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Menschenkrank: Bilanz einer Spurensuche
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eBook1.711 Seiten25 Stunden

Menschenkrank: Bilanz einer Spurensuche

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Über dieses E-Book

Georgine Beeke erlebte eine Bilderbuchkindheit auf dem kleinen Hof ihrer Großeltern, obwohl der Krieg bei ihrer Geburt erst wenige Monate zurücklag und die Not der ersten Jahre auch ihr kleines Dorf an der Weser nicht verschonte. Eine Großfamilie mit fünf Geschwistern, einer fürsorglichen Mutter, einer hingebungsvollen Großmutter und einem bewunderten Großvater, dessen früher Tod eine erste Zäsur in das Leben des Mädchens brachte. Der Geborgenheit im Schutze der erwachsenen Frauen tat also zunächst kaum Abbruch, dass der tyrannische Vater einen düsteren Schatten auf das verletzliche Familienglück warf.

 

Der Zauber der Kindheit endete abrupt, als die Mutter überraschend starb und die Achtjährige unvorbereitet in die Welt der Erwachsenen gestoßen wurde. Der launenhafte und zum Jähzorn neigende Vater ließ kaum eine Gelegenheit aus, seinen Furor gegen die Kinder zu richten, und versetzte sie in einen Dauerzustand der Angst. Des Nachts schlich er sich zu seiner kleinen Tochter und ließ das Mädchen stets in einem unauflösbaren Wechselbad von Abscheu und unverbrüchlicher Vaterliebe zurück. Da äußere Mauern keinen Schutz mehr boten und auch die Großmutter sich nicht als Halt erwies, errichtete die inzwischen zur Jugendlichen Herangereifte stumm innere Mauern. Trauer ergriff sie, der der brüchig werdende Zusammenhalt der Geschwister nur wenig entgegensetzen konnte.

                          "Vaters in jedem Stein wohnender Geist                            wird auch nachfolgende Generationen
                                     unserer Familie ruinieren."

Die Prägung dieser Jahre bestimmte ihr weiteres Leben bis auf den heutigen Tag – bestimmten ihre Ehe, das Verhältnis zur eigenen Tochter, den Berufsalltag in der nahegelegenen Kleinstadt, die verwandtschaftlichen Bande und manch flüchtige oder einschneidend tiefe Begegnung. Georgine Beeke erzählt von Wunden, die nicht heilen. Und weil der Alltag immer wieder Zumutungen bereithält, sehnt sie sich nach den gelebten Werten der Großeltern und der vermeintlichen Einfachheit des Landlebens, wo einmal alles so vielversprechend begonnen hatte.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum14. Jan. 2019
ISBN9783743802742
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    Buchvorschau

    Menschenkrank - Georgine Beeke

    Vom Vater abgewandt: Großmutter Marte

    Als Großmutter 15 Jahre alt war, starb ihre Mutter. Marte, so hieß Großmutter, führte danach mit großer Umsicht den Haushalt in der kleinen Kate, bestellte den großen Gemüsegarten, versorgte das Kleinvieh, drei ältere Brüder, die als Handwerker arbeiteten, und den Vater, einen Tagelöhner. Marte ging leidenschaftlich gern zur Schule. Weil ihr zum Stillen ihrer Wissbegier und für ihren Lerneifer nur wenige Schulbücher zur Verfügung standen, hatte sie alle Gedichte daraus auswendig gelernt. Romane oder überhaupt Bücher zu lesen, auch wenn sie Zugang und Zeit dazu gehabt hätte, schickte sich für ein Mädchen ihres Standes nicht, von dem erwartet wurde, Hausfrau und Mutter zu werden. Dafür war ein Wäscheschatz notwendig, den sie sich selbst schaffen musste.

    Wie die meisten Mädchen im Dorf übernahm sie nach dem schwierigen Teil des Flachsanbaus mit geschickten Händen bereitwillig dessen Herstellung. Fertig gewebtes Leinen wurde am Dorfanger auf einer Feuchtwiese beim Mondschein zum Bleichen ausgelegt. Das war der schönste Teil der Arbeit. Mit berechtigtem Stolz und der Freude über das Ergebnis saß Marte mit den Frauen und Mädchen des Dorfes unbeaufsichtigt von stets Unmoral witternden Familienoberhäuptern am Wiesenrand und bewachte das kostbare Gut. Bei den Arbeiten in Haus und Garten halfen die ihr herzlich zugeneigten Brüder, bis die beiden Ältesten nacheinander das Haus verließen um zu heiraten. Der jüngste Bruder nahm sich bald seine Frau ins Haus. Er hatte die Pflicht übernommen, den Vater im Bedarfsfall zu versorgen, der sich nach dem Tod seiner Frau heimlich einer Witwe zugewandt hatte, einer Fremden, die zu entfernten Verwandten ins Dorf gekommen und geblieben war.

    Nach dem Einzug der Schwägerin verstaute Marte alles, was sie besaß, in einer kleinen Truhe auf dem Speicher und bewarb sich erfolgreich um eine Stellung als Haushaltshilfe bei einer Kaufmannsfamilie in Bremen. Bevor sie das Dorf verließ, verlobte sie sich noch mit einem jungen Mann, der einige Jahre älter als sie war. Mit seinem Vater, der todkranken Mutter und dem etwas kränkelnden jüngsten Bruder baute Wilhelm am anderen Ende des Dorfes ein Wohnhaus mit Stallungen. Die dem Lebensunterhalt dienende kleine Landwirtschaft entstand auf dem Grund, auf dem Jahre zuvor das alte Haus einer Brandkatastrophe zum Opfer gefallen war, die die Bewohner obdachlos gemacht und ihnen harte Entbehrungen auferlegt hatte.

    Bald nach diesem Brand und der Verheiratung seiner Schwestern waren drei von Wilhelms Brüdern nach ihrer selbstfinanzierten Lehre beim Dorfschmied auf Frachtschiffen nach Amerika ausgewandert als Hilfsmatrosen, um die Überfahrtkosten zu sparen. Im zunächst rasant wachsenden und nach guten Arbeitern suchenden Chicago hatten sie sich angesiedelt und es im Liftbau nach kargen, schwierigen Anfangszeiten zu einigem Wohlstand gebracht. Wilhelm jedoch, der Älteste und Verlobte von Marte, hatte sich den Eltern und dem jüngsten Bruder verpflichtet. Schweren Herzens und mit Fernweh hatte er die scheidenden Brüder unterstützt und ihnen in ihrem Bemühen geholfen, fern der Heimat in einer neuen, verheißungsvollen Welt ihr Glück zu suchen.

    Noch während er an Haus und Wirtschaftsgebäuden baute, wurde er zum Militärdienst eingezogen und verließ das Dorf, wie zuvor Marte. Er hatte gutgeheißen, dass sich seine Verlobte, bevor sie heirateten, ihre Aussteuer durch eine der wenigen ihr verbleibenden Möglichkeiten verdienen wollte. Bis dahin ihre Angelegenheiten für das Wohl ihres Vaters und ihrer Brüder in den Hintergrund stellend, hatte sie ein Einkommen nur durch den Lohn ihrer Arbeit auf dem nachbarlichen Gutshof erhalten können. Ihr ganzer Besitz lag in der kleinen Truhe mit selbst hergestellter Wäsche und wunderbar feinen Häkel- und Stickarbeiten.

    Die großbürgerlich noble Kaufmannsfamilie, der sie diente, ging ungewöhnlich anständig mit ihrem Personal um. Auch die Kinder wurden dazu angehalten. Weil Dienstboten nicht gestattet war sich zu wehren, durften sie nicht in eine kränkende Lage gebracht werden. Man ließ das Personal großzügig teilhaben an den Vorteilen des Lebens in der Stadt. Für Marte zählten vor allem die modernen Hygiene-Einrichtungen dazu, die auch dem Personal regelmäßige Bäder in warmem Wasser gestatteten. Sie genoss das Großstadtleben im kultivierten Großbürgertum. Es verschaffte ihr in ihrer knappen Freizeit Zugang zu Kultur und Bildung. In der feinen schwarzen Kleidung, den gestärkten weißen Schürzen und dem Häubchen auf den hochgesteckten, braunen Haaren fühlte sie sich sehr wohl. Ihr Verlobter wurde in der Zeit in Potsdam zum Tambour ausgebildet. Ein Besuch bei ihm, verbunden mit einem Ausflug nach Berlin, war Martes weiteste Reise gewesen. Noch bevor sie die geplante Rückkehr in ihr Heimatdorf antreten konnte um zu heiraten, brach der Krieg aus, ruinierte die Kaufmannsfamilie, riss sie auseinander und zwang Marte, vorzeitig in ihr Dorf zurückzukehren. Ihr Verlobter lag bereits vor Verdun.

    Den Lohn ihrer Bremer Jahre, ihrem Vater zu treuen Händen geschickt, hatte er seiner Geliebten geschenkt, die ganz genau wusste, wessen Geld sie für Kinkerlitzchen ausgab. Trotz ihres leidenschaftlichen Temperaments hatte sich Marte nur stumm von ihrem Vater abgewandt, als er diese Veruntreuung zugab. Die schönsten Stücke ihrer Wäsche fehlten in ihrer Truhe, und das, was übrig geblieben war, schaffte sie in das noch nicht vollständig fertiggestellte Haus ihres Verlobten, dessen Mutter kurz zuvor gestorben war. Marte hatte dafür noch keinen Schrank fertigen lassen können, als befohlen wurde, alles Leinen als Verbandsmaterial für Kriegsverletzte abzugeben.

    In einem kurzen Fronturlaub heirateten Wilhelm und Marte. Schwer verwundet und nach einer Verschüttung wundersam gerettet, kam Wilhelm nach dem Krieg nach Hause zurück. Im Jahr darauf wurde dann meine Mutter in eine entbehrungsreiche Zeit hineingeboren. Großvaters Enttäuschung über ein Mädchen war so groß, dass er sich weigerte, über einen Namen nachzudenken. Außer Minchen oder Mariechen, behauptete er, würde ihm ohnehin nichts einfallen. Durch einen geschickten Hinweis setzte Großmutter den Namen Fanny durch, indem sie Großvater auf den von ihm sehr verehrten Wilhelm Busch hinwies, den er als Schuljunge bei einem Klassenausflug in dessen nahegelegenem Heimatort noch persönlich kennengelernt hatte, wo dieser im Haushalt seiner Schwester Fanny bis zu seinem Tod versorgt worden war.

    In den schweren Zeiten hielt Großmutter zäh daran fest, es in ihrem Leben doch noch zu gottgefälligem Wohlstand bringen zu können, als sichtbares Zeichen für Fleiß, Ordnungsliebe und Ehrlichkeit. Während der Kriegsjahre und danach sicherte ein Garten, wunderschön am Fluss vor dem Dorf gelegen, an zwei Seiten begrenzt von Fliederhecken, der Familie das Überleben. Großvater Wilhelm hatte ihn, 18-jährig, günstig von einer auswandernden Familie erworben und mit dem Lohn der Hand- und Spanndienste bezahlt, die er mit den zwei Ochsen seines Vaters für das Gut im Dorf verrichtete.

    Äußerlich hatte sich Großvater von seinen Kriegsverletzungen schnell erholt. Er ließ sich als engagierter Bürger von der jungen SPD in den Kreistag wählen. Inzwischen hatte er die begehrte Arbeitsstelle eines Glasbläsers in der nahen Hütte erhalten. Bevor das Geld für ein Fahrrad zusammengespart war, brauchte er eine Stunde Gehzeit für den Hinweg und eine für den Rückweg. Er war wie alle anderen Arbeiter auch an sechs Tagen in der Woche zwölf Stunden unterwegs. Der regelmäßige Lohn wurde für notwendige Anschaffungen und zum Sparen verwendet.

    Bald ersetzte ein Pferd das Ochsengespann. Eine Kutsche kam dazu, wobei Bedenken überwunden werden mussten, weil zu dem Stand, dem man angehörte, eigentlich keine Kutsche passte. Durch Personenbeförderung, hauptsächlich zum entfernt gelegenen Bahnhof, hatte sie sich bald bezahlt gemacht. Großmutter beackerte neben ihrer Arbeit im Haushalt freudig und klaglos die kleine Landwirtschaft, die ihre Familie mit dem Lebensnotwendigen versorgte und durch Zukauf von billigem Grund vor dem Dorf wuchs. Ihre Arbeit war nicht mehr und nicht weniger als das Tagwerk der anderen Frauen im Dorf. Mit nur einem wohlgeratenen Kind im Haus waren Sauberkeit und Ordnung, die sie so schätzte, vorbildlich.

    Ihrem 64 Jahre alten Schwiegervater war, zwei Jahre nach Fannys Geburt, von einer 49-jährigen Witwe ein Sohn geboren worden. Die alten Eltern heirateten erst am Tauftag des Kindes. Danach verließ Martes Schwiegervater das Haus, um den Hof seiner Frau zu bewirtschaften, auf dem sie mit ihrem kleinen Sohn aus erster Ehe und ihren Eltern lebte, die sich wohl einen jüngeren Schwiegersohn erhofft hatten, denn es ging die Rede von üblem Streit unter den drei Alten.

    Großvaters kränkelnder Bruder hatte auch geheiratet und bewohnte mit seiner schlichten, gütigen Frau Line und dem bald darauf geborenen Sohn den vorderen Teil des neuen Hauses. Wegen des unglaublich verwöhnten Söhnchens war es oft zu Spannungen zwischen den beiden jungen Familien gekommen, die sich aber nach späterem Auszug der Familie des Bruders in das eigene Heim lösten.

    Damit begannen die schönsten, erquicklichsten Jahre in Großmutters Leben. All ihr Wirken war segensreich. Während der Erntezeit packten hilfreiche Hände mit an. In Haus und Hof ging es fröhlich zu, denn Großmutter pflegte die Gastfreundschaft. Sie beherrschte die Kunst des Kochens und bot aus Küche und Keller rechtschaffen hungrigen Mäulern großzügig an.

    In diesen Jahren stiftete in der nahen Kreisstadt eine Dame eine Badeanstalt, in der jedermann für wenig Geld ein Wannenbad nehmen konnte. Einmal wöchentlich fuhr die ganze Familie in der Kutsche dorthin. In das große Haus ein Bad einzubauen, was sich für den Kleinbauernstand nicht schickte, wagte man wohl wegen der Lästereien und des Neides der Dorfbewohner nicht. Nur auf großen Bauernhöfen war mitunter schon eine Badewanne in einer Ecke der Waschküche zu finden. So blieb das auswärtige Badevergnügen den scheinbar etwas besser gestellten Kleinfamilien vorbehalten und denen, die es gern hatten, nicht ärger zu stinken als ihr Kleinvieh.

    Fanny wuchs heran und bereitete ihren Eltern weder Kummer noch Sorgen. In der Schule saß sie als eine der Klassenbesten immer mit in der ersten Bank. Neun Jahre war sie alt, als sie halbtot mit einem Blinddarmdurchbruch in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Arzt machte den Eltern nicht die geringsten Hoffnungen, aber sie überlebte und war nach langer Genesungspause bald wieder die Klassenbeste.

    Der Lehrer und Kantor, brutal, ungerecht und entnervt von vielen eigenen Kindern, nannte sie Fräulein Vertog (Hochdeutsch: verzogen), weil sie jeden Montag mit einer reinen Schürze in die Schule kam. Dennoch: Er überwand seine Vorurteile gegen Einzelkinder und Mädchen im Besonderen, und empfahl den Eltern, Fanny auf die höhere Schule in die Kreisstadt zu schicken. Großvater lehnte das strikt ab. Die Bitterkeit, mit der er sein Nichteinverständnis begründete, ließ den Schluss zu, dass noch immer Kummer über einen nicht geborenen Sohn an seinem Herzen nagte. Großmutter hätte gern anders entschieden, beugte sich aber dem Willen ihres Mannes. Sie wunderte sich weiterhin über die fortschrittliche Denkweise des Kantors und Lehrers. Einerseits stellte er Martes Reinlichkeit - aufrechterhalten durch mehr am Waschbrett verbrachte Stunden als andere Frauen - als etwas Entartetes statt etwas Nachahmenswertes dar, andererseits machte er keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Und sie wunderte sich über ihren klugen, auch in Frauenfragen fortschrittlich denkenden Mann, der entgegen seiner Einstellung bei seiner Tochter besonders strenge Maßstäbe anlegte und ihr nur zubilligte, was an Ausbildung nötig war, um eine gute Hausfrau zu werden. Von einer Tagung in der Großstadt brachte er ihr einmal ein kleines Akkordeon mit, das sie sofort, ohne Noten lesen zu können, zu spielen verstand.

    Nach der Konfirmation begann Fanny an ihrer Aussteuer zu arbeiten, und an Wochentagen besuchte sie die Haushaltungsschule in der Kreisstadt. An alle Aufgaben ging sie trotz ihrer Enttäuschung, sich nicht geistig bilden zu dürfen, mit großer Freude und bewies ihre Begabung und ihr Geschick bei besonders schönen und feinen Arbeiten, die im Wäscheschrank verwahrt wurden und die schön mit Weintrauben beschnitzten Möbel in unserer Stube zierten.

    Licht in beängstigender Dunkelheit

    Neben aufgeschnappten Erzählungen, die ich kaum begriff, war es wie Erfühltes, fast Greifbares aus dem Leben derer, die mich umsorgten, bevor Mutter mir neu erschien, ich sie als Besonderheit erkannte. Kurz: als sie bei mir durch eigenes Denken einen neuen Anfang nahm. Zwischen dem, was ich aus Gesprächen erlauscht oder aus Antworten herausgehört hatte, und dem Beginn, wie sich meine Mutter in meine eigenen Sinne grub, mir ins Bewusstsein drang, gab es für mich nichts. Wenn ich sie sah, sie hörte, sie schmeckte, roch oder fühlte, blieben die Bilder dazu in mir. Sie verwehten nicht mehr wie die, die ich instinktiv aufgenommen hatte. Bemerkungen über Mutter oder Erzählungen, begleitet von einigen wenigen Fotos aus ihrer Kindheit und Jugendzeit, malten die schönsten Märchen. Je nach Ausschmückung in meiner Fantasie war sie darin die gute Fee, die geheimnisvolle Nixe, die liebreizende Prinzessin, die prachtvolle Königin oder ein Engel.

    Ich litt sehr darunter, wenn ich von ihr ausgeschimpft wurde. Eines Tages hatte ich mich vor Kummer mit der Katze im Arm im Schuppen verkrochen. Dabei war ich nur mit dem gebrauchten Tornister, den ein Cousin mir geschenkt hatte, außer mir vor Freude über den noch in weiter Ferne liegenden Schulanfang, durch das Haus getobt. Nun überlegte ich, ob eine Fee mich dafür auch ausgeschimpft hätte. Als ich Langeweile verspürte, den Grund meines Verkriechens vergessen hatte und auf den Hof hinaus trat, wurde mein älterer Bruder Konstantin gerade mit dem Handwagen auf den langen Weg zum Bahnhof geschickt um Besuch abzuholen. Das Ereignis eines Besuches dieser Art verschwieg man mir wegen meiner unerträglichen Ungeduld und der daraus entstehenden übermütigen Ausgelassenheit.

    Es galt nun einiges nachzuholen. Die meine Beine umstreichende Katze interessierte mich nicht mehr. Vor Erwartung fast berstend stand ich bald mit dem Märchenbuch in der Hand aufgeregt und erwartungsvoll im Hoftor, trotz des Hinweises, noch mindestens drei Stunden warten zu müssen, was mir ohnehin nichts sagte. Der Besuch von Tante Anni und Onkel Hubert bedeutete immer, dass er uns aus dem dicken Buch vorlas. Meine Mutter hatte es als Kind geschenkt bekommen und sorgfältig behandelt. Jetzt war es zerfleddert und der kostbare Ledereinband war fleckig geworden vom vielen Blättern nach den Bildern im Buch, zu denen ich mir meist selbst Geschichten erfinden musste, weil niemand sonst aus unserer großen Familie mir den Herzenswunsch des Vorlesens erfüllte. Die Ankunft des Besuches hatte ich dann mit dem Buch in der Hand auf einem Heuhaufen in der Dielentür verschlafen, erschöpft vom vielen Entgegenlaufen und wieder Umkehren. Aber endlich saß Onkel Hubert in Großmutters Ohrensessel, der seine zierliche Gestalt fast verschluckte, und ich saß ihm mit meiner kleinen Schwester auf der Fußbank zu Füssen. Sein fremdartiges, gepflegtes Äußeres und seine noble Art zu sprechen sog ich begierig in mich hinein. Seine Fingernägel, die dort, wo meine rissig und schwarz waren, einen schneeweißen Halbmond bildeten, taten es mir besonders an. Doch seiner Empfehlung zu folgen, mir oft die Hände zu waschen, der Voraussetzung für schöne Nägel, schien mir schon nach einem Versuch zu umständlich. In den ersten Tagen ließ ich ihm keine ruhige Minute, da nützte Schelte von meiner Mutter gar nichts.

    Eines Morgens stellte ich mir wunderschöne Wiesenblumen auf den Nachttisch in das für den Besuch von meinen Eltern geräumte Schlafzimmer und wurde dafür sehr gelobt. Das nächste Mal fing ich mir unbegreiflichen Tadel ein mit der Begründung, dass es nun aber genug sein müsse. Wurde ich gescholten, was oft geschah, begriff ich nicht warum und war traurig darüber, nicht so fügsam sein zu können wie meine jüngere Schwester Friederike.

    Während dieser leider viel zu seltenen Besuche wurde mit Tante Annis Hilfe das Haus geputzt, in dem es friedlicher war als sonst, und meine Mutter nähte oder tat Dinge, für die ihr sonst keine Zeit blieb. In Onkel Huberts Nähe, an dem ich nach mehrfachem Hören meiner Lieblingsmärchen das Interesse verloren hatte, war immer Konstantin zu finden, der in der Zeit nicht nur nicht mit mir zankte, er beachtete mich nicht einmal, tat wundersame Dinge mit Onkel Hubert und ließ gar einmal einen wunderbaren, selbst gebauten Drachen steigen, wie ich es noch nie gesehen hatte.

    Als der Besuch abgereist war und alles darauf hindeutete, dass es sein würde wie zuvor, starb plötzlich Frau Girot, unsere Kinderhütefrau. Bürgermeister, Gemeindediener und der Doktor kamen und gingen. Neugierig stand ich mit unbeantworteten Fragen überall im Weg und wurde viel beiseitegeschoben, hatte gehört, aber nicht begriffen, dass Frau Girot mit einem der letzten Flüchtlingsströme in unser Dorf gekommen war. Ihre beiden Söhne waren fast noch Kinder gewesen, als sie als Soldaten fielen, und ihre einzige kleine Tochter war bei der Vertreibung auf dem langen Weg von Ostpreußen in den Westen erfroren. Ihr Mann galt als vermisst.

    Von meinem Großvater, der nach dem Ende von Generalfeldmarschall Montgomery auf unserer großen Diele persönlich zum Bürgermeister ernannt worden war und dieses Amt zwei Jahre bis zu seinem Tod innegehabt hatte, war ihr in unserem Haus ein Zimmer zugewiesen worden, das bis dahin als Wäschekammer benutzt worden war. Frau Girot hatte sich vor allem mit dem Hüten von uns Kindern nützlich gemacht. Dabei waren unbegreifliche Dinge geschehen, denn Mutter hatte mir oft eine runtergehauen, weil ich frech gewesen sein sollte. Frech zu einer Frau, die ich so sehr mochte - wie konnte ich das sein? Ging das überhaupt? Auch bei ihr erkannte ich meine Missetaten nicht, wenn es über mich hieß, schlimmer als eine Horde Jungen zu sein.

    Frau Girot, nur wenige Jahre älter als meine Mutter, hatte auf mich immer sehr abwesend gewirkt und selbst nie gestraft oder gescholten. Längst hätte sie ein ruhigeres Zimmer in unserem Dorf bewohnen können, aber sie hatte meine Mutter sehr gemocht und ihr die Treue gehalten. Morgens beim Flechten meiner Zöpfe war sie lange überzeugt gewesen, mir bald Löckchen flechten zu können. Einmal hatten ihre Tränen ihr vergrämtes Gesicht benetzt und ihre zitternde Stimme in ihrer seltsamen Sprache geflüstert, dass ihre Tochter auch blonde Zöpfe und braune Augen gehabt habe. Nur ein sehr stilles Kind sei sie gewesen, eher so wie meine jüngere Schwester, nicht so unbändig wie ich. Aus Löckchen war nichts geworden, stattdessen erschwerten es unzählige Wirbel, meine Haare zu Zöpfen zu bändigen, die sich im Laufe des Tages auflösten, was mir die Missbilligung aller erwachsenen wohlmeinenden Frauen um mich herum eintrug.

    Für viele weitere Aufgaben hatte sich Frau Girot unentbehrlich gemacht, darum wurde sie sofort vermisst, als sie morgens nicht zur gewohnten Zeit in der Küche erschienen war, um sich Waschwasser zu pumpen. Mutter war unruhig, wagte aber aus Zurückhaltung erst spät am Morgen, durch die unverschlossene Tür ihr kleines Zimmer zu betreten, wo sie sie tot im Bett fand. Ich hörte meine Großmutter, die auch erschienen war, zu Mutter sagen, dass sie sicher an gebrochenem Herzen gestorben sei.

    Ich vermisste Frau Girot sofort, weil ich herumgestoßen wurde und auf meine jüngeren Geschwister aufpassen sollte. Hinzu kam, dass mich ein bekanntes Gefühl für kurze Zeit still und stumm machte, das mich schon öfter beschlichen hatte, wenn ich Abschied nehmen musste:

    Zuerst vom Jungbauern vom gegenüberliegenden Hof. In seiner Nähe hatte ich mich gern herumgetrieben, ihn behindert und bei seinen Arbeiten gestört. Es war mir egal, dass ich für ihn unsichtbar schien und er, bis auf gelegentliches Drohen mit dem Zeigefinger, niemals auf mich eingegangen war. Statt Jesus, zu dem ich jeden Abend beten musste, hatte er in meinem Herzen gewohnt. Mutter lächelte noch immer über meine bejahende Antwort auf ihre Frage, ob ich ihn einmal heiraten wollte. Als an seinem Haus gebaut worden war, hatte das Löschen von Kalk meine ganze Aufmerksamkeit erregt. Nicht einmal durch wütende Befehle der Arbeiter, zu verschwinden und nicht im Weg herumzustehen, war ich zu verscheuchen.

    Bald darauf war die Hochzeit meines Freundes bekannt gegeben worden. Die Freude über das Ereignis durch die allgemeine Stimmung, wenn ähnliche Feste in Verwandtschaft oder Nachbarschaft stattfanden, hatte mich diesmal erst erfasst, als ein wunderschön umkränzter Zettel im Gemeindekasten - an unserem Haus angebracht - aufgehängt worden war. Zur Kirche, zur Trauung war ich nicht gelaufen und hatte vor wieder erwachter Traurigkeit darüber, etwas verloren zu haben, auf das Schatten verzichtet - so nannten wir das Spannen eines Strickes vor dem Brautpaar, um sie und ihre Gäste zum Herausgeben von kleinen Münzen oder Süßigkeiten zu zwingen. Später war ich mit einem silbernen Zuckerlöffel als Geschenk von Mutter in das Hochzeitshaus geschickt worden. Neben Großmutter in der Dielentür stehend hatte sie mir nachgesehen. Ein seltenes, trauliches Bild, das ich durch häufiges Umsehen in mich aufnahm. Besonders ihr ermunterndes Lächeln wegen meiner Scheu, in die blumengeschmückte Haustür zu treten, wie es Brauch war, um Glückwünsche zu überbringen und sich an der Haustür zum Dank ein dickes Stück Butterkuchen zu nehmen.

    Nachdem ich dann doch eingetreten war, konnte ich mich nicht dagegen wehren, mit meinem Geschenk auf die große, festlich geschmückte Diele an all den Gästen vorbei freundlich bis zum Ende des Tisches geleitet zu werden, wo mich eine fremde Frau in einem weißen Brautkleid mit einer wunderschönen Krone aus weißen Stoffblüten auf dem Kopf anlächelte, bevor ich meinen großen Freund bemerkte, angetan mit feierlichem schwarzem Anzug und ohne Mütze auf dem Kopf. Die weiße Stirn seltsam bleich über den roten Wangen, hatte ich ihn kaum erkannt. Ich hätte gern geweint, traute mich aber nicht. Nachdem ich der Aufmunterung gefolgt war, das Geschenk vor die Braut zu legen, war ich unter dem Gelächter der Hochzeitsgäste hinausgerannt.

    Mit genau dem Gefühl, das ich jetzt wieder verspürte, als mir bewusst wurde, dass mir Frau Girot verloren gegangen war, hatte ich ihn vermisst, obwohl ich ihn täglich sah. Aber es war ein anderer, dem ich verschämt aus dem Weg ging.

    Als mich die ersten Frühlingssonnenstrahlen an den Fluss getrieben hatten, war mit dem Wind das leise, von zu Hause bekannte Weinen eines Säuglings zu mir hinübergeweht. In die Richtung schauend hatte ich die junge Frau meines mich verschmähenden Freundes bemerkt, die sich über einen ähnlichen Waschkorb beugte wie den, in dem zu Hause immer ein Säugling lag. Aber da war meine neue Freundin Lia schon dagewesen, für meinen erwachsenen Freund hätte ich daher ohnehin keine Zeit mehr gehabt. Lias Ankunft war das für uns Kinder furchterregende Sprengen der Pfeiler der im Krieg zerstörten Brücke vorausgegangen. Ihr Vater war dabei gewesen, ein Taucher in seiner grausigen Arbeitskleidung, vor dem ich schreiend davongelaufen war, als ich ihn bei einem Streifzug am Fluss bemerkt hatte. Er war mir wie die lange Metsche erschienen, die angeblich im Fluss auf Kinder lauerte und uns fernhalten sollte, obwohl ich von ihr ein anderes Bild im Kopf hatte als ein großköpfiges, an Schläuchen gebundenes Ungeheuer auf zwei Beinen. Bald waren ihm seine Frau und seine Tochter Lia gefolgt und in unsere Nachbarschaft gezogen.

    Lia und ich hatten uns sofort angefreundet. Sie war ein sehr gut erzogenes, behütetes Mädchen. Während unserer Freundschaft musste sie wegen meiner angeblichen Grobheiten oft weinen. Ihre Mutter hatte mir einmal gar verboten, mich ihr zu nähern. Wie immer bei solchen Tadeln war ich mir keiner Schuld bewusst gewesen und unendlich traurig geworden. Aber nur kurz, denn Lia verzieh schnell. Zum Geburtstag hatte sie ein Puppengeschirr geschenkt bekommen. Obwohl ich nie mit Puppen spielte und auch keine besaß, beneidete ich sie um dieses Geschirr so heftig, dass meine Mutter mir auf mein Gejammer hin ein kostbares Jugendstilgeschirr gab, das sie als Kind von Verwandten aus der Großstadt geschenkt bekommen hatte. Es war vollkommen. Nach 14 Tagen in meinen Händen war kein Teil mehr heil. Ich war zu sorglos damit umgegangen und hatte es vor meinen kleinen Geschwistern nicht so geschützt, wie es erwartet werden konnte. Ich verteidigte mich damit, für meine Schätze nicht einmal ein Versteck zu haben, das vor ihnen sicher gewesen wäre.

    Meiner Freundin hingegen wurde nichts zerstört, sie musste vor niemandem etwas verwahren, und ihr kam nie ein lieb gewordenes Spielzeug abhanden. Alles was sie herstellte blieb erhalten. Stets gab es bei ihr auch Papier zum Malen, Stifte zum Zeichnen, vor allem aber Scheren zum Schneiden. Ich wünschte mir sehnlichst eine eigene Schere, hatte den Wunsch nur ein einziges Mal geäußert und wusste seitdem, dass Messer, Gabel, Schere und Licht nicht in Kinderhände gehörten. Lia dagegen durfte und konnte sogar schon wie eine Prinzessin mit Messer und Gabel essen. Später, in kalter Jahreszeit, hatte ich bei ihr in der Wohnküche, unter der Wasserbank hockend, alle erlaubten Freiheiten mitgenießen und in der Adventszeit gar mit Schere, Nadel, Faden und Stoffresten hantieren dürfen.

    Noch vor dem Weihnachtsfest war sie mit ihren Eltern fortgezogen. Die Arbeit des Vaters als Vorbereitung für das geplante Kraftwerk und die neue Brücke war getan. Ich hatte mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass es den stillen warmen Platz vor dem Herd in der kleinen Wohnung nicht mehr geben würde.

    Das seltsame Gefühl ohne Namen war noch durch kein freudiges Ereignis getilgt, als es mir durch Frau Girots Tod wieder stärker ins Gesicht blies. Dagegen hatte der Abschied von meiner braun gelockten Schwester Johanna keine Gefühle hinterlassen. Sie war bald nach Lias Fortgang an einem bitterkalten Januartag an Hirnhautentzündung gestorben. An der starren Hand meiner Mutter, durch die etwas Unbekanntes, Erschreckendes hindurchzuwallen schien, war ich an ihren kleinen, weißen Sarg geführt worden, um den ich sie wegen der goldenen Verzierungen, der schönen bestickten Decke und der darauf verteilten Blüten sehr beneidet hatte. Der Anblick ihres friedlichen, lockenumrahmten Gesichtchens war wie ein Bild aus dem Märchenbuch in meinem Kopf geblieben.

    Bis dahin war sie nur etwas gewesen, das ich im Kinderwagen mehr hin- und hergestoßen als geschoben und damit Frau Girot zum Einschreiten gezwungen hatte. Meine stille, freundliche, duldsame Schwester Friederike, die so sehr an mir hing, hatte vor Johannas Sarg, neben mir stehend, meine Hand gesucht, die ich Mutter furchtsam und erschreckt über die fremden, spürbaren Zuckungen entzogen hatte, und festgehalten. Friederike weinte, wie schon an dem Abend, als sie allein zum Schlafen in ihr Bettchen gelegt worden war, das sie bis dahin mit ihrer nur zehn Monate jüngeren Schwester geteilt hatte. Ein Teil von ihr lag in dem kleinen Sarg. Mein Blick war erstaunt auf sie hinuntergeglitten, auf ihr tränenüberströmtes Gesicht unter den Haaren, die die Farbe von reifem Weizen trugen und deren traurige Augen all die Pracht um unsere Schwester herum gar nicht zu bemerken schienen. Dann war Vater hereingekommen und wir waren von Mutter hinausgeschickt worden. Trotzdem hatte ich diesem störenden Mann verübelt fortgeschickt zu werden, und nicht Mutter.

    Ich vermisste meine Schwester Johanna nicht. Von all den Abschieden hatte ich ihren am schnellsten überwunden, der mir aus unerfindlichem Grund Friederike näher brachte. An Johannas Sarg war mir bewusst geworden, dass Friederike sich nie von meinem Gezeter abschrecken ließ, das ich fast täglich wegen der Aufgabe, meine Geschwister hüten zu müssen, veranstaltete. Sie war immer freundlich und schien glücklich, wenn ich mich mit ihr beschäftigte, was sie aber nie erzwang. Was lästig war, wurde mehr und mehr tröstlich, eine Wohltat wegen Mutters schmerzhafter Veränderung. Es war, als würde sie vor mir fliehen, als suche sie nach Verstecken, um sich etwas hingeben zu können, das ich nicht verstand.

    Nach Frau Girots Tod blieb die Stimmung im Hause verändert. Mich beschäftigte die Bedeutung des von Großmutter erwähnten gebrochenen Herzens. Es versenkte mich in unerklärliche Traurigkeit, wegen der ich mich einmal im Stall verkroch, bis ich zum Abendessen gerufen wurde. Ich würde Mutter fragen, ob Jesus aus einem gebrochenen Herzen herausfiel, weil er ja, wie ich aus meinem Abendgebet wusste, in einem reinen Herzen wohnte. Als ich durch den Stall zur Küche lief, hatte ich über mein Gespräch mit den Kühen die Frage schon vergessen. Friederike saß noch immer in der Holzkiste neben dem Herd, wo sie, wie so oft, seit Stunden mit Holzscheiten spielte. Von ihr war nur der Kopf mit den abstehenden Zöpfen sichtbar und ihr strahlendes Lächeln, als ich mich ihr zuwandte.

    Meine Frechheiten und Albernheiten, die mich bei den Erwachsenen so unbeliebt machten, fand sie lustig. Wenn ich auf ihre Artigkeiten aufmerksam gemacht und dabei wegen meines unbändigen Naturells und meiner Wildheit unbegreiflich getadelt wurde, fand ich gekränkt, dass das ein Leichtes sei, wenn man auf niemanden aufzupassen habe. Konnte ich mich dem Kinderhüten entziehen, hielt ich mich am liebsten im Stall auf oder in meinen Hütten im Stroh, die ich sofort verließ, wenn sie durch Entdeckung entweiht worden waren.

    Kein Wetter hielt mich im Haus, keine hohen Hecken und keine fremden, verschlungenen Wege in der Marsch, wenn ich während der Erntezeit für Besorgungen hin und her geschickt wurde, machten mir Angst oder waren mir zu weit. Kaum allein gelassen, sang ich laut die mir vertrauten, von meiner Mutter einst gesungenen, doch längst verstummten Kinderlieder, redete mit den Vögeln und den Blumen, mit den Wolken und der Sonne - und mit den Elfen, die sich in den Hecken verbargen. Kam mir ein Fuhrwerk entgegen, schwoll mein Herz beim Anblick der erschöpften Pferde, die sich willig ins Geschirr legten. Meine Kleidung war dauernd schmutzig und zerrissen. Ich mochte es, zu Feiertagen ordentlich gekleidet zu werden und litt darunter, dass dieser Zustand kaum eine Stunde lang anhielt. Schuhe, die für mich fast immer neu gekauft werden mussten, waren oft so voller Dreck, dass ich kaum darin laufen konnte und sie dauernd ausschütteln musste. Konstantin ging mit seinen viel sorgfältiger um. Er trug sie so lange, bis sie auseinanderfielen.

    Manchmal bekamen wir von Verwandten mit älteren Töchtern Kleidung geschenkt. Die regelmäßigen Paketsendungen unserer mütterlichen Verwandten aus Amerika enthielten leider nur feine, elegante, für uns völlig ungeeignete Stücke. Keines meiner Geschwister - sie waren mit dem zufrieden, was ihnen angezogen wurde - veranstaltete solch ein Geschrei wie ich, wenn wir im Winter handgestrickte, lange Schafwollstrümpfe anziehen mussten. Sie auf der Haut zu spüren, die sich bei mir sofort rötete und unerträglich anfing zu jucken, war für mich die reine Tortur, die mich nur aufregende Dinge vergessen ließen, die es um mich herum in Hülle und Fülle den ganzen Tag gab.

    Ich setzte mich mit meinem Butterbrot zu meiner Schwester auf den Kistenrand. Kauend schaute ich Mutter beim Hantieren zu. Dass sie anders war als sonst, brachte ich sofort mit dem Tod von Frau Girot in Zusammenhang. Mich befiel wieder heftig das bekannte, seltsam bedrückende Gefühl, es ließ mein Brot fade schmecken. Ich steckte es heimlich der Katze unter dem Herd zu. Als ich verhaltenes Zittern bemerkte, das meine Mutter schüttelte, die uns den Rücken zuwandte, stieg schmerzhaft die Erinnerung an einen sonnigen Spätherbsttag in mir auf, der verheißungsvoll begonnen hatte.

    Unterwegs, erst auf dem Fahrrad, hatte Mutter gesagt, dass ich neue Schuhe bekommen würde, um meine Ungeduld in erträglichen Grenzen zu halten. Vor Freude singend hatte ich meine Hände, Mutters Tretbewegungen mitmachend, auf ihre Oberschenkel gelegt, und mein Gesicht fest an ihren Rücken gepresst. Ein zum Jauchzen schönes Gefühl, sie so nah und allein für mich zu haben. So schön, wie während der Kartoffelernte auf ihrem Rücken zu reiten, was sie aber schon lange nicht mehr zugelassen hatte, höchstens bei den jüngeren Geschwistern. Auf dem Rückweg, mit weit von mir gestreckten Beinen auf dem Gepäckträger, um meine roten Schuhe gut betrachten zu können, hatte ich meine Hände wieder auf Mutters Oberschenkel gelegt und instinktiv die Beine angezogen, als sie durch eine tiefe Pfütze gefahren war. Mir war nichts geschehen, als meine Füße in den Speichen steckten. Schmerzen, vorausgesetzt sie waren unblutig, brachten mich selten zum Brüllen, aber die Schnalle des rechten Schuhs war abgerissen.

    Beim Weiterfahren hatte ich dieses beängstigende Zittern in Mutters Körper gespürt und gehört, wie sie hörbar Atem schöpfte, fast wie Wimmern. Mein Weinen war nicht aufzuhalten gewesen, als mir klar geworden war, dass sie mir nicht tröstend ihr Gesicht zuwenden würde. Zu Hause hatte sie mich mit gesenktem Kopf absteigen lassen und ihr Fahrrad in die Diele geschoben. Ich hatte mich ihr nicht wie sonst zu folgen getraut und vor dem Tor lange auf sie gewartet. Erst als Großmutter erschien und mit fragendem Blick auf mich zukam, war sie mit ruhigem Gesicht auf uns zu getreten. Der Sattler im Dorf hatte die Schuhe so gut es ging gerichtet und mich einen Schuhmörder genannt - ein bekanntes, zutreffendes und sehr beschämendes Wort. Wegen meines wunden Herzens um meine Mutter tat es besonders weh.

    Es lag noch nicht lange zurück und Schuldgefühle wurden unerträglich, als ich jetzt wieder das Zittern an ihrem Rücken bemerkte. Manchmal konnte ich bei ihrer Geschäftigkeit ihr starres Gesicht ein bisschen von der Seite sehen. Aber sie atmete wenigstens nicht so mühsam wie damals, woran ich mich besonders schmerzhaft erinnerte. Hemmungsloses Weinen wollte aus mir hervorbrechen, weil ihr offensichtliches Leiden nur mit mir zusammenhängen konnte, obwohl ich immer nur eines wollte: Mutter und niemandem sonst eitel Freude sein lassen.

    Am nächsten Morgen - jeder neue Tag brachte mich meinem sechsten Geburtstag und der ersehnten Schule näher - war alles vergessen. Konstantin hatte versprochen mir zu sagen, ab wann ich an meinen Händen - bis sechs konnte ich ja schon zählen - die Tage bis zu dem Ereignis ablesen konnte. Als ich an dem dämmernden Morgen meines Geburtstages mit nackten Füßen durch die Stube in die Küche trat, erwartete mich wieder das seltene, harmonische Bild mit Mutter und Großmutter, das mich viel mehr beeindruckte als der Gabentisch mit dem gewünschten roten Ball. Frühstückend saßen sie am Küchentisch, still und friedlich, und kamen mir lächelnd und gratulierend entgegen.

    Als bald darauf die Schule begann, war der Ball bereits kaputt, bei dessen Anblick im dämmernden Morgen mir mein ersehnter, zum ersten Mal als besonderes Ereignis empfundener Geburtstag wieder einfiel. Mahnungen und Warnungen in den letzten Tagen vor der Schule wegen meiner Unfähigkeit still zu sitzen, hatten meiner Vorfreude nichts anhaben können. Einen Tag zuvor hatte Mutter den Ranzen wieder hervorgeholt, den sie lange Zeit vor mir verstecken musste, weil ich ihn kaum vom Rücken genommen hatte und schon morgens zur Melkzeit überdreht und albern vor den Kühen auf und ab stolziert war und zu nachtschlafener Zeit Mutters einzige stille Stunde während ihres harten Tages gestohlen hatte. Nun wurde er mit einer gebrauchten Schiefertafel, an die ein gehäkeltes Tuch gebunden war, und einem Griffelkasten mit einem kaum noch erkennbaren Abziehbild gefüllt. Als es endlich soweit war, wurde uns vom Furcht einflößenden Hauptlehrer der Schule eine Junglehrerin vorgestellt, die ich sofort mochte. Sie sollte unseren Jahrgang übernehmen, der nur aus vier Jungen und vier Mädchen bestand, zusammen mit dem davorliegenden Jahrgang, ebenfalls durch die Kriegsjahre sehr spärlich belegt.

    Im folgenden Unterricht konnte ich durchaus still sitzen, weil alles kurzweilig und schön war. Fräulein Halb versuchte einen Kinderchor aufzubauen. Wegen meiner Stimme ließ sie mich oft vorsingen und versetzte mich damit in freudige Erwartung. Doch ihre Bemühungen wurden von unseren Eltern nicht unterstützt. In bäuerlicher Gemeinschaft verzichtete in den Nachmittagsstunden niemand gern auf die Hilfe der Kinder, und ein Kinderchor wurde - im Gegensatz zu dem äußerst wichtigen Kirchenchor - für Tüddelkram gehalten.

    Fräulein Halb gab auf. Ich selbst hatte erfahren, dass Wünsche, die einer Neigung oder einem Talent folgten und nicht unmittelbar zum Wohle der Familie beitrugen, als etwas Unschickliches, zumindest aber Sinnloses abgetan wurden. Was mich dennoch nicht sofort aufgeben ließ, um das eine oder andere zu betteln, sondern erst, nachdem ich als Brasse bezeichnet worden war. Es schmerzte, was immer das bedeuten mochte. Sanft und wunschlos wie ein Engel wollte ich sein. Aber noch lieber so, wie meine Mutter - nach Schilderung wohlmeinender alter und jüngerer Tanten - als Kind gewesen war ... oder wenigstens so, wie meine Schwester oder meine Schulkameradinnen, wie sie von ihren Müttern dargestellt wurden. Sehnsüchtig sah ich die Töchter des Gutshofes auf ihren Pferden. Doch nie hatte ich den Wunsch geäußert, einmal in einem richtigen Sattel auf einem Pferderücken über Felder und Wiesen galoppieren zu dürfen. Zu sehr waren unschickliche Wünsche in mir schon zum Schweigen gebracht worden.

    Obwohl bei meiner Lehrerin, die versuchte, gute Eigenschaften zu fördern, alles anders war, hielt ich mich verschämt zurück. Gegen ihre sanften Erziehungsmethoden waren unsere häuslichen nicht nur bei mir zu übermächtig. Ich hatte den Eindruck, sie hielt uns für verstockt. Vor lauter Zuneigung und um ihr zu gefallen log ich einmal, dass unsere Schwalben bereits Junge hätten. Mit der ganzen Klasse sind wir dann zu uns nach Hause gegangen und haben meine Mutter in arge Verlegenheit gebracht. Meine Lehrerin hatte mein Lügen sofort als Gunstbezeugung erkannt, Mutter um Nachsicht gebeten und mich getröstet, als ich beschämt vor ihr stand.

    Dass die kurze Zeit mit ihr zu Ende war begriff ich erschreckt, als Mutter vom Melken einen Strauß Veilchen mitbrachte, den ich Fräulein Halb überreichen sollte. Viel mehr als die Freude, meiner Lehrerin etwas schenken zu dürfen, machte mich in meiner Vorstellung ein Bild glücklich: Darin sah ich meine Mutter, wie sie sich zu den Blumen unter den geheimnisvollen Hecken niederbeugte, um für mich allein etwas Gutes zu tun, für eine Sache, die auch mir sehr gut gefiel und mich mit Mutter einte, denn bis hierher war die Schule so gewesen, wie ich sie mir vorgestellt hatte, sogar etwas schöner. Wieder ein Abschied.

    Nicht heftig von Anfang an, erst langsam trostlos werdend durch die Veränderungen in der Schule bei alten Lehrern, und dann endlich wieder unterbrochen von der frohen Kunde von Tante Annis und Onkel Huberts Besuch. Wie immer bei ihren seltener werdenden Besuchen stand ich erwartungsfroh mit dem dicken Märchenbuch in der Hand vor der Tür, in dem ich leider immer noch kein Wort lesen konnte, weil es in alter deutscher Schrift geschrieben war. Weil Tante Anni sich oft auf dem Handwagen ausruhen musste, mit dem Konstantin wieder losgezogen war, hatten sie unerträglich lange für den Weg vom Bahnhof gebraucht. Ich spürte, dass die Anwesenheit der beiden diesmal nicht den gewohnten Glanz bringen würde. Den Grund glaubte ich in Mutters Vorbereitungen zu erkennen, die nötig waren, um meinen jüngsten Bruder Moritz in ein Krankenhaus in die Großstadt zu bringen.

    Er hatte sich wie ein kleines Tier selbst sehr früh das Laufen beigebracht. Die Folge waren entstellende O-Beine, die ihn wie einen kleinen Affen aussehen ließen. Dieser Eindruck wurde durch seine vornübergebeugte Haltung, mit der er Stürze abfing, noch verstärkt. Auf dringendes ärztliches Anraten sollten die Beine durch eine Operation gerichtet werden. Für mich hörte es sich so an, als würde ich ihn bald in einem weißen Sarg sehen. Diesmal erschreckte mich die Vorstellung grenzenlos, obwohl auch Moritz mir nur ein Klotz am Bein war. Tante Annis und Onkel Huberts Anwesenheit lenkte mich nicht mehr so ab wie früher, und als Mutter davonfuhr, den Kleinen hinter sich auf dem Gepäckträger, lief ich ihr schreiend nach. Lange sah ich das zur Seite gefallene, weiße Bündel, um das Moritz krampfhaft seine kleinen Hände gelegt hatte. Es drohte ihm schon nach wenigen Metern zu entgleiten.

    Als Mutter spät in der Dunkelheit allein zurückkam, erlauschte ich trotz kaum wahrnehmbarer Stimmen aus ihrem Gespräch mit Tante Anni, dass er noch in ihrem Beisein an sein Krankenbettchen gefesselt worden war und mit entsetzt aufgerissenen Augen angefangen hatte zu weinen, als er spürte, dass sie ihn verlassen würde. Die Unterredung grub sich in mein Gedächtnis ein, weil ich einen unbestimmbaren Schmerz spürte, grausigem Entsetzen gleich, das mich mitunter im Dunkeln überfiel oder auch beim Anhören von Märchen, die dann aber zu meiner Erleichterung gut endeten. Allein der Schrecken, von Mutter getrennt zu werden, ließ mein Herz zu einem großen Klumpen anschwellen, der schmerzhaft pochte. Ohne mich körperlich verletzt zu haben, hielt es den Wunsch in mir wach, zu weinen und mit Erklärungen getröstet zu werden, doch mir blieb nur mich zu verkriechen.

    Während der Getreideernte hatte sich Mutters sechstes Kind angekündigt und mit der Geburt eine Zeit der Stille vertrieben, die nach Johannas Tod und Moritz' Abwesenheit spürbar gewesen war, und in der ich Großmutter Marte öfter als zuvor bemerkt hatte. Auch meine Großmutter Marie hatte ich nach Erklärungen über Verwandtschaftsverhältnisse, die ich nicht verstand, kennengelernt. Sie wohnte mit Vaters - mir ähnlich flüchtig wie ihm selbst bekannten – Geschwistern auf der anderen Seite des Baches, nur durch einen nachbarlichen Hof von uns getrennt. Diese neuen Eindrücke waren prägend gewesen, weil alles um mich herum mehr als je zuvor mir allein gehörte und Konstantin und Friederike meine Wahrnehmungen kaum gestört hatten.

    Ein weiterer Bruder, dessen Geburt Nachbarinnen mit Fragen nach meinem Wünschen über einen Bruder oder eine Schwester angekündigt hatten, und denen ich erschrocken eine Antwort schuldig geblieben war, bedeutete zunächst, für einige Tage zu Tante Schröder geschickt zu werden, bei der aufgegessen werden musste, was uns vorgesetzt wurde. Es war schlimmer gekommen: Sie hatte gleich mit mir geschimpft, als ich an einer Hand Konstantins - mit der anderen hielt er Friederike fest - in der Tür stand und mich lauthals über ihren dicken Popo wunderte. Wir durften aber schon am nächsten Morgen zurück, weil es unser neuer Bruder Niklas eilig gehabt hatte.

    Mutter lag wieder mit ihrem Bettzeug in der Stube auf dem Sofa. Sofort erinnerte ich mich, wie ich im Jahr zuvor zu Moritz hochgehoben worden war, um ihn im Wäschekorb zu begrüßen. Die freudige Empfindung, wie bei neugeborenen Tieren im Stall, stellte sich auch diesmal nicht ein, als uns die Frau mit der sauberen Schürze und dem lustigen Namen Hebamme hereingelassen hatte. Während meine Schwester an den Korb gehoben wurde, entdeckte ich unter dem Ofen in unserer Waschschüssel einen riesigen Klumpen dickes Blut. Aufgeregt fragte ich Mutter, was es sei. Sie wich mir matt aus und beschwichtigte mich mit dem Versprechen, es mir ein andermal zu erklären.

    Niklas interessierte mich noch weniger als Moritz nach seiner Geburt, aber der Blutklumpen ging mir nicht aus dem Kopf. Etwas Gutes konnte das alles nicht bedeuten, was ich in Zusammenhang mit einem neuen Menschen brachte, außer den kleinen Cremedöschen und Pudertüten, die Friederike und ich von der wunderschön in blauweißer Tracht gekleideten Tante Hebamme bekamen, die ich mir jetzt genauer ansah. Mutter blieb mir trotz meiner Ausdauer, mit der ich sie nach dem Schüsselinhalt fragte, die Antwort schuldig.

    Ich hörte an dem Tag mit der Quälerei auf, als ich wieder einmal ihren schon bekannten leidenden Gesichtsausdruck bemerkte. Offensichtlich fühlte sie sich unbeobachtet. In mir wallte bei ihrem Anblick ein Gefühl auf, wie bei all meinen Abschieden. Es hätte sehr geholfen weinen zu dürfen, aber das hätte ich begründen müssen und nicht können.

    Bald darauf wurde Moritz' Rückkehr nach über einem Jahr angekündigt, den aus meiner Familie niemand besucht hatte. Mit neuer Wucht packte mich das nicht vergessene Grauen bei dem Gedanken an seine Fesseln und von Mutter fortgerissen zu werden, als sie zum Bahnhof gefahren war, wo Moritz ihr von einer Betreuerin übergeben werden sollte. Schon ihre kurze Abwesenheit, ihr Davonfahren ohne mich, war zum Weinen schlimm. An der Hand eines jungen Mädchens aus der Nachbarschaft erwartete ich sehnsüchtig ihre Rückkehr. Mutter rief uns zu sich, als sie vom Fahrrad abstieg und Moritz hinter ihr sichtbar wurde. Scheu ließ ich mich mehr zu ihm ziehen, als zu ihm zu gehen. Mutter hob ihn vom Rad und legte seine kleinen Hände um den Gepäckträger, damit er sich festhalten konnte. An seinen dünnen Beinchen fielen mir sofort große Narben am Knie auf, die ich entsetzt anstarrte. Meine große Freundin schubste mich weiter zu ihm hin. Sein bleiches, starres Gesichtchen mit den traurigen braunen Augen erhellte sich, als er mir entgegen sah. Mutter nannte ihm meinen Namen. Als er scheu zu lächeln begann, was mit dem unendlich wehen Mund bis dahin nicht möglich schien, fing ich an ihn zu mögen. So sehr zu mögen, dass ich ihn gern umarmt hätte, aber das wäre unschicklich gewesen. Ich tat es in Gedanken und umarmte seine traurige Hilflosigkeit gleich mit, die mir nicht zu eigen war, die Mütter aber scheinbar liebten.

    Moritz blieb auch nach seiner Eingewöhnung still, mied uns und unser lautes Haus und gewann die Freundschaft einer erwachsenen Nachbarstochter. Mit ihrer Mutter und ihrem Vater, Friseur Kuhfuß, der allen Kindern des Dorfes den gleichen Haarschnitt verpasste, nahm sie ihn in seinen einsamsten Stunden liebevoll in ihre Obhut. Ich beneidete ihn um Onkel Kuhfuß´ Zuneigung, dem ich viel zu wild war.

    Moritz lief unverändert stakelig. Meistens wurde er mir zusammen mit Niklas aufgehalst, den ich im klapprigen Kinderwagen, an dem Moritz sich krampfhaft festhielt, über Stock und Stein schob. Seit Niklas sich darin aufrichten konnte, fiel er unzählige Male heraus. Es war weder Absicht, noch führte ich es herbei; ich wünschte wirklich, meine jüngeren Geschwister zu beschützen. Dabei litt ich an mir und mit ihnen, wenn es mir nicht gelang und sie weinen mussten.

    Konstantin, wenige Jahre älter als ich, verrichtete zu der Zeit die Arbeit von Erwachsenen. Damit gehörte er für mich nicht zu meinen Geschwistern. Er ging uns aus dem Weg und keines unserer Geschwister lief ihm nach wie mir. Nachdem ich erleben musste, dass er und nicht ich von diesem Mann in unserem Haus, zu dem ich Papa sagte, wegen einer Sache geschlagen wurde, die ich mit ausgeheckt hatte, mied ich ihn sogar wegen eines namenlosen Gefühls, das mich auch dann beschlich, wenn ich Schuld, oder was ich darunter verstand, in anderen Menschen spürte. Konstantins stilles Weinen, das ich mitunter in meinen Verstecken hörte, entfremdete mich ihm noch mehr. Alles schien sich so zu entwickeln, dass Mutter sehr unzufrieden mit mir wurde, und ich unglücklich, weil ich in mir nichts entdeckte - einem gehorsamen Mädchen gemäß - um dem abhelfen zu können. Mutter musste mich zur Aufsicht meiner Geschwister zwingen. Dabei war ihr neben meinem Unwillen auch meine Untauglichkeit dazu klargeworden. Ich begann zu glauben, dass ich an Tante Girots Todestag in Unkenntnis meiner Gefühle nur deswegen traurig geworden war, weil ich Mutter zu einer Nachbarin hatte sagen hören, dass sie mir die Jüngsten zum Hüten aufbürden müsste. Mein Schrecken darüber war zunächst mit dummem Stolz vermischt gewesen, weil von mir die Rede war.

    Nachdem ich einmal den Kinderwagen mit einem Bruder darin, der andere sich krampfhaft daran festhaltend, mitten auf der Straße stehen ließ, um das interessante Abladen einer Fuhre wunderbar gelben Sandes zu verfolgen, sah ich Mutter, deren Rufen ich nicht gefolgt war, einem Mädchen eine Münze geben und es bitten, meine beiden Brüder hin- und herzuschieben. Der Auftrag wurde zu meiner Verwunderung offenbar mit Freude und sorgsam ausgeführt. Das Verhalten des geschwisterlosen Mädchens schien mir auf willkommene Abwechslung in ihrem langweiligen Alltag hinzudeuten. Es wurde mir aber als leuchtendes Beispiel für Gehorsam und Wohlerzogenheit dargestellt. Dennoch, es fehlte mir die Fähigkeit zur Einsicht und zum Lenken meines Tuns. Mein Naturell blieb immer Sieger. Alle Erklärungen und Hinweise auf das Glück, Geschwister zu haben, bewirkten bei mir nicht die notwendige Erleuchtung. Auch verstand ich nie, dass fremde Kinder für Handreichungen Geld bekamen, für das man heiß begehrte Süßigkeiten kaufen konnte, ich aber nicht.

    Als ich einmal zu Mutter in den Stall stürmte, um mich über meine Geschwister zu beklagen, sah ich sie mit langsamer Bewegung die Mistforke heben, scheinbar am Ende ihrer Kraft. Beschämt schlich ich in eine Ecke, um ungestört ihren Anblick in mich aufnehmen zu können. Manchmal hielt sie inne und betrachtete Konstantin, der mit seinen Händen kaum den grob geschnitzten Stiel der Mistforke umfassen konnte und emsig schuftete. Während ich mich an Mutter sattsah, sprach ich, bevor ich zu meinen Geschwistern zurückschlich, innerlich mein Abendgebet. Darin flehte ich Jesus um die Gabe an, Mutter stets nur Freude zu sein, um auch einmal so wie Konstantin angesehen zu werden. Doch sie war mir noch gram und würde es wohl ewig sein, weil ich ihr einen Milchgeldgroschen gestohlen und Bonbons dafür gekauft hatte, die ich nicht einmal mochte. Sie mussten schnell gelutscht werden, damit der eklige Überzug aus Lakritze endlich den schönen Geschmack freigab. Das war mir zu umständlich, darum hatte ich Mutter großzügig davon angeboten und ihren Zorn nicht verstanden, der mir im Herzen wehtat und nicht zu vergessen war wie eine Backpfeife. Vor allem bat ich Jesus darum, Mutter nicht auch noch jeden Tag mit meinem Schimpfen auf die Schule belasten zu müssen.

    Seit dem Schreiben in ein Heft statt auf der Tafel machte mir der Unterricht überhaupt keinen Spaß mehr. Daran waren nicht nur die alten, Angst einflößenden Lehrer schuld. Wütendes Herausreißen von verschmierten Blättern malten in Mutters Züge Verzweiflung - was ich erst verstand, als Konstantin mir erklärte, dass kein Geld für ein neues Heft da sei. Mich nach diesem erschreckenden Hinweis zu bessern fiel mir dennoch sehr schwer. Als ich wieder einmal zerknirscht wegen einer verschmierten Seite mein neuestes Versteck aufgesucht hatte um mich auszumaulen, hörte ich sanft meinen Namen rufen. Es ließ nicht auf eine zornige Mutter schließen. Als ich hervorkroch, sah ich Tante Else, Vaters Schwester und ihren Mann, Onkel Paul, den ich nicht mochte, obwohl er zu mir sehr freundlich war, neben Mutter stehen. Sie waren wie jedes Jahr in der warmen Jahreszeit zu Großmutter Marie gekommen, um bei der Ernte zu helfen - und weil es für Tante Else keinen schöneren Platz auf der Welt gab als unser Dorf und darin ihr Elternhaus. Egal wer kam, auch wenn es nur Nachbarn waren, Besuch fand ich immer schön wegen der veränderten Stimmung im Haus, und darum begrüßte ich beide gehorsam mit einem Knicks. Bei Onkel Pauls freundlichem Anblick wurde ich sofort von unerklärlichem Unbehagen ergriffen, wollte mich aber dennoch auf keinen Fall wieder so verhalten wie im Jahr zuvor, um Mutter nicht zu ärgern.

    Damals war ich in knietiefem Matsch neben dem Fuhrwerk hergestapft, weil ich mich geweigert hatte, neben Onkel Paul auf dem Kutschbock Platz zu nehmen, als wir vom Knicken heimfuhren, bei dem er uns geholfen hatte. Auch neben meinem Vater wollte ich nicht gerne sitzen, der den Frieden bei der harten Arbeit mit seinen gereizten Befehlen, besonders an Konstantin gerichtet, wieder gestört hatte. Und so war ich neben unserem Pferd Molli hergestapft, nach meiner Mutter meinem liebsten Wesen im ganzen Haus. Onkel Paul hatte mit beleidigter Miene meiner Mutter von meinem Verhalten erzählt. Aber ihre Versuche, von mir eine Erklärung dafür zu bekommen, waren erfolglos geblieben. Die konnte ich ihr beim besten Willen nicht geben, weil mir die unerklärliche Abneigung gegen meinen Onkel, der immer freundlich und zurückhaltend blieb, selbst ein Rätsel war. Dass vielleicht die Ähnlichkeit mit Papa der Grund meines Verhaltens war, mochte ich nicht sagen. Schelte wegen meiner Ungezogenheit hatte es nach sich gezogen und den Hinweis, dass ich lernen müsse, jedermann freundlich zu begegnen und den Anweisungen der Erwachsenen unbedingt zu folgen, da es immer zum eigenen Besten sei. Zum ersten Mal hatte Mutter mit mir wie mit einer Erwachsenen geredet. Dabei war in mir zu dem Kummer, den ihre Maßregelungen stets in mir verursachten, Scham über mich selbst aufgewallt. Eigentlich hatte ich dauernd Grund mich zu schämen, vergaß es aber so schnell wie meine Versprechen mich zu bessern.

    Diesmal nun, nachdem Tante Else und Onkel Paul ihren Besuch beendet hatten, wollte ich Mutter unbedingt folgen, weil ich glaubte, der Grund für ihre Müdigkeit und Erschöpfung zu sein, die ich seit Langem aus all ihrem Tun erkennen konnte. Gegenüber Onkel Paul war mein guter Vorsatz nicht schwer einzuhalten, denn ich sah ihn kaum. Er arbeitete ununterbrochen bei Großmutter Marie auf dem Hof. Während seiner Anwesenheit dort schrumpfte nicht nur der riesige Misthaufen, auch alles andere machte einen selten reinlichen Eindruck. Vor Tante Else, die ich eigentlich mochte - schon wegen ihrer kunterbunten, ungewohnten Stadtkleider - verdrückte ich mich, weil sie mich immer so musterte, dass mir unbehaglich zumute wurde. Aber die Anwesenheit Tante Elses und Onkel Pauls im Dorf bewirkte doch, dass ich mich ordentlicher benahm. Ihretwegen sollte sich Mutter nicht über mich beklagen müssen. Wer mich sonst so kannte, würde leider erfahrungsgemäß eine unveränderbare Meinung von mir haben.

    Es gelang mir tatsächlich, ein bisschen Zufriedenheit in Mutters Miene zu zaubern, die auf Belohnung hoffen ließ. Hatte ich ohne Gezeter meine Geschwister gehütet und kleine mir aufgetragene Aufgaben ordentlich und ohne zu maulen erledigt, ermunterte sie mich manchmal Spielen zu gehen. Das waren glückliche Stunden. Meistens lief ich zum Dorf hinaus und zur Fähre hinunter, die nach der Zerstörung der Brücke seit dem Krieg eingesetzt wurde und bald ausgedient haben würde. Der Vater einer Schulkameradin war Fährmann, und an heißen Sommertagen fuhren wir mit im Wasser baumelnden Beinen von Ufer zu Ufer, atmeten den starken Duft aus fließendem Wasser, Heu, reifem Getreide und erschöpften Pferden und beobachteten, wie die Bauern sie vor den Erntewagen mühsam ruhig hielten.

    Mir gefiel das Stampfen der Hufe, das kraftvolle Anziehen der Tiere, wenn es die Böschung hinaufging, und ihr williges Befolgen von Befehlen. Bilder und Eindrücke, die ich wohl nur noch in diesem Sommer in mir aufnehmen konnte, denn der Kraftwerks- und Brückenbau hatte längst begonnen. Der Kanal war lange fertig, auf dem jetzt weit von unserem Dorf entfernt die Schiffe fuhren. Mutter hatte uns an dem Tag zu sich gerufen, als sie zum letzten Mal an unserem Dorf vorbeifuhren, damit wir noch einmal das vertraute Tuten des Dampfers hören konnten, mit dem er sein Einbiegen in die Flussschleife ankündigte.

    Die Wehmut in ihrem ganzen Wesen war mir aufgefallen, als sie still dagestanden hatte, um einmal, ohne ihre Hände zu rühren und ohne ein Kind auf dem Arm, den Schiffen nachzusehen. Fünf hinter dem Dampfer, insgesamt sechs. So viele wie wir Kinder waren. Johanna zählte ich noch immer mit. Manchmal waren Flöße vorübergezogen. Dieses immer ungewöhnlicher werdende Ereignis war von Mund zu Mund weitergegeben worden, damit man rechtzeitig Ausschau halten konnte. Von der mitunter mit einem Hund geteilten Einsamkeit der Flößer, die mit einem Staken am Bug standen, die weder zornige Blicke noch laute Befehle tauschten, und die niemand aufstöberte, wenn sie sich in der Dämmerung in ihrem Zelt verkrochen, war ich seltsam berührt worden. Auf unser Winken wurde verhalten reagiert, nicht so fröhlich und laut wie von den Schiffsjungen auf den Kähnen.

    Bald darauf machte sich früher als geplant bei uns im Dorf noch hektischere Betriebsamkeit breit als zu Beginn des Kraftwerksbaues. Es hieß, dass noch viel mehr Arbeitskräfte gebraucht würden als in der Umgebung der Baustelle verfügbar waren. Deswegen müssten für die auswärtigen Arbeiter Quartiere beschafft werden. In Anbetracht des Geldregens, den das Bauprojekt mit sich bringen würde, setzte eine Bauwut ein, der viele schöne alte Hausfassaden zum Opfer fielen, so auch bei uns. Von lautem Getöse wurde ich eines Morgens geweckt. Das große Dielentor wurde aus der Fassade geschlagen, und als ich von der Schule nach Hause kam, erkannte ich unser Haus nicht wieder. Ein riesiges Loch klaffte in der Vorderfront, das bald bis auf eine Größe zugemauert wurde, die Platz ließ für eine Haustür mit Scheiben wie überfrorenes Glas. Die kleinen Fenster der Speisekammer und der gegenüberliegenden Futterküche wurden für Schaufenster vergrößert. Es sollten wegen des gestiegenen Bedarfs Fahrräder und Ersatzteile ausgestellt und verkauft werden, weil unser Vater einen Beruf hatte, der ihn zum Herstellen von Maschinen, Geräten und Ähnlichem befähigte. Auf dem Dachboden darüber würden aus einem Teil des Heubodens Fremdenzimmer entstehen. Für zwei Arbeiter ein Zimmer, ausgestattet mit modernen Metallbetten, die bereits geliefert waren. Mit all den Veränderungen ließ sich vor den Nachbarskindern vortrefflich angeben.

    In diese Geschäftigkeit erreichte uns die Nachricht von Tante Annis Tod. Mutter fuhr mit Großmutter zum Begräbnis. Die Nachbarstochter sah nach uns. Als Mutter zur Schlafenszeit nicht zurück war, geriet ich außer mir vor Sehnsucht. Ich fing an, sie laut weinend zu rufen. Fast sieben Jahre alt, hatte ich noch nie bewusst erlebt, von ihr nicht ins Bett gebracht zu werden oder wenn ich sie suchte, sie nicht in Haus oder Stall zu finden. Nur Feldarbeit hielt sie von zu Hause fern, und meistens war ich draußen bei ihr. Durfte ich in ihrem Bett schlafen, war ich sofort wach, wenn sie morgens um vier zum Melken aufstand, wohin ich ihr im Winter in den Stall folgte - auch noch, seit ich zur Schule ging. Sie im Sommer zum Melken zu begleiten wurde mir nicht erlaubt.

    Das Radfahren auf unbefestigten Wegen, zwischen den hohen Hecken nach Regengüssen mit knietiefen Schlammlöchern, war mit den beiden großen Milchkannen am Fahrrad beschwerlich genug. Jedoch im Winter war ich zur Melkzeit immer mit ihr im Stall, hüpfte und sang, striegelte die Kühe, legte ihnen kleine Hände voll Heu vor oder strich mit einem Reisigbesen den Schweinen im gegenüberliegenden Stall über den Rücken. Das gefiel ihnen so gut, das sich alle zu mir an die Tür drängten, an der ich auf einer Verstrebung stehend lehnte. Aber nun war die Zeit des Schlafengehens längst überschritten und Mutter noch immer nicht zurück. Mein Weinen wurde hemmungslos. Wegen der Anstellerei knuffte mich Konstantin, der gesagt hatte, dass sie wegen des langen Fußweges vom Bahnhof noch gar nicht zurück sein konnte.

    Dabei wirkte er selbst sehr unruhig und hatte, wenn auch kaum vernehmbar, Mutter geflüstert. Wie Muhta hörte es sich an, wenn wir sie riefen, nach ihr verlangten, es klang sehr warm und weich. Unser Nachbarsjunge rief seine Mutter Mutti, das klang wie Murri und hätte nicht zu unserer Mutter gepasst. Endlich, endlich öffnete sich die Tür und Mutter kam herein. Mutter, meine Mutter. Nie hatte ich sie anders gesehen als in ihren leinenen Kleidern, mit gestreiften, blauen, an Feiertagen bestickten Schürzen, meistens von einer groben Futterschürze aus Sackleinen bedeckt. Augenblicklich hörte ich auf zu brüllen und starrte auf die Erscheinung in dunkler Kleidung, mit einem schwarzen Halbschleierhut auf dem Kopf, der ihre Augen fast verbarg. Auf einer Reklametafel aus emailliertem Blech vor dem Krämerladen war eine ähnliche Dame zu sehen. Sprachlos vor Überraschung und stolz auf meine schöne Mutter, ließ ich mich ins Bett bringen.

    Das Bild verblasste nicht. Mit der Zeit wurde es farbiger und leuchtender. Die Ehrfurcht davor zwang mich zu mehr Gehorsam, aber nicht alles ließ sich unterdrücken. Während der ganzen spannenden Zeit des Umbaus an unserem Haus ging ich den Arbeitern gehörig auf die Nerven. Sie warfen mir bald Ungezogenheit vor und ungenügendes Achtgeben auf meine Geschwister. Als sie wie viele andere begannen, mit den eigenen wohlgeratenen Töchtern zu prahlen, hielt mich die Furcht, dass sie das auch Mutter sagen könnten, endlich von ihnen fern.

    An einem kalten, frostigen Herbsttag mussten wir größeren Kinder wieder beim Knicken helfen und das abgeholzte Gestrüpp zusammentragen. Während Konstantin fleißig arbeitete, fing ich in meiner Trödelei bald an zu frieren. Ich greinte herum, überließ ihm die ganze Arbeit und machte mich schon auf eine Ohrfeige von ihm gefasst, als er seine dicke pelzgefütterte, amerikanische Jacke auszog, sie mir anlegte und meine Hände fürsorglich in die warmen Taschen stopfte. Mich überflutete ein ungekanntes Wohlbehagen, das mir das Herz für Konstantin öffnete. Auf einem Baumstumpf hockend sah ich ihm zu, betrachtete sein auffallend dichtes, lockiges blondes Haar, in das Mutter einmal gegriffen hatte, als er vom keuchenden Husten schon blau im Gesicht gewesen war. Sie hatte ihn an den Spülstein gezerrt und seinen Kopf hineingebogen, mit tief in seinen Locken verborgenen Händen. In eisiger Beklemmung hatte ich nur auf ihre wie beim angestrengt arbeitenden Hufschmied stark blau geäderten Unterarme gestarrt, sie den Anfang eines Gebetes stammeln hören, und immer wieder das flüsternd geschluchzte Wort: Bitte.

    Nach Konstantins erlösendem Erbrechen waren ihm die Beine weggerutscht. Mutter hatte ihn aufgefangen. Großmutter war lautlos hinter sie getreten, hatte ihn meiner wie gebrochen wirkenden Mutter abgenommen und ihn in ihre Stube getragen. Als mir danach schien, als sei ich eben erst von ihr wahrgenommen worden, war sie mit veränderter Mine hinausgegangen, die wohl Gleichgültigkeit ausdrücken sollte, um meine lästige Fragerei abzuwehren. Mit meinem Entsetzen blieb ich allein. Jetzt fasste Konstantin neben Mutter beherzt in das dornige Gestrüpp, zupackend wie sie. Mehr noch, er mühte sich, ihr die schweren Äste wegzuschnappen. Vater hieb mit der Axt in die Hecken. Sein Tun bereitete mir Unbehagen, obwohl er nicht schrie und auch nicht wütend schien wie meistens.

    Später, schon im neuen Jahr, half ich Mutter, das klein gehäckselte Knickholz in Körbe zu packen, die sie in die Holzkammer der Scheune trug, als Geschrei und Geräusche von Rauferei zu uns drangen. Eine Horde Gleichaltriger war wieder einmal auf dem Nachhauseweg von der Schule über Konstantin hergefallen. Der als Raufbold geltende Anführer schlug gerade auf ihn ein. Es hieß, dass er der Sohn einer Cousine meines Vaters sei. Es sagte mir überhaupt nichts. Die anderen feuerten ihn an; sie belegten meinen blutenden Bruder mit Schimpfwörtern. Konstantin musste den alten, müden Molli schon alleine lenken, und oft johlten die Kinder bis zum Dorf hinaus hinter dem Fuhrwerk her. Entsetzt blickte ich auf meine fahl gewordene Mutter, aus der sekundenlang alles Leben zu weichen schien. Plötzlich durchzuckte es sie, sie bückte sich, nahm einen Reisigzweig aus dem Holzhaufen und lief auf die Kinder zu. Die stoben bei ihrem Anblick davon, und sie schlug wie von Sinnen auf meinen Bruder ein.

    Wir wurden wie die meisten Kinder in unserem Dorf mit Schlägen bestraft. Obwohl uns oft nicht bewusst war, etwas Strafbares angerichtet zu haben, nahmen wir diese Schläge doch meistens mit Gleichmut hin. Schwerer zu ertragen war für mich, wenn Mutter nicht mit mir sprach, weil alles Reden mit mir zu nichts geführt hatte, oder sie meinen guten Willen, etwas gehorsam auszuführen, nicht erkannt hatte. Nun aber zerriss mich ihre Tat. Ich fing an zu schreien. Wimmerte noch verzweifelt in meinem Versteck, in das ich geflüchtet war, als sie meinen Bruder ins Haus gezerrt hatte. Nach einer Ewigkeit vernahm ich ihre Schritte wieder im Stall und das Beladen der Körbe, als sei nichts geschehen.

    Als ich wieder zu ihr schlich, folgten keine Erklärungen auf meine Fragen, die in mir schrien, ich aber nicht hinauslassen mochte. Kein Strahlen ihrer Wärme umfing mich, keine tröstende Geste, kein Wort -

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