Völkern, nachdem sie seit ihrem ersten Auftreten an der unteren Donau mindestens je ein halbes Dutzend verschiedener Ethnogenesen erlebt und erlitten hatten.⁸⁵ Und die Bayern hatten mit den Markomannen sicher nichts gemein, außer dass sie beide – länger oder kürzer – etwas mit und in Böhmen zu tun hatten.⁸⁶ Wie entstehen also Völker ? Ex negativo fällt die Antwort am leichtesten, indem sie sich voneinander unterscheiden.⁸⁷ Regino von Prüm hat dafür nach klassischen Vorbildern die ebenso eigenständige wie klassisch gewordene Formel gefunden : diversae nationes populorum inter se discrepant genere, moribus, lingua, legibus.⁸⁸ Abgesehen davon, dass die Auseinandersetzung mit den vier Kriterien »Herkunft, Sitten, Sprache und Rechte« genügend Stoff für ausführliche Abhandlungen bieten würde, ist die Entstehung des Wir-Gefühls nicht nur innergentil bestimmt. Um ein noch aktuelles Beispiel zu bringen : Die Slowaken sind deswegen keine Tschechen oder, was wahrscheinlicher gewesen wäre, keine Polen geworden, weil sie vom Beginn des 10. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dem magyarischen Königreich Ungarn angehörten.

    Eine quellengetreue Darstellung muss vor allem mit den Erzeugnissen der antiken Ethnographie auskommen. Deren vornehmster Gegenstand war die Entstehung der barbarischen und daher auch germanischen Völker aus multigentilen Heeren.⁸⁹ Diese bildeten offene Systeme, die niemals abgeschlossene, fertige, gleichsam unveränderliche Einheiten darstellten, in denen daher die vier Kriterien Reginos viel von ihrer Unterscheidungskraft verlieren mussten. Bereits die Heere der Kimbern und Teutonen, die Kriegerhaufen Ariovists und die des Arminius bestanden aus vielen Völkern, desgleichen die des Civilis, des Marbod und Vannius, die der Westgoten in Gallien wie der Ostgoten in Italien, der Franken diesseits wie jenseits des Rheins und der Angeln, Sachsen und anderer Germanen in Britannien,⁹⁰ nicht zu vergessen die der Langobarden vor allem nach ihrem Sieg über Eruler und Gepiden.⁹¹ Um diese polyethnischen Heere zu »verstaatlichen«, bedurfte es im Normalfall eines Königtums. Interessant ist die Beobachtung antiker Autoren, man habe mitunter die Namen der Könige früher als die ihrer Völker in Erfahrung bringen können.⁹² Auch die Abfolge von Mehrkönigtum, Einkönigtum, Großkönigtum wurde registriert, aber so gut wie nie kommentiert. Allerdings konnte ein Einkönigtum auch durch ein Mehrkönigtum wieder abgelöst werden,⁹³ oder es gab königlose Völker, deren Entstehung und Fortbestand vielfach Rätsel aufgeben.⁹⁴ Andrerseits waren es nicht selten römische Militäreinrichtungen, die von außen zu gentilen Namengebern und damit zu Identitätsstiftern wurden. Dieser Prozess fing damit an, dass alle gotisch-germanischen Völker auf Reichsboden als abwechselnd loyale und illoyale römische Föderatenheere begannen, so dass ihre Wanderungen und damit die sogenannte Völkerwanderung im Grunde nichts anderes als Verlegungen von vertragstreuen oder rebellischen Truppenverbänden waren. Außerdem brauchten diese Verbände einen gentilen Namen, den nicht zuletzt die römische Heeresleitung vergab. Mehrere alemannische Sondernamen wurden zuerst als die Namen römischer Militäreinheiten bekannt.⁹⁵ Die verschiedenen Völker, die vom Kontinent nach Britannien übersetzten, mussten alle durch das litus Saxonicum beiderseits des Kanals hindurch und galten am Ziel ihrer Reise alle als Sachsen. Eine vergleichbare Militärgrenze hatte bereits Konstantin der Große am rechten thrakischen Ufer der unteren Donau als befestigte ripa Gothica errichtet. Die hier an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert ins Römerreich aufgenommenen gotischen Völker führten verschiedene Sondernamen, wurden jedoch in Thrakien alle zu Goten.⁹⁶

    Jede erfolgreiche Ethnogenese machte auch Fremde zu Angehörigen eines Volkes, wobei das Königtum, soweit vorhanden, diesen Prozess zugleich erleichterte und kontrollierte.⁹⁷ Viele der Fremden waren unfreiwillig als Gefangene und Sklaven in ihre neue Umwelt gekommen. Die Christianisierung der Barbaren von den Goten bis zu den Iren wurde von Gefangenen begonnen.⁹⁸ Ein Großteil der gentilen Unterschichten bestand aus solchen Menschen, wie dies die Bedeutungsgleichheit der Begriffe »Gefangener« und »Sklave« belegt.⁹⁹ Die vorpannonischen Langobarden waren ein kleines Volk. Um diesem Missstand abzuhelfen, nahmen sie viele Sklaven, darunter zahlreiche fremde Gefangene, in ihr Heer auf und machten sie zu freien langobardischen Stammesangehörigen.¹⁰⁰ Es konnte aber auch der äußere Druck so stark werden, dass sich ganze Völker anderen Völkern anschlossen, wie dies silingische Vandalen und Alanen taten, die nach ihren Niederlagen gegen die Valia-Goten den vandalischen Hasdingen folgten.¹⁰¹ Die Heere der Westgoten wie der Ostgoten bestanden je aus mindestens zehn verschiedenen Ethnien, darunter nicht bloß nichtgotische, sondern auch nichtgermanische Krieger und ihre Familien.¹⁰² Nach dem Sturz Marbods und bald darauf dem seines Thronräubers Catualda siedelte die römische Reichsregierung deren Gefolgschaften jeweils zwischen den Flüssen March und Waag an und machte den Quaden Vannius um 20 n. Chr. zum König dieses bunten nicht-quadischen Haufens. Vannius stützte sich seinerseits auf quadische und sarmatische Gefolgschaften. Das Ergebnis war, dass das in der heutigen Westslowakei gelegene Regnum Vannianum zum quadischen Kernland schlechthin wurde.¹⁰³

    Grundsätzlich war der Fremde, der Gast, rechtlos und auf den Schutz eines Mächtigen angewiesen. Dafür verhalf er dem Herrn – Gospodar/Gospodin ist etymologisch der »Herr der Gäste« – über die »Gastherrschaft« zur Bildung und Erhaltung von Herrschaft. Bekannt sind die germanischen Leibgarden römischer Caesaren und die warägische Hoftruppe in Byzanz. Krethi und Plethi sind sprichwörtlich geworden, waren aber ursprünglich ebenso König Davids fremde Elitetruppen, freilich zweifelhaften Rufs wie die Hauskarle Knuts des Großen oder die Birkebeiner des norwegischen Kronprätendenten Sverrir im 12. Jahrhundert.¹⁰⁴ Gotische Könige haben vom 3. bis zum 6. Jahrhundert fremde Krieger, ja römische Soldaten in ihre Heere aufgenommen. Die außergewöhnliche Größe der Heere der Franken hängt mit ihrer neuen Ethnogenese in der stark militarisierten Germania inferior zusammen, wo sich die dort stationierten römischen Soldaten den Franken anschlossen.¹⁰⁵ Schon Marbod machte um Christi Geburt Einzelpersonen und ganze Völkerschaften den Römern abtrünnig.¹⁰⁶ Aber noch 1000 Jahre später haben die »deutschen Gäste«, hospites Teutonici, die der bayerischen Prinzessin Gisela nach Ungarn gefolgt waren, ihrem Gemahl, dem heiligen Stephan, zweimal die Herrschaft gerettet : Am Beginn seiner Regierung gegen heidnische Widersacher aus der eigenen Familie, im Sommer 1030 gegen niemand Geringeren als Kaiser Konrad II. Kein Wunder, dass Stephan seinen Sohn Emmerich ausführlich ermahnte, die »Gäste« gut zu behandeln, da ein Land arm sei, in dem nur eine Sprache gesprochen werde. Die Fremdenfreundlichkeit der ungarischen Frühzeit fiel auch den Nachbarn auf : Cosmas von Prag erwähnt um 1130 drei ihrer hospitum legiones und hat damit als erster dem Wort und der Sache nach von einer »Fremdenlegion« gesprochen.¹⁰⁷ Vielfach erwähnt wird die Rolle, die Fremde, das heißt Minderheiten, zum Zeitpunkt ihrer Zuwanderung, bei der Entstehung multigentiler Heere und Herrschaften spielten, wobei selbst übelbeleumdete Subjekte, Mörder, Strauchdiebe und Verbrecher, eingeladen wurden. Die römische Gründungssage, die noch vielen späteren Jahrhunderten Gegenstand der Belustigung wie des Ärgernisses bot, erwähnt gerade solche Leute. Selbst Karl der Große behielt sich vor, zum Tode verurteilte Sachsen zu begnadigen und sie »innerhalb seiner Reiche oder an den Grenzen« anzusiedeln.¹⁰⁸

    Reinhard Wenskus gab seinem Buch den Titel »Stammesbildung und Verfassung«. Demnach bedingten die Entstehung von Völkern, wie wir heute lieber sagen, letztlich weder Herkunft noch Abstammung, sondern der Erfolg einer politischen Verfassung. Dieses Erklärungsmodell provoziert allerdings die Frage : Wie erfolgreich war die Verfassung der Goten in dem Millennium ihrer Existenz, wenn sie die Hälfte davon keine eigenen Könige besaßen und daher ohne »Eigenstaatlichkeit« auskommen mussten ? Wer waren in dieser Zeit die Träger ihrer von außen und innen »durchmischten« Tradition, die ihre ethnische Identität bewahrte ? Wer war es, in dessen Interesse es lag, dass der Name der Goten so lange nach dem Untergang ihrer Reiche nicht erlosch ? Dass die gotische Sprache zur lingua theodisca, zur Sprache der Karolingerkönige, zählte, kann es nicht gewesen sein, weil diejenigen Goten, die sie noch sprachen, in Thrakien und auf der Krim lebten, die Goten des Frankenreichs sie jedoch längst aufgegeben hatten. Wenn aber gotisch oder so etwas Ähnliches an einem Herrscherhof gesprochen oder, genauer, gesungen wurde, war dies in Konstantinopel. Den entsprechenden Text, das »gotische Weihnachtsspiel«, überliefert eine Handschrift des 10. Jahrhunderts, und die »gotischen« Akteure waren Angehörige der Warägergarde.¹⁰⁹ Noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts zählten allerdings die Bewohner Konstantinopels zu den sechs größten Übeln an fünfter Stelle die Goten von der Krim.¹¹⁰ Wenn nicht ihre Sprache, war es vielleicht das gotische Recht, das der Frankenkönig Pippin I. ausdrücklich anerkannte und erst der französische König Ludwig IX. in der Mitte des 13. Jahrhunderts aufhob ?¹¹¹ Aber ein Recht existiert nicht an sich; es muss Menschen gegeben haben, denen die lex Gothica so viel bedeutete, dass sie aus Sarazenen wieder zu Goten wurden.¹¹² Half im 9. Jahrhundert vielleicht die literarische Tätigkeit der gotischen »Seilschaft«, an deren Spitze Benedikt von Aniane im Karolingerreich wirkte ?¹¹³ Aber Literatur allein erklärt nicht, warum die Namensgebung in manchen Familien rein gotisch blieb.¹¹⁴ War es die politische Theorie der nordspanischen Reconquista, die der Goten als Legitimierung bedurfte ?¹¹⁵ Das am ehesten. Aber im Grunde steht eine schlüssige Antwort auf all diese Fragen noch aus. Das Gleiche gilt aber auch von Kelten, Slawen oder Balten, afrikanischen oder amerikanischen Ethnien, weil die Frage nach der Tradition und ihren Trägern alle angeht, die sich mit »Frühen Völkern« in- und außerhalb Europas befassen.

    Schließlich ein Bekenntnis : Es ist unser vornehmster Beruf, eine Geschichte zu erzählen, weil die Öffentlichkeit, die uns bezahlt, wie die mondäne Dame in Arthur Schnitzlers »Anatol« wissen will, was sie sich vorstellen, und nicht, was sie sich nicht vorstellen soll. Dies gilt für jedes Stadium der wissenschaftlichen Entwicklung, für jede zeitgebundene Mode und Methode und daher auch für die Konstrukteure und Dekonstrukteure der Überlieferung. Um zeitgemäß erzählen zu können, wäre daher der gute Rat zu befolgen, den František Graus allen Erforschern der slawischen Frühgeschichte mit auf den dornigen Weg gab : Man solle, bevor man darüber zu schreiben beginne, alle Texte neu lesen, da die Darstellungen vergangener Generationen wie auch frühere eigene Arbeiten bestenfalls als Steinbrüche dienen können, das Gebäude selbst aber quellengerecht stets von neuem zu errichten sei.¹¹⁶ Allerdings kann auch die Lektüre ausgewählter »Alter« nicht schaden, nicht zuletzt, wenn sie vom Range eines M. Tullius Cicero sind. In seinem Dialog über die Bestandteile der Rede fragt der junge Rhetor den Vater, was bei einer Narratio zu beachten sei, und erhält zur Antwort, die Erzählung sei die Erklärung der Ereignisse und gleichsam der Sitz und das Fundament, um (vor Gericht) Glaubwürdigkeit zu begründen.¹¹⁷ Ein Germanenbuch, das dieses Ziel erreichen will, muss daher, wenn auch hoffentlich nicht vor Gericht, so doch vor einem kritischen Publikum, eine glaubwürdige, weil methodisch fundierte und zugleich zeitgemäße Geschichte von Völkern erzählen, die sich zwar selbst nie Germanen nannten, aber dennoch bloß als solche auch noch das Interesse unserer Zeit erwecken.

    2.

    Begriffe, Worte und Wörter

    Denn eben wo Begriffe fehlen,

    Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein,

    Mit Worten läßt sich trefflich streiten,

    Mit Worten ein System bereiten,

    An Worte läßt sich trefflich glauben,

    Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben (Goethes Faust 1. Teil, Schülergespräch)

    Jeder in der Zunft kennt das Phänomen. Eine akademische Sitzung geht wider Erwarten nach kurzer Zeit mangels weiterer Sachfragen zu Ende. Da fällt jemandem unter dem Tagungsordnungspunkt »Allfälliges« ein terminologisches Problem ein, wie etwa der Name einer zu gründenden Einrichtung lauten solle, alle wachen auf, und die Sitzung dauert bis Mitternacht. Andrerseits wird die historische Fachsprache häufig durch Neologismen erweitert, ohne dass man sich viel Mühe machte, die neu eingeführten Begriffe nach ihrer Brauchbarkeit zu überprüfen oder auch nur genau zu erklären, was darunter gemeint ist. Über kurz oder lang rächt sich eine derartige vereinfachende Vorgangsweise, wie der Autor aus eigener leidvoller Erfahrung weiß. Weil nicht selten Steine des Anstoßes, seien daher folgende, für das vorliegende Buch relevante Begriffe ausgewählt und kurz besprochen : Ethnogenese (Volkwerdung), ethnische Identität, Stamm, Traditionskern, vor-ethnographische Daten und ethnographische Fakten, etymologisch-euhemeristische Methode, primordiale Tat und Narrativ oder Meistererzählung. Der ebenfalls umstrittene Begriff »Sakralkönigtum« wird im Abschnitt »Der König« diskutiert.

    Ethnogenese (Volkwerdung)

    Der Begriff »Ethnogenese« besteht aus zwei griechischen Wörtern, aus τò ἔθνος (tò éthnos) = das Volk und ἡ γένεσις (hē génesis, sprich heute : i jénesis) = das Werden.¹¹⁸ Im Deutschen entspricht daher Ethnogenese dem Wort »Volkwerdung«. Das Latein kennt vor allem zwei Volksbegriffe, den durch gemeinsames Recht konstituierten populus Romanus, der allein Geschichte hat, und die von mythischer Herkunft und angenommener gemeinsamer Abstammung bestimmten gentes,¹¹⁹ die etymologisch wie semantisch Völker in Waffen sind.¹²⁰ Aus klassischer Sicht gilt dies auch für die mythischen Anfänge des populus Romanus, wenn es in Vergils Aeneis (I 34) heißt : Tantae molis erat Romanam condere gentem.»So viel Mühe war (notwendig), um das römische Volk zu gründen.« ¹²¹ Für christliche Autoren dürfte der als Heer organisierte Exodus der Israeliten aus Ägypten ein wichtiges Vorbild gewesen sein.¹²² Was aber ist eine gens ? Spricht ein lateinischer Autor von einem barbarischen Volk, nennt er es für gewöhnlich gens oder natio. Beide Wörter bezeichnen von ihrer Geschichte her eine Abstammungsgemeinschaft, meinen jedoch mitunter verschiedene tribale Organisationsformen : Manche Autoren verstehen die natio als Untergruppe einer gens, als »das Volk eines einzigen Blutes«, als Abstammungsgemeinschaft im eigentlichen Wortsinn. Dagegen gehören zur gens auch die »Fremden, Gäste und Zuwanderer«, so dass eine gens eine reale politische Größe bildet. Da es aber Abstammungsgemeinschaften niemals gab, wird die Unterscheidung zwischen gens und natio auch von denjenigen Autoren nicht befolgt, die eine distinkte Definition versuchen.¹²³ Wer aber gens sagt, meint eine multigentile Formation, die sich zwar als Abstammungsgemeinschaft begriff, aber nur eine gemeinsame Verfassung zusammenhielt. Diese ging zumeist von einem Königtum aus, das die Zustimmung der repräsentativen Teile des Namen gebenden Volkes fand. Theoderich der Große ging in den Westen mit »dem ganzen Volk der Goten, die ihm ihre Zustimmung gaben«.¹²⁴ So besteht eine Gens aus vielen Gentes und wird von einer königlichen Gens geführt. Oder : Der Erfolg einer königlichen Gens bewirkt auf römischem Boden die Entstehung einer frühmittelalterlichen Gens und ihres Königreiches.¹²⁵

    Angesichts dieses Befundes fragt man sich, was an Ethnogenese anstößig oder gar politisch inkorrekt sein soll. Ebenso unverständlich ist es, in diesem Wort den Ausdruck eines abgeschlossenen Prozesses zu sehen, wie manche behauptet haben. Im Gegenteil. Das Werden eines Volkes ist, wie schon oft dargelegt, nie beendet, weil offen für ständige Veränderungen. Man könnte Ethnogenese auch als Transformation verstehen. Die gutonischen Einwanderer, oder wer sie auch immer waren, wurden im pontischen Raum zu Goten, als sie die alte Welt als Skythen wahrnahm. Die Bayern der Mitte des 6. Jahrhunderts und die des aktuellen Freistaats sind eher Homonyme ihrer selbst als Vorfahren und Nachkommen. Bereits im 19. Jahrhundert sprach man von der ethnogénie gauloise und grenzte sich »von Anfang an gegen entstehende rassische und biologistische Konzepte ab«, etwa gegen die Rassentheorien des gleichzeitigen Grafen Gobineau. »Der Ethnogenesebegriff stand von Anfang an in Opposition zu solchen Konstruktionen.«¹²⁶ Offenbar war es die russische Sozialforschung, die den Begriff »Ethnogenese« erneut in die Wissenschaft einführte.¹²⁷ Von ihr borgte den Terminus die russische wie die Archäologie der Nachbarn und gab den Ausdruck an den Westen weiter. Hier wurde der Begriff von vielen deutschsprachigen Forschern gerne übernommen, um den bedenklich gewordenen Ausdruck »Stammesbildung« ersetzen zu können und gleichzeitig ein Wort zu haben, das anscheinend oder scheinbar international unbelastet verständlich war. Das war leider ein Irrtum : Mit Ethnos ist in vielen Sprachen eine pränationale Formierung unbestimmten Entwicklungsgrades oder gar eine unruhige Minderheit oder rebellische Unterabteilung einer modernen Nation gemeint. Andrerseits bedeutet im Griechischen unserer Tage tò éthnos hellenikòn die griechische Staatsnation und keine ihrer vlachischen, albanischen oder türkischen Minderheiten. Auch für die griechischen Kollegen ist daher das griechische Wort »Ethnogenesis« nur bedingt verwendbar. Noch 1980 hielt František Graus eine slawische Ethnogenese »zur Zeit« für keinen Gegenstand historischer Untersuchungen.¹²⁸ Auch anderswo wuchs die Abneigung gegen die Verwendung des Begriffs, weil man – wie etwa in Spanien oder den USA – »ethnisch« als Bedrohung der nationalen Einheit empfand und noch empfindet. Diese Aversion ist auch für die zunehmende Kritik an Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, verantwortlich. In dem 1961 erstmals erschienenen Buch gebrauchte der Autor den Ausdruck »Ethnogenese« zwar nur ein einziges Mal, und das eher beiläufig als Überschrift eines Kleinkapitels.¹²⁹ Trotzdem wird sein Erklärungsmodell als ethnogenetisch schlechthin verstanden und in jüngster Zeit zusätzlich deshalb in Frage gestellt, weil Wenskus selbstverständlich auch zeitgebundenen Auffassungen unterlag. Das alles spricht freilich nicht gegen die Verwendung des Begriffs »Ethnogenese«. Gleichsam das Satyrspiel unter den Kritiken bildete die Behauptung, der Ausdruck sei abzulehnen, weil er wie »Automobil« eine Hybridbildung aus einem griechischen und lateinischen Wort sei.¹³⁰ Abgesehen davon, dass derartige Wortschöpfungen etwa in der internationalen Medizin gang und gäbe sind, wäre der Erwerb von genügend Sprachkenntnissen anzuraten, um ein griechisches Wörterbuch benützen zu können.

    Wenn man demnach beim Wort »Ethnogenese« bleiben darf, ist zu fragen, ab wann sie für kürzere oder längere Zeit als erfolgreich gelten kann. Dies ist dann geschehen, wenn ein gentiler Sondername entstanden ist, wenn es in den Quellen nicht mehr heißt »die Slawen«, sondern »die Slawen, die Böhmen (Mährer, Karantanen) genannt werden«. Andrerseits treten gentile Sondernamen auch dann auf, wenn eine übergeordnete Ethnogenese zu scheitern droht oder schon gescheitert ist. Während Caesar vor seinem Sieg über Ariovist von dessen germanischem Heer spricht, zählt der römische Feldherr danach die einzelnen Völker auf, die dem geschlagenen rex Germanorum gefolgt sind.¹³¹

    Wie weit reichen die Entstehung ethnischer Sondernamen und die Existenz ihrer Träger vor ihrer ersten schriftlichen Nennung zurück ? Im »Gotenbuch« wurden dafür als »Faustregel« eine oder höchstens zwei Generationen vorgeschlagen, was mitunter ausdrücklich als einsichtig übernommen wurde.¹³² Faustregeln beruhen aber auf hausverständischen Erfahrungen, so dass man es sich leider meist erspart, dafür nach Belegen zu suchen. Das gilt etwa für die weit verbreitete Annahme, die Zahl der Krieger sei mit vier oder fünf zu multiplizieren, um von den eher überlieferten Truppenstärken die Bevölkerungszahlen eines Volkes hochzurechnen. Während für den Multiplikator fünf keine Stelle genannt werden kann, ergibt sich aus Caesar, De bello Gallico I 29, die Zahl vier.¹³³ Obwohl er sie im »Gotenbuch« hätte finden können, vermisst unser sprachkundiger Kritiker für die »ethnogenetische Faustregel« eine quellengerechte Begründung.¹³⁴ Sie sei hier gerne nachgeholt : Die Goten, die 238 erstmals an der unteren Donau auftauchten, griffen das Imperium als Skythen an. Im Jahre 268 besiegte Kaiser Claudius II. ein großes Gotenheer bei Naissus/Niš, erhielt 269 den Triumphaltitel Gothicus und hinterließ damit das älteste lateinisch-römische Zeugnis für den Gotennamen. Das heißt mit anderen Worten, die Erstnennung der Goten ist 31 Jahre ziemlich genau eine Generation nach ihrem Eintritt in die Geschichte überliefert, ja es ist der kaiserliche Siegesname, der es überhaupt erlaubt, die Skythen von 238 und den folgenden Jahren als Goten zu identifizieren.¹³⁵ Ein weiteres Beispiel liefert Livius in seinen Büchern 39–44. Er berichtet für die Zeit zwischen 186 und 169 v. Chr. von transalpinen, genauer, inneralpinen Kelten und sucht in seinen Quellen vergeblich nach ihrem gentilen Sondernamen. Obwohl er genaue Angaben über deren Verfassung und ihre Veränderungen machen kann, bleibt seine Suche erfolglos. Erst eineinhalb Generationen später werden diese Kelten als Noriker bezeugt. In der Zwischenzeit muss die Namen gebende norische Identität entstanden sein.¹³⁶ Umgekehrt lässt sich auch für das Verschwinden gentiler Sondernamen ein ähnlicher Zeitraum feststellen. So gibt es eine Generation nach ihrer Aufnahme ins Römerreich keine aktuellen Terwingen und Greutungen mehr, und die Quellen sprechen nur mehr von Goten.¹³⁷

    Legion sind die Fälle, in denen die moderne Literatur Völkernamen für Zeiten verwendet, da es ihre Träger noch nicht gab. Dahinter standen und stehen nicht selten nationalistische Intentionen, die den wissenschaftlichen Diskurs stören, wenn nicht zerstören. So schrieb Ludwig Schmidt seine »Ostgermanen« und »Westgermanen« als »Geschichte der deutschen Stämme«, obwohl man von den Deutschen nicht viel früher als dem Jahr 1000 sprechen soll.¹³⁸ Die Geschichte Liudewits von Siscia-Sisak wird von den fränkischen Reichsannalen zwischen 818 und 823, aber auch von den beiden Viten Kaiser Ludwigs des Frommen ausführlich und aufgrund guter Kenntnisse der ethnischen Verhältnisse geschildert. Obwohl in den drei Texten nirgends der Kroatenname vorkommt, gilt Liudewit in der modernen Literatur vielfach als Kroate.¹³⁹ Die Beschäftigung mit den frühmittelalterlichen Stämmen Böhmens geht zumeist von der Prämisse aus, sie seien bereits alle Tschechen gewesen.¹⁴⁰ Tatsächlich wird der Tschechenname erst am Ende des 10. Jahrhunderts in der altslawischen Wenzelslegende, und zwar sowohl in den beiden russischen wie in der kroatischen Version bezeugt.¹⁴¹ Man sieht, die vorgeschlagene Faustregel hat mehr als nur hausverständische Bedeutung.

    Ethnische Identität

    Wie Ethnogenese ist heute auch die ethnische Identität umstritten. Patrick Geary hat sie mit Recht als situational, als situativ oder situationsbedingt, bezeichnet. Man könnte ergänzend auch funktional sagen. So kommt es vor, dass je nach geschichtlichem Umfeld und opportuner Zweckmäßigkeit ein Odoaker als Skire, Rugier, Eruler, Gote oder Hunne angesehen wird. Oder eine Frau bekennt sich einmal als Langobardin, ein andermal als Römerin. Der Ire Bischof Virgil von Salzburg wird bei der Ausstellung von Urkunden wie ein Bayer an den Ohren gezogen.¹⁴² Wenn aber verschiedene ethnische Identitäten gewählt werden können, muss es sie objektiv gegeben haben, so dass sie aus der Geschichte des sich dazu Bekennenden zu erklären sind. Für engagierte Vertreter des modernen Nationalstaates wirkt eine solche Vielfalt möglicher Identitäten jedoch suspekt. Kein Wunder, dass ihre Ablehnung auch auf die Einschätzung der für die Antike und das Frühmittelalter konzipierten Terminologie abfärbt. Mit dem Begriff (ethnische) Identität hat es daher heute seine Schwierigkeit, da man ihn im besten Fall nicht mehr zu benötigen meint, im schlechtesten aber als Bedrohung ansieht.

    Bestimmte Sozialwissenschafter verstehen Identität als die potenziell explosive Verbindung von Selbstbild, Fremdbild und Wunschbild.¹⁴³ Diese Definition passt sehr gut für die Geschichte der Goten : In ihrem Selbstbild kommen die sozio-ökonomisch begründete Freiheit und das homöische Bekenntnis, libertas Gothorum und lex Gothica, vor, aber auch die Bereitschaft, zumindest der Königsfamilie, ihre Angehörigen »nach dem Gleichnis der römischen Herrscher« zu erziehen.¹⁴⁴ Für das Fremdbild waren die Goten zum einen das »Gift des Staates«, zumindest aber Häretiker und Trunkenbolde.¹⁴⁵ Zum andern galten sie als militärische Beschützer der Römer, wofür ihnen entsprechende Abgaben zustünden.¹⁴⁶ Aus der Sicht des römischen Spaniers und katholischen Bischofs Isidor von Sevilla haben die Goten Spanien von den Römern befreit und damit die politische Einheit der iberischen Halbinsel geschaffen.¹⁴⁷ Das Wunschbild zielte auf eine moderate Romanisierung der Goten ab. So verlangte Theoderich der Große die Aufgabe der materiellen Beigabensitte und die Errichtung der gotischen Gräber nach römischer Art, wie ihm auch das Diktum zugeschrieben wurde, ein guter Gote ahme die Römer nach, ein schlechter Römer die Goten. Theoderichs Minister Cassiodor machte aus der gotischen Herkunftserzählung eine römische Historie.¹⁴⁸ Identität ist demnach nicht etwas, das einem gleichsam wie die Kindheit übergestülpt (Heimito von Doderer) oder in das man ohne sein Zutun einverleibt wird, sondern etwas, das vom Einzelnen aktiv gewollt und angestrebt werden muss. Und als solcher hat der Identitätsbegriff noch lange nicht ausgedient, zumal er trefflich Entstehung und Existenz der »Frühen Völker« erklären kann. Walter Pohl hat im ersten Heft der »Annales« 2005 einen höchst lesenswerten Beitrag zum Problem »Identität« veröffentlicht und stellt darin fest, dass die allerorten auftretenden Identitätsprobleme und nicht erst die aktuelle Diskussion und Kritik des Identitätsbegriffes das Interesse daran geweckt haben.¹⁴⁹ Beste Beweise dafür liefern Pohls eigene bahnbrechende Montecassino-Forschungen,¹⁵⁰ Helmut Reimitz in seinem großartigen Buch »History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550–850« sowie die Arbeiten der anderen Wiener Mitstreiter, die sich mit dem Problemkreis »Text und Identität« befassen. Genannt seien zu diesem Zeitpunkt nur Richard Corradini, Max Diesenberger und Bernhard Zeller; doch wird sich ihre Zahl in Kürze stark vermehren.¹⁵¹ Sie alle verbinden die erwähnten Fragestellungen mit den Hilfswissenschaften, die ihrerseits jede fachliche und methodisch vertretbare Innovation dringend nötig haben, weil es ihnen derzeit nicht nur in deutschen Landen gar nicht gut geht.¹⁵²

    Zu Identität wird häufig das Adjektiv »ethnisch« gestellt und daher mitunter auch abgelehnt. Da éthnos und gens das Gleiche bedeuten, ist es auch sinnvoll, weil quellen-gerecht, die dazu gehörigen Adjektiva ethnisch und gentil nebeneinander zu verwenden. Gentil ist ein gut eingedeutschtes Wort, jedoch, wie Walter Pohl zeigte, belastet mit vielen schlechten deutschen Ideologien.¹⁵³ František Graus verwendet stattdessen gentilizisch,¹⁵⁴ wogegen nichts einzuwenden ist. Aber was fangen Italiener oder die französischen Kollegen mit diesem Wort an und was verstehen sie unter gentile oder unter gentil ? Doch alles andere als den Ersatz für »ethnisch« ? Und was ist mit gentilhomme und gentleman ?¹⁵⁵ Sollen wir vielleicht Ethnographie durch gentile Deskription ersetzen ? Sicher nicht. Das Problem lässt sich vielleicht lösen, wenn man zwischen vornationaler oder vorrevolutionärer und nachrevolutionärer oder – gemäß Eric Hobsbawms hoffnungsvoller, jedoch leider etwas zu voreiliger Annahme – postnationaler Ethnizität unterscheidet. Schließlich noch eine Überlegung : Die gentiles sind in den alten lateinischen Texten die Heiden, in vielen aktuellen Sprachen aber die »Gojim« im Gegensatz zum Auserwählten Volk oder zu den Mormonen. Das Wort »ethnisch« bedeutet zwar das Gleiche, kann aber heute, da das Griechische leider weniger präsent ist, Verwechslungen vermeiden helfen. Fazit : Man wird weiterhin das Wort und die Wortfamilie von »ethnisch« neben »gentil« verwenden.

    Stamm oder Gens

    Man könne, meinte Reinhard Wenskus, mit dem Stammesbegriff »einen guten Teil der Geschichte der politischen Ideen des 19. Jahrhunderts« schreiben.¹⁵⁶ Nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon versuchten die deutschen Historiker an die Zwölf Stämme des Auserwählten Volkes anzuknüpfen und damit den deutschen Stämmen gemeinsam mit dem angenommenen deutschen Gesamtvolk eine vergleichbare Auserwählung zuzuschreiben. Ebenso wurde der Stamm als gewachsene, naturhafte Wesenheit dem modernen bürokratischen Nationalstaat entgegengesetzt. Ganz anders nach der Reichsgründung von 1871 : Nun sollten die deutschen Stämme seit jeher bloße Unterabteilungen eines einzigen geeinten deutschen Volkes, das es nie gegeben hat, gewesen sein.¹⁵⁷ Wenskus war sich der Problematik des Stammesbegriffes sehr wohl bewusst, fand dafür auch die Zustimmung eines František Graus,¹⁵⁸ gab ihn aber in seinem grundlegenden Buch »Stammesbildung und Verfassung« nicht auf. Carl-Richard Brühl versuchte dagegen, den Ausdruck völlig zu verbannen, weil er erkannte, dass der Stammesbegriff für eine vergleichende Darstellung der Ursprünge Deutschlands und Frankreichs unbrauchbar ist.¹⁵⁹ Obwohl das Althochdeutsche bereits das Wort liutstam, Volksstamm, kannte, ist der Stamm heute in Verruf geraten und gilt deswegen als inkorrekt, weil er Vorstellungen von der naturwüchsigen genetischen Herkunft einer damit bezeichneten Gruppe transportiert. Diese Assoziation wäre ohne Zweifel unerwünscht; allerdings lassen quellengerechte Ausdrücke, wie gens, natio, genos, genus, genealogia, ebenfalls eine biologistische Interpretation zu.¹⁶⁰ Sie alle haben etwas mit Zeugung und Geburt zu tun und bezeichnen nichts anderes als Abstammungsgemeinschaften. Diese hatten jedoch keinen Sitz im Leben. Vielmehr umfasste ein »ganzes Volk« niemals alle möglichen Angehörigen eines Volkes. Zum andern bestanden etwa die beiden gotischen Hauptvölker, die südgallisch-spanischen Westgoten und die italischen Ostgoten, aus jeweils zehn und mehr verschiedenen Ethnika auch nichtgermanischer Herkunft.¹⁶¹ Reinhard Wenskus hat daher den Begriff gens bevorzugt und ihn als Erklärung sogar in den Untertitel seiner »Stammesbildung und Verfassung« aufgenommen.

    František Graus hätte dagegen Stamm, Volk und Nation am liebsten »aus dem Vokabular des Historikers« gestrichen, verwendete sie aber dann doch als »Notlösung«. Dabei siedelte er das Volk als Zwischenbegriff zwischen Stamm und Nation an und stellte fest : »Einfachheitshalber verwende ich daher das Wort ›Volk‹ zur gesamthaften Bezeichnung von Gruppen, die auf einem bestimmten Gebiet siedeln, eine gemeinsame Sprache sprechen und sich selbst mit einem bestimmten Namen bezeichnen.«¹⁶² Diese Definition berücksichtigt zwar nicht, dass die Quellen bis ins Hochmittelalter alle drei Kategorien unterschiedslos einer gens zuschreiben.¹⁶³ Der Satz muss auch hinsichtlich des Siedlungsgebiets und der Sprache zumindest um »mehrheitlich« ergänzt werden, und ebenso wenig ist die ethnische Selbstbezeichnung als Kriterium zweifelsfrei. Aber als erstes Verständigungsmittel ist dieser Volksbegriff brauchbar, da man mit seiner Hilfe in vielen Fällen auf Stamm verzichten kann. Für Erich Zöllner, der eine Geschichte der Völker im Frankenreich schrieb, standen diese »Völker noch am Beginn des Weges vom Stamm zur Nation«.¹⁶⁴

    Die Ersetzung von Stamm durch Volk ist jedoch nicht überall möglich. Sie scheitert schon bei der Stammesbildung, da Volksbildung im Deutschen ein Synonym für Volkserziehung ist. Stammesgenosse ist wirklich kein schönes Wort; aber an seiner Stelle Volksgenosse zu sagen, ist gänzlich unmöglich, weil dieser Begriff nicht bloß ebenso hässlich klingt, sondern vor allem durch seine nationalsozialistische Vergangenheit belastet ist. Das Gleiche gilt vom Eigenschaftswort »völkisch«. Nationsbildung oder Nationswerdung wären schon besser. Die Nation ist aber begrifflich durch die Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts besetzt. Vor allem wird man nicht in den Fehler verfallen, die Cherusker, Goten und Franken in eine »Geschichte der deutschen Stämme« aufzunehmen.

    Tradition und Traditionskern

    Ein besonderes Problem bildet die unterschiedlich lange Lebensdauer von Völkernamen. Manche, wie der Name der Goten, blieben zumindest ein Jahrtausend lang aktuell. Im südlichen Frankenreich, in der Gotia des 9. Jahrhunderts, führte ein gotischer Großer den Namen Galindus oder Galindo. Dies deutet darauf hin, dass sich in seiner Familie der Name der baltischen Galinden, mit denen die gutonischen Vorfahren der Goten mehr als 700 Jahre früher vergesellschaftet waren, auf eine nicht näher bestimmbare Weise erhalten hat.¹⁶⁵ Reinhard Wenskus hat für dieses Phänomen so gut wie ausschließlich die Träger von innergentilen Traditionen verantwortlich gemacht. Er fand sie im Königtum und im hohen Adel und bezeichnete diese, in den Quellen vielfach belegte, zweigliedrige gentile Führungsschicht als den »Traditionskern« eines Volkes.¹⁶⁶ Bereits František Graus war von dieser Begriffsbildung und ihren Voraussetzungen nicht überzeugt, und die Kritik ist ihm bis in die jüngste Zeit gerne gefolgt, nicht zuletzt weil es leichter fällt, eine siebenseitige kluge Rezension als ein umfangreiches gelehrtes Buch mit 656 Seiten zu rezipieren.¹⁶⁷ Der Verfasser hat zwar letzteres vielfach versucht, will aber den »Traditionskern« auch nicht länger gebrauchen noch gar verteidigen,¹⁶⁸ sondern bloß seine einstige Verwendung erklären. Als das Wort aufkam, gab es noch keine, geschweige denn popularisierte Genforschung, und man konnte den Begriff »Traditionskern« als Überwindung biologistisch-deterministischer Vorstellungen begrüßen, schien er doch die Vorstellung von den Völkern als unveränderlichen Abstammungsgemeinschaften durch ihre Darstellung als Traditionsgemeinschaften zu ersetzen. Auch standen die, vom Verfasser übernommenen Wenskus-Thesen nicht ausschließlich in der Tradition der deutschen Altertumskunde, wie manche Kritiker wahrhaben wollen.¹⁶⁹ So hatte Wenskus nichtdeutsche Vorläufer und versuchte anscheinend nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges nicht bloß, die deutsche Frühmittelalterforschung in geläuterter Form fortzusetzen, sondern sie mit anderen Gelehrten seiner Zeit an den internationalen Stand der Forschung heranzuführen.¹⁷⁰ Nach Ausweis des Literaturverzeichnisses und der, wenn auch nicht vollständig überprüften Legionen von Anmerkungen, die das Buch »Stammesbildung und Verfassung« enthält, hatte Wenskus freilich keine Kenntnis von H. Munro Chadwick. Der hervorragende Sprachwis-senschaftler, der jahrzehntelang in Cambridge lehrte, schrieb in einem heute noch höchst lesenswerten, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges abgeschlossenen Buch :

    Among the northern (sc. Celtic, Germanic, Baltic, and Slavic) peoples in early times there was in each state one family which formed its nucleus and backbone … It is probable that before the times of written records every royal family preserved, together with its genealogy, a traditional account of its origins and early history. The two together may be regarded as a kind of title-deed … For the Teutonic peoples the best examples come from the Goths, the Lombards and the Swedes … They (sc. these stories) belong to a world-wide genre of oral literature. They always contain, in varying degree, both historical and fictitious elements … Royal genealogies and stories of the older dynasties frequently begin with deities or with (heathen) religious associations. The royal family thus had their authority fortified by the sanction of religion, which was no doubt concentrated in the state sanctuary.

    An anderer Stelle liest man :

    They (the Teutonic invaders from east of the Elbe) formed the nucleus of German nationality; and with them the German language had its origin.¹⁷¹

    Das ist nicht weit vom Begriff »Germanisches Kontinuum« entfernt.

    Chadwick war kein Freund der Deutschen und vertrat diese Haltung nicht bloß in der Erwartung des endgültigen Sieges über die Nazi-Tyrannei und ihre Herrenmenschen-Ideologie.¹⁷² Aber über alle tiefen Gräben des Spätwinters 1945 hinweg schrieb er diese Sätze, die sich von den Quellen-Interpretationen nicht wesentlich unterschieden, die Schlesinger und Wenskus in den nächsten beiden Dekaden publizierten. Heute gelten freilich Begriffe wie »nucleus and backbone« oder »Traditionskern« als Verkörperung eben jener ahistorischen biologistischen, statisch-elitären und schlimmeren Vorstellungen, die unserem Weltbild – Gott sei Dank – fremd geworden sind. Tatsächlich vermittelt ein Kern das Bild einer festen geschlossenen Einheit, eine Vorstellung, die in die Geschichte übertragen den Eindruck einer durch die Jahrhunderte unveränderlichen Größe vermitteln würde. Eine für unsere Fragestellung durchaus unwillkommene, weil falsche Assoziation. Um diese zu vermeiden, sprechen wir nicht mehr von Traditionskernen, sondern von Trägern einer Tradition. Schon Wenskus hat diesen Ausdruck verwendet, aber auch bemerkt, dass die Annahme, ein Traditionskern sei durch eine genetische Kontinuität bestimmt, völlig ahistorisch sei.¹⁷³ Tatsächlich ist der Mensch dasjenige Lebewesen, das sich seine geschichtlichen Vorfahren selber machen und aus den möglichen Traditionen die für ihn je aktuell passende Überlieferung – situationsbedingt und funktional – auswählen kann.

    Dazu kommt der fachliche Vorwurf, der Begriff »Traditionskern« werde als Subjekt der Überlieferung behandelt, die Tradition selbst aber als objektiv fassbar vorausgesetzt, obwohl sie in den allermeisten Fällen von »stammesfremden« Autoren niedergeschrieben wurde und so gut wie ausschließlich durch das Medium der lateinisch-griechischen Schriftlichkeit ging. Das ist zweifellos richtig. Allerdings vergleicht die antike Ethnographie das Fremde mit dem Eigenen, die barbarischen Phänomene mit den mittelmeerischen Erfahrungen und bedient sich dazu aller Mittel der interpretatio Romana.¹⁷⁴ Mögen die Interpretationen zutreffen oder nicht, das Darzustellende missverstehen, vergröbern oder gar verfälschen,¹⁷⁵ sie wären nicht anwendbar gewesen, hätte es das bisher Unbekannte nicht objektiv gegeben, so dass man es mit einem ebenso objektiv vorhandenen Vertrauten vergleichen, ja sogar gleichsetzen konnte.¹⁷⁶

    Jedenfalls wäre es ratsam, weniger von der Entstehung von Völkern und Stämmen als von den Anfängen ethnischer Identitäten zu sprechen, die sich an jeweils entstandenen Texten ablesen lassen. Mit der Überwindung biologistisch-deterministischer Vorstellungen war die Erkenntnis verbunden, dass eine Herkunftsgeschichte keine reale Geschichte einer bestimmten Herkunft wiedergibt, von der 1 : 1 Wiedergabe der mündlichen Überlieferung ganz zu schweigen.¹⁷⁷ Auch sind diese Vorgänge nicht bloß innergentil zu erklären, blieben doch Traditionen wie die durch sie begründeten Identitäten nicht nur aufgrund der Eigenwahrnehmung, sondern ebenso aufgrund der Fremdwahrnehmung lebendig, ja wurden vielfach erst von letzterer bewirkt, fortentwickelt und aufbereitet.

    Die antiken Autoren und ihre mittelalterlichen Nachfolger trugen zur Entstehung neuer ethnischer Identitäten bei, indem sie diese weniger bewirkten als reflektierten und ihnen einen Namen gaben. Dazu ein Beispiel : Die Goten wurden zu Geten, erhielten Noah oder dessen Urenkel Ashkenas zu ihren Stammvätern oder schlüpften in die Maske von Gog und Magog, der apokalyptische Völker des Alten Testaments. Diese Konstruktionen haben die Goten als Volk oder Völkergruppe weniger verändert als vielmehr ihre jeweiligen ethnischen Veränderungen gespiegelt und so neue Identitäten eher bestätigt, als aus dem Nichts geschaffen.¹⁷⁸ Alle diese Phänomene haben mit Tradition zu tun. Selbstverständlich ist darunter keine bis heute ungebrochene und ununterbrochene mündliche Überlieferung zu verstehen, etwa materiell vergleichbar mit dem Dom zu Syrakus, in dem sich bis heute wichtige Bauelemente des Athene-Tempels aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert erhalten haben. Auch konnten Traditionen mit Verzögerung aufgeschrieben werden. So hatte das Rugiland der langobardischen Überlieferung seinen Sitz im Leben nur in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, wurde aber erst im 7. Jahrhundert aus der Volkssprache in die lateinische Literatur übernommen.¹⁷⁹ Mitunter musste die Verschriftlichung mehrmals geschehen, wie

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