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Am Hindukusch Nichts Neues
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eBook335 Seiten4 Stunden

Am Hindukusch Nichts Neues

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Über dieses E-Book

Über die Sinnlosigkeit des Krieges:
Eine junge Bundeswehr–Soldatin erlebt den Krieg in Afghanistan in allen Facetten.
Sie wird Zeugin der chaotischen Umstände und der zahllosen Menschenrechtsverbrechen der Kriegsparteien, verliert Freunde und gewinnt neue dazu.
Zurück in der Heimat trifft sie desillusioniert auf ihre ehemaligen Gegner, die mittlerweile in Bremen leben.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum24. Apr. 2019
ISBN9783748702351
Am Hindukusch Nichts Neues

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    Buchvorschau

    Am Hindukusch Nichts Neues - Marinella van ten Haarlen

    Unverhoffte Rückkehr

    Marinella Charlotte van ten Haarlen

    Am Hindukusch

    Nichts

    Neues

    Deutsche Ausgabe

    Dieses Buch ist erschienen bei kasaan media publishers

    bookrix edition

    Es gilt die ISBN Nummer von bookrix

    1. Ausgabe: April, 2019

    All Copyrights by Marinella Charlotte van ten Haarlen, 1980-2017

    In Cooperation with kasaan media, Johannesburg, South Africa

    Bremen, Nîmes, 2014

    Dies ist ein Roman. Die geschilderten Ereignisse sind frei erfunden. Die geschichtlichen Ereignisse sind rein zufällig. Sie entsprechen dem Storyboard dieses Buches. Diese haben sehr wenig oder nichts mit der Realität und schon überhaupt nichts mit lebenden oder verstorbenen Personen zu tun. Das wäre rein zufällig. Sie orientieren sich lediglich an den damaligen und geschichtlichen Gegebenheiten.

    Nîmes, République française

    FSK ab 18 Jahren

    Für J.F. und A.A.

    Ohne Dich wäre das Buch nicht möglich gewesen,

    für R.M.S.

    Meiner Lektorin A.M.M.

    Würde hat etwas mit Dir zu tun, G.S.

    Auch für Dich, F.

    Und auch für Euch G. und C.

    Für meine Mutter und meinen Vater,

    meine Geschwister.

    Der Roman soll auch eine graue, letzte

    Hommage an meine Bremer Jahre darstellen.

    Zu Ehren der Freien und Hansestadt Bremen.

    Natürlich ist dieses Buch dem Titel nach angelehnt an das unsagbar gute, noch immer gültige Werk von Erich Maria Remarque.

    Jedoch hat sich, seit Remarque sein Werk veröffentlichte, nur sehr wenig verändert. Die Technologie, vielleicht der Stand der Bildung, aber der Wille zum Frieden ließ auch nach dem Zweiten Weltkrieg nach einigen, wenigen Jahren nach. Wenn es diesen überhaupt jemals gegeben hatte.

    Dieser Roman beruht auf Reportagen und der tatsächlichen Hilfe vieler.

    Gewidmet denen, die dem Frieden dienten, zumindest versuchten, diesem Ziel gerecht zu werden. Denen, die fielen für ein sinnloses Unterfangen.

    In einem Krieg, der laut den Politikern ein Friedenseinsatz war.

    Was für eine schäbige Lüge, wie der Grund, aus dem Afghanistan angegriffen wurde.

    Die Politik ab 2001 wirkt wie ein schlechtes Drehbuch.

    Bin Laden war ein Gewächs seiner Zeit und der Gier des gelebten Neokapitalismus. Die, die ihm folgten, ISIS etc., waren die brutalen Enkel derer, die die Schlächter auf den Plan riefen.

    Jedoch, Bin Laden war mit den westlichen Grundwerten wohlvertraut und spielte den Revolutionär einer Kaste von blutrünstigen Reformatoren des Islams. Er war für die neokonservativen Kräfte der richtige Mann am exakten Ort zur passenden Zeit.

    Er war nicht nur das Synonym des Terrors, sondern schlicht des Bösen, sicherlich nicht des Glaubens Islam.

    Es war die Zeit der Lügen und der gelebten Intoleranz auf beiden Seiten, Anfang des Jahrhunderts. Ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt suchte seine Akteure und fand diese überraschend schnell.

    Die Gier derer nach Macht zu befriedigen, die sonst ihre Ziele hätten aufgeben müssen. Das Streben nach Öl, nach einer Grundordnung, die die, die befreit werden sollten, überhaupt nicht wollten. Wahrscheinlich auch nicht verstanden. Die nichts von diesem Frieden kannten, da sie nur den Krieg, die blutige Diktatur einzelner Systeme erlebt hatten.

    Gewidmet auch denen, die den Gedanken von Professor Schumacher weiterführten, der dem vorbauen wollte, was sein politischer Enkel, Gerhard Schröder, aus seltsamen Kadavergehorsam gegenüber einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher, George W. Bush, und seiner zweifelhaften Administration tat. Was die Bundesregierung anrichtete, einen Teil des eigenen Volkes verarmen ließ, um diesen unheiligen Krieg der vermeintlichen Christen gegen die Moslems zu führen, ist unbeschreiblich und wird sich in den folgenden Jahren noch soziopolitisch rächen.

    Die Ignoranz dieser Tage stellte letztendlich die Weichen in eine Diktatur, die sich nur langsam entwickelte.

    Die Folgen des 11.9.2001 waren recht für den Masterplan einer sterbenden Großmacht, USA, die sich über alle Regeln der Zivilisation hinwegsetzte.

    Die CIA ist und war nicht die Heilsarmee, ebenso wenig wie die NSA.

    Eine ganze Glaubensgemeinschaft wurde zum symbolischen Feindbild für den Feldzug für das Öl, weil man sich nicht anders zu behelfen wusste. Weil man, so wahr man einem Gott half, in diesen Tagen des Verrats an allen zivilisatorisch erworbenen Errungenschaften vergaß, wie viele Soldaten gefallen, wie viele Soldaten im Zweiten Weltkrieg nicht nach Hause gekommen waren.

    Ein toter Soldat war schon zu viel!

    Ganze Völker wurden von den Amerikanern bespitzelt, belauscht und gedemütigt.

    Daraus entwickelten sich populistische Personalien, wie Erdogan und sein Hang zur Todesstrafe, sein Hang zur Unterdrückung ganzer Völker.

    Trump dürfte das schlimmste Beispiel sein. Jedes Wort über ihn ist zu viel.

    Für den, den man vermeintlich jagte, Osama Bin Laden, wurde es ein bequemes Spiel: Katz und Maus.

    Niemand sah ihn, hörte ihn, nur das Säbelrasseln der Amerikaner, die die Geister selbst gerufen und geduldet hatten, war laut vernehmbar. Von Bin Laden kannten wir, die Bürger dieser Welt, nur den Schatten, nicht aber seine Version der Geschichte. Vor einem ordentlichen Gericht hätte man seine Ansichten und die Darstellung des unbeschreiblichen Verbrechens vom 11. September 2001 und anderer zumindest anhören können.

    Mit geschickt inszenierten Bildern aus dem Lageraum des Weißen Hauses untermalt, wurde Bin Laden dann gerichtet oder zum Schweigen gebracht, je nach Betrachtungsweise.

    Junge Menschen, die nach Afghanistan gingen, kamen gebeugt und seelisch zerstört zurück aus einem Land ohne Hoffnung, ohne Anspruch auf den, auch in Kabul, ersehnten Frieden.

    So blieb eine weitere Lüge der internationalen Politik wie ein böser Fluch auf den Menschen hängen. Angst durch die verschärften Sicherheitsgesetze ermöglichte die Kontrolle, die Errichtung von einer scheinbaren Demokratie in der Demokratie, ohne diese eine Form der gewollten Diktatur zu nennen.

    Marinella Charlotte van ten Haarlen

    Nîmes / République française, 2017

    Bloubergstrand, Cape Town / South Africa, 2017

    Unverhoffte Rückkehr

    Anfang Mai 2010, Hansestadt Bremen

    Der ICE bremst so plötzlich, so heftig ab. Ein rotes Signal reißt mich aus den nicht enden wollenden Tagträumen.

    Aber ich will in den Träumen bleiben, ich will mich nicht losreißen, weil die Realität zu schmerzhaft ist.

    Die sonst so bodenständige Schwerkraft hört auf zu existieren.

    Es klappert, vibriert, schaukelt. Es tost. Es rattert, ist still, gleitet dahin, rattert wieder. Verstummt fast mit einem gequälten Pfeifen. Es klingt wie ein träges Atmen. Wie ein knirschender, monotoner Blasebalg.

    Langsam, mit starkem Widerwillen, kehre ich zurück in diese so grausame, bedrohliche, jedoch so beharrliche Wirklichkeit des realen, des existierenden Lebens. Ich sträube mich davor, dann aber reiße ich mich los aus dem friedlichen Wachtraum einer Welt ohne Menschen, ohne mich. Ohne Gegenstände, einfach aus einem bestehendem Vakuum. Ich will nur in dem Licht treiben.

    Ich strecke, recke den seelenlosen Kopf aus meinem so ovalen, gleichförmig geschwungenen Schneckenhaus, das ich von innen bemalt, verziert habe; in dem ich glücklich bin, in dem ich nichts mehr bin als der nackte Körper.

    Es riecht, es stinkt förmlich, wie eine mit Urin angesetzte Mischung. Eine Übelkeit erregende Melange aus abgestandenem, gezuckertem Kaffee aus silbernen Thermoskannen. Der Geruch nach schalem, über den blauen Teppich laufenden Bier aus zerknautschten, nunmehr über den Boden scheppernden Büchsen. Dazu mengt sich der Gestank von billigem, aus Asien importiertem Blümchen-Parfüm und faulenden, vergorenen Exkrementen aus der Toilette hinter mir.

    Die Tür geht automatisch auf und zu, auf und zu. Jede Minute zweimal, wie ein warmer, stickiger Wind, der den Automatismus, Mechanismus unsichtbar antreibt.

    Wie das Leben an sich. In sich.

    Ein Kind schreit, weint.

    Jetzt passiert der Waggon, die vielen Waggons hinter diesem, wie ein, in den sich auftürmenden, schäumenden Wellen schlingerndes Schiff mit lautem, deutlich vernehmbarem metallischen Knacken, wohlvertrautem Klicken eine der vielen, folgenden, der letzten Weichen.

    Die metallenen Räder drehen sich wieder schneller, gleichmäßiger.

    Die ersten, wichtigen, nahezu stechenden Sonnenstrahlen des nach diesem kalten Winter beginnenden Frühlings fallen warm durch das getönte, geschwungene Panoramafenster der nahezu leeren, unbesetzten 2. Klasse – wie ein leuchtender, in sich ausgebreiteter Fächer.

    Ein Servicewagen, der von einem lustlosen, unaufmerksamen Mitarbeiter geschoben wird, klappert, klingt hohl, wie leer. Er eckt in einem der engen Gänge an.

    Endstation Bremen, Bremen Hauptbahnhof.

    Es ist 10 Uhr. Kurz danach. Ich sehe auf die schwarzen, filigranen Zeiger, die sich in Zeitlupe zu bewegen scheinen.

    Wie meine Erinnerung, wie mein Leben.

    Mir wird klar, ich komme ohne Beine, nur mit gerade verheilten Stümpfen nach Hause, nach Deutschland.

    In meine früher so geliebte Heimat.

    Bremen, kehre ich nun zurück?

    Finde ich zu mir, erneut?

    Aber was ist Heimat?

    Die saftig grünen Wiesen mit Buntgefleckten, die abseits stehen an der verrosteten Badewanne, die zur Tränke umfunktioniert ist, und gemächlich wiederkäuen.

    Wo ist sie, diese Heimat?

    Wer hat diese mir genommen?

    Ein Stück Fleisch ist aus mir herausgeschnitten. Aus mir, mir nichts, dir nichts, kupiert?

    Arthur Rosebery spendet mir vom MP3 Spieler Spread a Little Happiness.

    Die Erinnerung an Afghanistan, an den Straßen–Bazar. An das kleine, zierliche Mädchen, das im Auftrag seiner Mutter die Platten ihres ehemaligen sowjetischen Liebhabers verkaufte.

    Woher der Vater des kleinen Mädels die alten Schellack Schätze hatte, bevor ihn Mujaheddin an den Betonsockeln einer ehemaligen Tankstelle aufhängten, mit langen Säbeln zerteilten, wusste niemand mehr. Er war einfach vergessen wie die abscheuliche Tat, die sein Leben beendete.

    Wer hat es gewagt, mir den Glauben an alles zu nehmen, diesen zu verkehren in seltsame, unbewusste, stumpfe Gleichgültigkeit?

    Nach allem, was ich sah, erlebte, in diesem so fremden, kargen, wunderschönen Land der Paschtunen?

    Das Land, für das ich kämpfte?

    Für den Sold eines jeden Soldaten. Aber gegen welchen Feind eigentlich?

    Gegen uns selbst wahrscheinlich, für die Macht und die ungestillte Gier einiger.

    Weniger für uns.

    Nein, für den alleinigen Glauben, dieser zivilisierte, der heilige, aber einzige christliche Glaube.

    Es war wie bei den alten, längst vergessenen Kreuzrittern, die gen dem fernen, wohl aber so wertvollen Jerusalem ritten, liefen, segelten - der Sonne entgegen. Mit funkelnden, schweren Rüstungen, entgegen derer, die sie für bekämpfenswert hielten.

    Es wurde nachträglich in der langen, absurden Geschichte der Menschheit zu einem unbestrittenen, blutigen Ruhmesblatt umgeschrieben.

    Die geschlagenen Akteure bewährten sich in diesem Stück, in dem sie sich selbst nicht mehr zurechtfanden.

    Richard Löwenherz kam hoch zu Ross zurück nach England, um seinen intriganten Bruder zu vertreiben. Robin Hood, ein zu seiner tristen Zeit ausgewiesener Dieb, gefürchteter Räuber, wurde in den Dekaden danach zu einem Volkshelden verklärt, verzaubert.

    Die gelebte, die verstandene Wahrheit sah und sieht immer anders aus.

    Waren wir die modernen Tempelritter? Unterlagen wir auch dieser unerklärten Mystik?

    War das versiegende Öl diesmal der Schatz?

    Der gefestigte Glaube, der eine Gott nur ein Vorwand?

    Wenige Freunde, viele erkannte und unentdeckte Feinde, Spitzel, Drogenhändler, kleine und große. Schieber, Kriegsgewinnler, Kriegsverlierer. Gedemütigte, durch Jahrzehnte geprägte, tief traumatisierte Frauen, die sich aus der Burka befreiten, den nächsten Tag wieder anzogen, weil sie sich nackt fühlten. Oder, weil sich ihre Männer so fühlten inmitten einer zerrissenen, durch den fortwährenden Krieg geprägten Gesellschaft. Kinder ohne Perspektive, mit starrem, kaltem und entschlossenem Blick.

    Für wen kämpfte ich?

    Für wen jetzt?

    Wenn nicht für mich selbst, sicher nicht mehr für meine zivilisatorisch gefärbten Überzeugungen.

    Deutschland? Europa?

    Die freie, so entwickelte Welt, die Krieg führen muss, um sich selbst am Leben zu erhalten.

    Wie ein gefräßiges, böses Raubtier, das die Schwachen in der Herde der Völker erlegt.

    Nein, der Glaube, der christliche Glaube?

    Nein, diesmal ist es die NATO, deren wirtschaftliche Interessen. Die der mächtigen, reichen Öl- und Waffenlobby, der gescheiterten Banken, derer, die gierig den Bonus am Ende des Jahres erwarten. Und auch bekommen. Auf immer und ewig.

    Europa und Amerika.

    Ein Handy klingelt zwei Reihen weiter, eine alte Melodie spielt auf. Etwas aus den 1930er Jahren. Ein Stück aus einem verrauchten, vom feinen Parfüm und dem Schweißgeruch der erschöpften Tänzer erfüllten Club, in dem abgegriffene, cremefarbene Elfenbeinfilterspitzen auf dem polierten runden Mahagoni liegen.

    Die Band macht gerade Pause, auf die abgestellten Instrumente fällt das fahle Mondlicht durch ein milchiges Fensterglas. Ein Champagnerkorken knallt. Frauen mit langen Federboas, grell geschminkt mit dickem Rouge, kichern in einer Ecke. Ich stehe auf, will tanzen, wo ist mein Tänzer, wo ist der Mann, der nach herbem Rasierwasser duftet?

    Es kommt eine knabenhafte Frau im schwarzen Zweiteiler. Die Nadelstreifen sind auf dem Stoff wie lange Nähte aufgezogen, fransen hier und da schon einmal aus.

    Die Kapelle spielt nicht, die Figuren, die Szene in meiner Fantasie verschwimmt. Sie platzt mit einem lauten, unerbittlichen Knall.

    Ich will swingen, sehe meine nicht vorhandenen Füße, die so tänzeln, die sich so schnell bewegen können. Wenn sie nur da wären! Wo sind sie? Vor meinen Augen sehe ich das zerfetzte Fleisch in der Sonne Afghanistans faulen. Knochige, hungrige Hunde, die an meinen blutigen Unterschenkeln mit ihren spitzen, langen Zähnen kauen, beißen, reißen. In den gierigen Mäulern von Hyänen und Schakalen werden die Reste meiner Knochen zerkaut. Ich will sie zurück, die Beine gehören mir!

    Ich schreie still.

    Für einen winzigen, fast unmerklichen Moment lenkt es mich ab. Ich versuche wieder zu entfliehen. Immer noch blättere ich in der bunten Frauenzeitschrift. Sehe sehnsüchtig die kommende Sommermode, kurze Röcke, wehende Miniröcke. Lange, bunte Kleider.

    Wer war ich, wer bin ich?

    Was bin ich?

    Ein armseliger Krüppel. Eine Beinlose aus Afghanistan!

    Der mit dem verlebten, kantigen Gesicht, der unrasierte Mann, der mir gegenübersitzt, nervös auf seinem Platz herumrutscht, versucht schon die ganze Zeit mit mir ins Gespräch zu kommen. Er lächelt immer freundlich, hilflos, blickt verschämt auf die schmerzenden Stümpfe, um die die schlaffe Uniformhose gewickelt, geknotet ist. Er liest derweil BILD-Zeitung.

    Jetzt wirft doch die hilflose politische Opposition der Regierung vor, dass sie wegen der Tanklastzüge bei Kunduz lügt. Ein jeder von uns ahnt das. Zumindest die, die da waren. Das ist wieder eine Schlagzeile wert.

    Blut verkauft Auflage.

    Generäle und Minister Kriege.

    Die Politik macht die Kriege für Zeitungen.

    „Niemand glaubt euch Politikern mehr!", schreie ich mir stumm, wie gelähmt, zu.

    „Ihr sollt das Volk regieren, nicht das Volk verwahren. Für eure eigenen, ach so schäbigen Interessen, die uns als unbedingter Fortschritt verkauft werden."

    King Karzei und die Regionalbahn nach Dellbrück

    Es gab eine der wenigen Spuren zu einem privaten Waffenhändler in der Provinz Helmand. Helmand war weit entfernt. Und was hatte ein Waffenhändler in Helmand mit einem falschen deutschen Hubschrauberpiloten zu tun?

    Holger war die Angelegenheit unheimlich. Am Abend begannen die Trümmer zu rauchen. Ganz von alleine. So mir nichts, dir nichts. Von den Händen eines Gotteskriegers angezündet. In den Trümmern lag für mich auch die Idee der Befreiung Afghanistans - die konnte es nicht geben, solange die Taliban nur durch US-Sicherheitskräfte ersetzt wurden. Ein Platzhalter wurde durch den nächsten getauscht und so weiter. Wer der Pilot war, fand auch sicherlich der Chefermittler des Militärischen Abschirmdienstes in Kabul nicht heraus. Zumindest waren die Jungs am Abend eingetroffen. Ein buntes, unangenehmes Völkchen. Der Major des MAD wirkte wie ein Quizmaster, er stellte ständig Fragen.

    „Vielleicht soll er es auch nicht herausfinden", bemerkte Holger und schaufelte Unmengen von Ravioli in sich hinein, die er in der Mikrowelle im Casino von Camp Nikolaus zubereitet hatte. Einige waren geplatzt und sahen aus wie kleine Männchen nach einem Bombenangriff der Amerikaner.

    „Die brauchen den Umsatz, um den Krieg führen zu können", entgegnete ich ihm. Nach dem Essen fraß er die Tabletten regelrecht in sich hinein. Es dauerte noch Wochen, ehe ich herausfand, dass er Antidepressiva schluckte. Eigentlich war er nicht mehr diensttauglich, aber auch das stand auf einem anderen Blatt. Am Morgen darauf fand eine afghanische Patrouille die beiden toten Besatzungsmitglieder aus dem abgestürzten Hubschrauber. Den Verwundungen nach waren sie vor ihrem Tod gefoltert worden. Es gab gleich einen Verdächtigen, den alle hier King Karzai nannten. Das allerdings klang hier wie ein Schimpfwort. Dieser Mann war zweifellos ein allseits verdächtiges Phantom. Niemand hatte ihn je gesehen, gesprochen, gehört oder ihn leibhaftig zuordnen können. Wobei leibhaftig den Nagel auf den Kopf traf. King Karzai war der Geist aus der Flasche, aus der Büchse der Pandora. Angeblich war er in einem Kölner Vorort aufgewachsen, einmal in Chorweiler, dann im Kölner Osten, bei Dellbrück. Gleich neben einem Restaurant mit rheinischen Spezialitäten. Gerüchte besagten, King Karzai sei immer mit der Regionalbahn bis an den Bahnhof Dellbrück gefahren, darüber wusste jeder alles - auch dass er immer bei McDonald‘s am Barbarossaplatz in Köln zu finden war, einem Joint nie abgeneigt gewesen war, auch gerne betete.

    Früher, Anfang des Jahrtausends, las er Bravo oder andere Jugendzeitschriften, mehrfach soll er in Messerstechereien wegen Mädchen verwickelt gewesen sein. Auch über seine Mutter, die nach seinem Verschwinden genauso rätselhaft untertauchte, wusste jeder alles und nichts. Seit 2002 war King Karzai einer der treuesten Gefolgsleute Osama Bin Ladens. Weder den einen noch den anderen sah man irgendwo. Manchmal wurde er auch Dummy Karzai genannt.

    King Karzai war eines von vielen Phantomen, die die USA geschaffen hatten, um sich überhaupt einen Gegner vorstellen zu können. Er versteckte sich, der langbärtige und drahtige Asket, der wie Bin Laden nur vom Koran lebte. Essen war out, natürlich auch jegliche Form des Vergnügens.

    Unvermittelt meinte Heiko, als er das letzte Stück Ravioli aus der Dose löffelte: „Ich wette mit dir, eines Tages sitzen Clinton, Rice und Obama zusammen und spielen der Welt ein gigantisches Theater vor dem Fernseher vor. Da wird es computeranimierte Männchen geben. Hubschrauberlandungen, wie damals in der Wüste bei Teheran, als sie die Geiseln aus der Botschaft befreien wollten - dann in schattiger Nacht, ein paar Mauern auf Grünlicht-Bildschirmen, er dachte nach, „bestimmt ein Pool, in dem Bin Laden gebadet hat und dann die Erfolgsmeldung, dass der meistgesuchte Terrorist auf der Welt beim gezielten Einsatz der Ledernacken getötet wurde. Die Leiche wird eingeäschert und niemand wird den toten Bin Laden je wiedersehen - schwuppdiwupp!

    „An Märchen glaube ich nicht mehr, zumindest seit ich in Camp Nikolaus meinen Dienst an der Freiheit versehen darf", stand ich auf, mir war schlecht. Aber Heiko lag richtig.

    Heiko wusste, woher auch immer, dass es Millionen an Bord des Helikopters gewesen waren, frisch banderoliertes Geld aus einer Bank in Genf in der Schweiz.

    Was hatte die Bank in der Schweiz damit zu tun?

    Ich fühlte mich wie ein Herz Jesu-Kind.

    Markus, der mir von Anfang an suspekt gewesen war, spielte wieder Ballerspiele auf der Konsole, diesmal erschoss er kleine Afghanen. Kinder und Frauen zählten nur die Hälfte.

    Tagsüber fuhr er die ferngesteuerten Panzer der Pioniere.

    Das Gehämmer der virtuellen MGs ging die halbe Nacht, dann schlief auch der Blondschopf Markus ein. Er schrie immer im Schlaf und er rief nach seiner Mutter, seinem Vater. Er war ein armes, sehr verlassenes Schwein. Die meisten im Zug mieden ihn, aber seine Zeit hier war in wenigen Tagen abgelaufen. Als schon der erste Hahn krähte, ein Tier aus Deutschland, das große Probleme mit der Zeitumstellung hatte, schlief auch ich ein.

    Am Morgen danach war wieder der alte Trott da und es wurde über Tom Neumann geredet, er schien der nächste untragbare Geist in der Truppe zu werden. Im Casino begann das Gras zu wachsen, wenn auch nur sinnbildlich.

    „Er hat Berichte gefälscht, folgt man diesem Hajo von den Feldjägern. Er sollte die Afghanen in einer Form darstellen, die recht ungünstig war, um halt Säuberungen gegen die Taliban durchführen zu können! Angeblich entsteht eine neue militärische Gruppe, die auch mit Syrien und dem Irak verbunden ist." Noch verstand ich nicht, was Heiko damit meinte, aber Tage später, nach meinem ersten Patrouillengang, schon.

    „Die Feldjäger", äffte er einen der Unteroffiziere nach, die sich wie die Aufpasser aufspielten, mischte ein wenig Hitler hinein, was mich extrem abstieß und der geschundenen Truppe der Feldjäger Unrecht tat.

    „Wenn die Schupos ganze Kerle wären, wäre Neumann nicht mehr zurückgekommen und die Weiberärsche wären nicht hier. Die sollen in der Küche Kartoffeln putzen und sonst für unser Wohl sorgen, Truppenbetreuung eben, aber nicht in der kämpfenden Truppe."

    Für ihn waren wir - und daraus machte er, während er zahlreiche Erdnüsse verspeiste, keinen Hehl - keine Soldaten, sondern allenfalls Störenfriede innerhalb des Zuges. Er reduzierte uns Frauen in seinen weiteren schwülstigen Ausführungen auf zwei Brüste mit wachen Augen und extrem kleinem Gehirn.

    „Stell dir mal vor, wir werden von den Gegnern Hopps genommen und Ihr werdet vergewaltigt, willst du von einem Kameltreiber ein Kind kriegen?" Er verachtete augenscheinlich die einheimische Bevölkerung zutiefst, ich nahm die Karten auf, bemerkte beiläufig:

    „Ich habe eine Spritze dafür bekommen."

    „Wenn es man Spritzen gegen die Taliban gäbe. Die regieren das Land bald wieder und wir sind umsonst hier gewesen." Jörn ging und Heiko winkte ab.

    „Arschloch!", der Ton war brutal und dem Umstand des Krieges angemessen.

    „Sexistisches Nazi-Arschloch", fügte ich hinzu und legte den Stich vor Heiko auf den Tisch, der daraufhin sein Gesicht verzog.

    King Karzai, der Anti-Held, rückte nochmals in unser Blickfeld, als wir am Abend neue Nachrichten aus Kabul bekamen. Eines seiner angeblichen Verstecke war durch eine Pioniereinheit aufgefunden worden. Das war genauso unglaubwürdig wie die Pioniere von „Yellowstone", die flugs - ich wollte es gar nicht glauben, als Heiko es mir erzählte - die Liegenschaften von „Loops" übernommen hatten. Der Vizepräsident der Sicherheitsfirma war in seiner gepanzerten Limousine in Kabul, auf einer Ausfallstraße, in die Luft gesprengt worden. Er regnete danach in kleinen Stücken vom dieselgeschwängerten Himmel über der afghanischen Hauptstadt.

    Als sich der Pulverdampf legte, die Fetzen des 1,90 m Hünen aus Wisconsin aus dem Wrack geholt wurden, übernahm „Yellowstone" die Geschicke der Firma.

    Damit waren auch die Unannehmlichkeiten wegen der Maschine, in der die Landsknechte der „Loops" aufgefunden worden waren, schnell geklärt.

    „Ich kann und will es nicht glauben", erklärte Heiko, der wieder Ravioli in sich hineinstopfte, „das Geld und die Edelsteine wurden an „Yellowstone" zurückgegeben."

    In der Nacht träumte ich schlecht. Was hieß schlecht, so schlecht, dass ich ständig versuchte, vor mir zu fliehen. Immer wieder wurde ich von Alpträumen geplagt, seitdem ich in Camp Nikolaus angekommen war. Diese Bildfolgen waren so real wie die Wirklichkeit, der ich mich zumindest im Schlaf entziehen wollte.

    Selbst in der Nacht marschierten wir, die Kameraden liefen vor mir wie Schatten, die ich zwar an den Stimmen und den Schritten erkennen konnte, jedoch nicht an den Gesichtern. Mein Traum spielte sich in Deutschland ab - an der Bahnstation in einem Vorort von Bremen, Lesum. Manchmal war ich auf dem Weg zu einer Freundin durch die Tristesse der Bremer Vororte gereist. Verlassene Geschäfte, die in der Flaute der Lehman-Pleite nach und nach zumachten. Mehr und mehr wirkte das Umfeld eines chinesischen Restaurants wie eine Wüste am Wasser. Da lief unser Zug nun durch, ich wunderte mich, wie die Realität uns einholte. Heiko schrie etwas, er stand neben einem ausgebrannten Bus der BSAG. Ich konnte ihn nicht verstehen, vielleicht wollte ich die Wortfetzen auch nicht hören. Jörn war verletzt, er lag mit einem Bauchschuss am Boden. Langsam breitete sich eine riesige Blutlache unter ihm aus, bis ein Zucken durch seinen Körper ging. Dann war er tot. Einfach so und nicht anders. Tot. Ich hörte in diesem Moment die Melodie eines Liedes von Donovan „Catch the Wind", sie verging nach wenigen Takten und verebbte.

    Das Metall des verkohlten Linienbusses qualmte noch. Der schwarze Rauch zog über die Gleise in ein angrenzendes Wohngebiet, aus dem plötzlich die Schüsse einer Maschinenpistole zu hören waren.

    Wir gingen hinter einem grauen Stromkasten der Bahn in Deckung. Ein Pick-up rauschte in einiger Entfernung vorbei. Auf der Ladefläche standen bärtige Männer hinter einem schweren Maschinengewehr, das auf das Dach aufgeschweißt worden war. Eine Schwalbe überflog den mit bunten, herbstlichen Blättern geschmückten Baum zwischen uns und den Guerillas, die augenscheinlich nun auch in Bremen kämpften. Ich spürte den Wind auf meiner Haut, den Geruch der Heimat.

    Eine Lokomotive rollte schnell vorbei, die Taliban oder wer auch immer es war, eröffneten das Feuer. Zu meinem größten Erstaunen wurden die Salven erwidert. Querschläger flogen nur knapp über unsere Köpfe. Im nächsten Augenblick, der unsichtbare Feind war verschwunden, fanden wir eine ganze Familie, die augenscheinlich bei lebendigem Leib verbrannt worden war. Schrecklich verkohlte Leichen, deren Gesichter wie die einer Mischung von Schwein und Insekt wirkten. Ich wagte einen Blick in die weite Ebene des Bremer Umlandes. Ich sah tausende Menschen ziehen. Am Horizont, dort, wo nur noch Salz- und Sandkämme sich abwechselten. Nichts war mehr erhalten, die unbekannten Krieger jagten die Flüchtenden. Einen bewussten Moment wirkte es auf mich wie der sprichwörtliche Exodus.

    Kurz darauf explodierte eine Handgranate, jemand schrie im letzten Moment: „Gas!" Es war zu spät. Alle

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